Viele von uns tragen Narben an ihrem Körper…Narben sind sichtbare Zeichen von einer Wunde, meist von einem schmerzhaften Ereignis im Leben; sie erzählen von einem Sturz, einem Unfall, einer Operation oder einer Kriegsverletzung… Narben erinnern uns an etwas in der Vergangenheit Geschehenes, und erzählen uns meist eine Geschichte, wenn wir ihnen Beachtung schenken. Die Narben haben die einstmals offene Wunde verschlossen, ein schützendes Gewebe gebildet, den Riss auf der Haut, in den Muskeln… verschlossen, so dass die offene Wunde nicht mehr blutet.
Aber es gibt auch die unsichtbaren Wunden der Seele, – Enttäuschungen, Untreue, Verrat, entbehrte Liebe, Nicht-Beachtung, Schuldgefühle, Ablehnung Scheitern im Beruf, Verlassenheitsgefühle, missbrauchtes Vertrauen, Scham, zu existieren, Verluste von Beziehungspersonen, …-, die manchmal unerkannt, und vom Bewusstsein verdrängt in uns schlummern und gerade dadurch unser Leben und Lebensgefühl tiefgreifend beeinflussen und steuern.
Nicht bearbeitete oder allzu leicht vergebene Kränkungen in Beziehungen zum Beispiel können eitern und unser Inneres vergiften, womit verhindert wird, dass die Wunden wirklich zuheilen und vernarben können. Dann ist es wichtig, die Wunde noch einmal anzuschauen, so als ob man einen schlechten Verband öffnet, um Luft ranzulassen, damit die mit einer Kränkung verbundenen Gefühle wahrgenommen werden können, und Vergebung möglich wird, damit der erlebte Riss vernarben kann.
Unter unseren Narben, liegt manchmal noch Unbewältigtes und noch nicht wirklich Verarbeitetes, was ans Licht drängt. In unserer Zeit aber, in der wir viel Wert auf Schein und auf eine makellose Fassade legen, verbergen wir unsere Wunden lieber und setzen auf vorweisbare Stärken. Der Künstler Joseph Beuys hat einmal in seiner Kunstinstallation „Zeige deine Wunde“ mitten in München, unseren Blick dahingelenkt, wo es wehtut, kränkend oder beschämend ist, sicher auch um auf die Zerbrechlichkeit und Endlichkeit der menschlichen Existenz hinzuweisen.
„Es ist ein Riss in allen Dingen, aber genauso kommt das Licht hinein… “ (There is a crack in everywhere, that`s how the light gets in), singt der Rockpoet Leonhard Cohen in seinem Lied Anthem. Soll aber angesichts des „Risses“ Licht einfallen und wirkliche Heilung geschehen, muss die Wunde wahrgenommen und die damit verbundene Situation der Kränkung oder des Mangels an erfahrener Liebe und Zuwendung betrauert werden. Dann kann die Bruchstelle zum Einfallstor für neues Leben werden und einen heilenden Neuanfang ermöglichen.
Ein Kollege erzählte mir von seinem Vater, der ihn als jungen Mann nie wirklich anerkannt und wertgeschätzt hatte. Immer wenn er ähnliche Demütigungen und Kränkungen später erlebte, fühlte es sich für ihn so an, als ob sein Herz blutet. Erst als er aufhörte, seinem Vater Vorwürfe zu machen, er dessen Lebensschicksal besser verstand, und ihm für den Mangel an geschenkter Liebe mit viel Tränen vergeben konnte, heilte seine Herzwunde; die Narbe, die zurückblieb, war für ihn Erinnerung, in seinem Leben und seiner Arbeit, besonders jungen Menschen Wertschätzung und Anerkennung zu schenken. Auf diese Weise vernarben Wunden nicht nur, sondern verwandeln sich in Perlen, die anderen Leben schenken.
Er ist zum „Verwundete Heiler“ geworden, die ihre Lebenswunde transformiert haben und dadurch zum Segen für andere geworden sind. Nelson Mandela, um noch ein Beispiel zu nennen, hat nach fast drei Jahrzehnten demütigender Haft aufgrund seines Widerstandes gegen die Apartheit in seiner Heimat, vergeben können und wesentlich zur Versöhnung zwischen Schwarzen und Weißen und zu einem gleichheitsorientierten demokratischen Staatswesen in Südafrika beigetragen.
Die Narben an unserem Körper, aber auch in unserer Seele gehören zu unserer Lebensgeschichte, zu unserem Schicksal, und brauchen manchmal neu unsere Aufmerksamkeit, machen uns fähig zur Empathie für Andere, die ähnliche Wunden an Leib und Seele tragen.
Impuls zum Nachdenken:
Welche Narben gehören zu mir und welche Geschichte erzählen sie?
Der Liedtext spricht Wahres: sowohl eigenes Versagen und Schuld einzugestehen und um Verzeihung zu bitten als auch jemanden, der einen verletzt hat, Verzeihung zu schenken und Vergebung zu gewähren, kann schwer sein. Von Herzen zu verzeihen, kann uns ungeheuer viel kosten.
Wir kommen wohl nicht durchs Leben ohne Kränkungen zu erleiden oder andere zu verletzen. Es scheint nahezu keinen Lebensbereich zu geben, in dem wir nicht durch andere verletzt werden oder andere verletzen: zum Beispiel in Freundschafts- und Liebesbeziehungen, wenn mein Partner oder meine Partnerin mein Vertrauen missbraucht, mich hintergeht, fremdgeht oder Anvertrautes weitergibt. Gerade in engen Beziehungen trifft der Missbrauch von Vertrauen besonders schmerzlich. Aber auch im beruflichen Kontext können wir verletzt und gekränkt werden, durch Mobbing, unfaire Kritik, Sexismus…oder durch ungerechte Strukturen wie zum Beispiel bei Entscheidungsprozesse in einer Firma, die eine Beteiligung und Mitsprache ausschließen. Die tiefsten und dem Bewusstsein oft am wenigsten zugänglichen Verletzungen und Kränkungen stammen meist aus der Kindheit, wenn ich in meiner Einmaligkeit und Besonderheit- manche sprechen auch vom „spirituellen Selbst“- nicht anerkannt und gesehen worden bin. Solche Wunden durch abwesende, desinteressierte oder kaltherzige Eltern reichen oft sehr tief und werden nicht selten, weil besonders schmerzhaft, wie unter einer Betonschicht verborgen gehalten. Schwerwiegende Verletzungen, die nicht angeschaut werden, führen oft zu einem Schattenregiment, das sich in Depressionen, Müdigkeit oder psychosomatischen Beschwerden bemerkbar macht.
Kränkung kommt vom Wort „krenken“, was soviel wie „schwächen, erniedrigen, mindern, zunichtemachen“ bedeutet. Durch erlittene Kränkungen schwächt oder verliert der Mensch seinen Selbstwert, wird unsicher und zweifelt an sich selbst. Unser seelischer Innenraum wird durch Kränkungen verletzt, wobei die Anfälligkeit für solche Kränkungen individuell sehr verschieden sein kann, und mit dem Selbstbild sowie der eigenen Biografie zusammenhängen. Durch Verletzungen und Kränkungen, die nicht vergeben worden sind, entstehen Verbitterung, Scham, Hass und Rachegefühle, die uns oft im Griff haben und uns unversöhnlich machen. Zudem wird die eigene Vergebensbereitschaft oft dadurch behindert, dass Vergebung als Schwäche interpretiert werden kann, während rächende Vergeltung mit Stärke identifiziert wird. Doch durch Unversöhnlichkeit werde ich an den Täter gefesselt, werde dadurch unfrei und bin Gefühlen wie Hass und Bitterkeit ausgeliefert. Wer seine Wunden nicht anschaut und zur Vergebung bereit ist, baut einen Staudamm gegenüber dem Fluss des Lebens und der Lebendigkeit.
Ein Kämpfer gegen die Apartheid in Südafrika, Bischof Desmond Tutu, der viele Jahre zu Unrecht inhaftiert war, sagte einmal: „Wenn ich von Vergebung spreche, dann meine ich den Glauben, dass man auf der anderen Seite als besserer Mensch herauskommt, ein besserer als der, der von Hass und Groll verzehrt wurde…Wenn man in seinem Inneren Vergebung findet, dann ist man nicht mehr an den Täter gefesselt. Man kann sich weiterentwickeln- und man kann dazu beiztragen, dass auch der Täter ein besserer Mensch wird.“
Vergebung zwischen Völkern nach kriegerischen Auseinandersetzungen sind besonders schmerzhaft und dauern lange, falls sie überhaupt gelingen.
Durch Vergebung kann Heilung der erlittenen Wunde entstehen, auch wenn sie nicht in allen Situationen angezeigt ist wie z.B. bei Trauma, Gewalterfahrungen oder Mißbrauch.
Echte Vergebung geht immer mit einem längeren Prozess einher. Verschiedene spirituell geprägte Autoren wie Melanie Wolfers oder Anselm Grün beschreiben den Verlauf solcher Prozesse, wobei sich alle einig sind, dass auftauchende Gefühle nicht übersprungen oder kleingeredet werden dürfen. (vergleiche dazu ausführlicher: im Laufwerk: L/ Übergreifend /Seelsorge/ Vergebung). Schnell zugepflasterte Kränkungen können eitern und zu Vergiftungen führen. Oberflächliche Vergebung heilt keine Wunden.
Durchgearbeitete Verletzungen und Kränkungen, die nicht selten mit Wut und Trauer verbunden sind, können zu einer Vergebung führen, die verletzte Gemeinschaft wieder heilt und einen Neuanfang ermöglicht. Vergebung setzt jedoch voraus, das begangene Schuld und das entstandene Unrecht auch benannt wird. Wir können uns um Vergebung bemühen, doch dass sie von Herzen geschieht, ist immer auch Geschenk und Gnade.
Auch der christliche Glaube weiß um die therapeutische Wirkung der Vergebung und um die Wichtigkeit des Aussprechens begangener Schuld. Viele Gleichnisse Jesu drehen sich direkt oder indirekt um das Thema Vergebung (vgl Lk 15, 11-32, Mt 18, 23-35 …) und Jesus selbst bittet am Kreuz für seine Folterknechte: „Vater, vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun“ (Lk 23,34), womit er den Kreislauf von Hass und Gegengewalt durchbricht. In der christlichen Liturgie kommt die Bitte um Vergebung vielfach vor wie im Vaterunser Gebet oder beim Friedensgruß, und erinnert daran, dass wir Menschen immer auf Vergebung angewiesen sind und vor der Herausforderung stehen, sich selbst und anderen, zu vergeben (Vgl. auch Mt 18,21-22, Mt 6, 14-15) auch angesichts der gegenwärtigen gesellschaftlichen Spaltungen und Feindseligkeiten.
Literatur zum Nachlesen:
Melanie Wolfers, Die Kraft des Vergebens, Wie wir Kränkungen überwinden und neu lebendig werden, Herder Verlag, Freiburg im Breisgau
Anselm Grün, Vergib dir selbst, Münsterschwarzach 2010
Anselm Grün, Zeit für Versöhnung, Spaltung überwinden, Begegnung wagen, erschienen im Herder Verlag, Freiburg im Breisgau 2023
„…Wer könnte atmen/ ohne Hoffnung/dass auch in Zukunft/Rosen sich öffnen…//heißt es in einem Gedicht von jüdischen Lyrikerin Rose Ausländer (1901-1988), welche den Todestransporte der deutschen Wehrmacht nur knapp entkam. Nur die Hoffnung lässt Rose Ausländer leben und überleben, gibt ihr die Kraft am Leben nicht zu verzweifeln. Hoffnung gehört zu den Lebensgrundlagen des Menschseins wie die Atemluft. „Wer könnte atmen/ohne Hoffnung“, sagt die Dichterin auch. Schon ein lateinisches Sprichwort sagt: „Dum spiro, spero“- solange ich lebe, hoffe ich. Hoffnung ist eine Kraft in uns, die sich stärker erweisen kann als Angst, Verzweiflung, Trauer, Müdigkeit und Resignation.
„Wer hofft, ist jung.“, heißt es in dem Gedicht auch. Wer hofft, ist auf eine Zukunft ausgerichtet. Hoffnung ist eine gespannte Erwartung auf die Zukunft. Kinder und junge Menschen stecken noch voller Hoffnungen und Erwartungen ans Leben; sie erwarten gespannt auf das, was kommt.
Die Kraft der Hoffnung und damit die Lust am Leben wächst, wenn wir mit offenen Augen durch die Welt gehen: die Rosen im Garten, die sich öffnen, die zwitschernden Amseln am frühen Morgen, der freundlicher Gruß der Kollegin und vieles andere, was das Herz weckt die Hoffnung, dass das Leben doch gut ist. So können alle durch unser Verhalten, durch unsere Freundlichkeit an der Hoffnung dieser Welt mitwirken.
Wer keine Hoffnung mehr hat, der ist am Ende, der fühlt sich alt, verbraucht und leer. Hoffende Menschen dagegen bleiben, auch wenn sie alt werden, jung, weil sie das Lebenselexier Hoffnung in sich tragen. Die Kraft zu hoffen, muss aber geübt werden, so der Philosoph Ernst Bloch; sie verlangt Disziplin, auf eine Zukunft zu setzen, auch wenn vieles dagegenspricht und arbeitet. Wer sich für eine gerechtere und friedlichere Welt einsetzen will, braucht einen langen Atem der Hoffnung. Wer Kinder großziehen will, braucht die Kraft der Hoffnung, dass deren Leben gelingt, auch wenn sie ganz andere Wege gehen. Wer sich für mehr Rechte für behinderte Menschen einsetzt, braucht ebenfalls die Kraft der Hoffnung, dass sich in unserer Gesellschaft trotz aller Widerstände etwas zum Besseren verwandeln lässt.
Nicht selten deckt aber eine negative Einstellung zum Leben, und die Sucht, alles pessimistisch zu sehen, die Kraft der Hoffnung zu, die gerade dann auftaucht, wenn wir handeln und anpacken, um eine missliche und ungute Situation, zu verändern. „Hoffen lernt man dadurch, dass man handelt, als sei Rettung möglich“, sagt Fulbert Steffensky, und dieses Handeln hängt nicht vom Erfolg der Handlung ab, sondern kann in sich gerechtfertigt sein.
Fast jede und jeder von uns kommt im Laufe eines langen Lebens in Situationen, in denen er müde und resigniert ist von den Lebenskämpfen, und die Erfahrung macht, mit Willenskraft nicht mehr weiterzukommen. Doch wenn wir uns am Ende der eigenen Kräfte einer tieferen Macht anvertrauen lernen, dann kann genau am Tiefpunkt der Krise ein wundersamer Umschlag passieren: eine Kraft taucht auf, die den Mut zum Weitergehen schenkt, die mit neuer Gewissheit und Zuversicht anfüllt. Das ist die Kraft der Hoffnung, die wie ein Stern am bewölkten Himmel plötzlich auftaucht oder wie ein Sonnenstrahl, der sich durch die dunklen Wolken gekämpft hat. Wir brauchen einander im Hoffen, denn die Erfahrung zeigt, dass die eigene Hoffnung allein nicht ausreicht, das Leben zu bestehen, um über die Abgründe zu gelangen oder einen Traum zu realisieren. „Ich habe einen Traum“, sagte Martin Luther King stellvertretend für viele Hoffende, ein Traum, in dem es um die Überwindung von Vorurteilen ging, ein Traum, der durch sein von der Hoffnung getragenes Handeln, weitgehend realisiert wurde.
Allein im Licht der Hoffnung, die immer auch ein Geschenk ist, können wir in dieser Welt, im Leiden und Scheitern, im allzu Zerbrechlichen, im trübseligen Strom menschlicher Schwächen und Bosheiten, immer noch an Zukunft und Erneuerung glauben. Doch stehen wir immer wieder vor der Wahl, ob wir die Welt aus rein weltlicher Sicht betrachten und bewerten wollen oder eben im Licht der Hoffnung, um auch noch im Unscheinbaren und „trotz alledem“ Gottes Gegenwart zu erkennen, der für Christen der Grund ihrer Hoffnung ist. Die christliche Hoffnung ist eine maßlose Hoffnung, auf eine neue Erde, auf der Gerechtigkeit wohnt, auf ein ewiges Leben, das dem Tod nicht das letzte Wort geben will, und auf eine Auferstehung schon in diesem Leben, die sich der Mutlosigkeit, dem jammernden Selbstmitleid und der Verzweiflung tapfer entgegenstellt.
Zum Nachdenken:
Worauf hoffe ich und was tue ich dafür?
Wer oder was gibt mir Hoffnung?
Mit wem teile ich meine Hoffnung?
Literatur zu Vertiefung:
Melanie Wolfers, Zuversicht, die Kraft, die an das Morgen glaubt.
Was ist Weihnachten? Was bedeutet Weihnachten? Warum feiern wir es seit Jahrhunderten so hartnäckig? Was ist das Wichtigste an Weihnachten und der Weihnachtszeit?
Für die einen ist es heute verbunden mit einem Schlendern über idyllische Weihnachtsmärkte mit Glühwein, Lebkuchen oder Bratwurst, andere sehen darin vorallem den Stress, die entsprechenden und womöglich erwarteten Weihnachtsgeschenke zu besorgen; manche, denen das entsprechende Kleingeld zur Verfügung steht, flüchten daher vor der Stressüberflutung an Weihnachten in die Karibik oder die Malediven. Für die meisten ist es wohl ein schönes Familienfest, bei dem alle zusammenkommen, und in gemütlicher Runde gegessen, getrunken, gesungen und geredet wird. Für wieder andere ist Weihnachten unbedingt mit einem Kirchgang verbunden, und ohne Krippe und „Stille Nacht, heilige Nacht“ ist es kein richtiges Weihnachten.
Womöglich würden bei all den unterschiedlichen Auffassungen über Weihnachten die meisten darin übereinstimmen, dass das Weihnachtsfest vorallem das „Fest der Liebe“ ist, auch wenn es oft genug gerade an Weihnachten zu Streit angesichts der Übererwartungen kommt.
Ein Fest der Liebe, aber was ist damit eigentlich gemeint? Was ist Liebe?
Ist Liebe nicht ein abgegriffenes, missbrauchtes, allzu sentimentales Wort, das in gefühlsduseligen Filmen oder schmalzigen Schlagern vorkommt? Mag sein. Doch ohne Liebe könnte kein Mensch auf Dauer leben, weil Liebe das Grundelexier des Lebens ist. Wer sich geliebt weiß, und wer das Glück hatte, in einem Nest von Liebe und Sicherheit aufzuwachsen, der kann sich in diesem Leben verwurzeln, in seinem Leib ein Zuhause finden und sich mit anderen verbunden fühlen. Der Benediktiner David Steindl-Rast sieht das Verbindende aller Formen der Liebe, – wie die leidenschaftliche Anziehung zwischen Menschen, die Liebe unter Geschwistern ebenso wie die Liebe im Engagement für Andere-, in einem Bewusstsein des Zusammengehörens und der Verbundenheit mit allen und allem. Liebe ist für Steindl-Rast dieses Ja zum Zusammengehören, ein Ja, das sogar unsere Feinde einschließt. (vgl. Fülle und Nichts, Von innen her zum Leben erwachen, Freiburg im Breisgau 2005)
Die Tragödie besteht nur darin, dass sich die meisten Menschen nicht ausreichend geliebt fühlen und daher auch nicht so richtig lieben können und daher auch nicht so liebenswert sind. Zu viele Menschen fühlen sich nicht geliebt, einsam, unansehnlich und nicht gebraucht; zu viele Menschen fühlen sich nur unter Bedingungen geliebt; geliebt, solange ich funktioniere, meine Leistung bringe, den Erwartungen entspreche…
Vielleicht ist Weihnachten und die Weihnachtsgeschichte mit dem Jesuskind in der Krippe, zunächst einmal die Erinnerung an ein ursprüngliches und bedingungsloses Geliebtsein. Oder so etwas wie es die Schriftstellerin Angelika Krauß in Ihrem Band „Eine Wiege“ (Berlin 2015) ausdrückt: „Es ist wie die Rückkehr zum Glanz der ersten Blicke, zur Freude der Erstbegegnung, eine Art wiedergeschenkte Schönheit des Anfänglichen.“ (13)
Die Philosphin Hannah Arendt spricht von der Natalität oder „Gebürtlichkeit“ (als Gegenbegriff zur Sterblichkeit und dem „Sein zum Tode von Heidegger) und sie meint, dass mit jedem Menschen etwas Neues anfängt und etwas Neues in Bewegung gesetzt werden kann.
Oder christlich ausgedrückt: Gott offenbart und enthüllt seine bedingungslose und überströmende Liebe in diese unsere Welt und Geschichte hinein mit der Geburt von Jesus Christus und setzt damit einen Neuanfang, auch angesichts der ganzen Kakophonie menschlicher Bosheiten und dem Zwang immer wieder einander zu verlezten.
Es ist das göttliche Kind, das unser verletztes, verwundetes und entfremdetes inneres Kind berühren und heilen will, indem es uns ein fragloses Angenommensein ins Ganze der Wirklichkeit hineinnimmt. Und in dieser Begegnung geschieht ein Neuanfang, ein Aufbruch, der sagt, dass wir nicht auf das Vergangene festgelegt sind, dass wir zutiefst geliebt und erkannt sind, dass wir mehr sind als eine Laune der Natur.
Es ist das göttliche Kind, das wir in der Krippe betrachten können, uns dass uns mit offenen Armen in Empfang nehmen will und sagt, dass wir ohne Wenn und aber von Gottes Liebe umfangen sind.
Nicht umsonst sagt der Mystiker Angelus Silesius:
„Wird Christus tausendmal zu Bethlehem geboren und nicht in dir, du bleibst noch ewiglich verloren.“
(vgl. der Cherubinische Wandersmann)
Für den Mystiker ist das Weihnachtsgeschehen daher weit mehr als eine beschauliche Geschichte, sondern er sieht, nach weihnachtlichen Vorbild, eine innere Verbindung zwischen der Menschwerdung Jesu und der inneren Geburt Gottes in der menschlichen Seele. Dadurch wird der Mensch aus seiner Verlorenheit, aus seinen Verstrickungen herausgeführt und letztlich von seinem Gefühl des Ungeliebtseins erlöst.
Wir müssen zudem über ein rein sentimentales Verständnis von Weihnachten als „Warten auf das Jesuskind“ hinausgehen. Es geht um eine sich entäußernde Liebe, die nicht erst mit der Geburt Jesu (dort in verdichteter Form), und seiner Inkarnation, sondern schon am Anfang und als Urgrund der Schöpfung wirkte und weiterwirkt.
Für den Jesuiten und Naturforscher Teilhard de Chardin, ist die Liebe als Energieform die zentrale Kraft schlechthin, für das Fortschreiten der Evolution und das Weiterentwickeln der Schöpfung. (vgl. dazu ausführlicher, Raimund Badelt, Energie Liebe Teilhard de Chardin- ein Mystiker der Evolution, Würzburg 2017)
Und um es noch etwas anders mit den Worten der Dichterin Angelika Krauß zu sagen: „In unserem schnellen Leben, das sich in immer neue, erregende Simulationen zu verlieren droht, erscheint sie (die Liebe, d.V.) wie das letzte eherne Maß. Es muss auch von dort stammen, von wo wir unserer molekularen Zusammensetzung nach herkommen: von weit her in Zeit und Raum, von dort oben. Das hieße, der gleichgültige Kosmos impliziert die Liebeskraft vielleicht ebenso wie die Gravitation.“ (Marion Gees: Die Kindheit, die Liebe und die Form. In : Angela Krauß. Text+ Kritik 208. München 2015)
Schon am Anfang als Gott beschloss, sich in der Schöpfung vor 13,7 Milliarden Jahren beim Urknall zu manifestieren, quasi als erste Inkarnation- man spricht auch vom universalen Christus (vgl. Richard Rohr, Alles trägt den einen Namen – Die Wiederentdeckung des universalen Christus“), waren Materie und Geist schon eins, geschah dieser atemberaubende Aufbruch und die Urexplosion aus einem dunklen Urschoß ins Leben, die bis heute geschieht. Gott stiftet diese Urbeziehung vor aller Ewigkeit und diese Beziehung ist Liebe, die auch heute mit mir und in mir geschieht. Oder wie es in den alten Texten der Liturgie heißt: „Ex utero ante luciferum genui te“ (Ich habe Dich vor dem Lichtgestirn aus dem Ur- Schoß gezeugt. (Psalm 110,3) Vgl. dazu, Bernardin Schellenberger, Im Glanz des göttlichen Lichtes. Orthodoxe Mystik, Geheimnis und Herausforderung München 2014)
Wenn wir diese Tiefendimension von Weihnachten vernachlässigen, so der frühere Trappist Bernardin Schellenberger, und die Weihnachtsbotschaft auf die Geschichte vom Kind im Stall verkürzen, verspielen wir die atemberaubende Vergegenwärtigung des unfassbaren Gottes im Weihnachtsfest.
„Jene Wirklichkeit, die den unermesslichen Kosmos und auch unsere Welt und uns selbst hervorgerufen hat, gibt sich selbst in die Dynamik von Werden und Vergehen, von Geborenwerden und Sterben hinein. Ihr Name bleibt nicht absolut geheimnisvoll und rätselhaft, sondern wir in Jesus Christus ein Mensch wie wir, den man benennen und sich vorstellen kann. Er teilt unser Schicksal bis zum Tod in uns, ja in uns. Mehr noch: Er durchbricht diesen unseren Tod, der der seinige geworden ist und führt uns in die Gegenwart seines unfassbaren ewigen Lichtes, das den Hirten aus der dunklen Nacht über den Feldern von Bethlehem aufgestrahlt ist.“ (Bernardin Schellenberger, Im Glanz des göttlichen Lichtes, S.80)
Das Thema, das mich als christlich geprägter Seelsorger schon seit meiner Zeit als Klinikseelsorger vor über 20 Jahren bewegt, ist der zerbrechliche, verletzbare, auch traumatisierte Mensch, im Kontrast zum starken und unverwundbaren (auch medial vermittelten) „Helden“, der niemanden braucht und auf der Siegerstraße unterwegs ist. Nicht der, der ganz „oben“ ist, sondern der, der ganz „unten“ ist; der, der am Boden liegt, -verachtet, übersehen, ungeliebt-, weckt vor allem mein Interesse, weil ich glaube, dass das Christentum vorallem eine Religion ist für Menschen, die einen tiefen Riss erlebt haben und diese Menschen sich für G´tt (eine tiefere Ebene des Lebens) leichter öffnen können als jene, die sich selbst genügen.
Wir haben gerade in den letzten Jahren erfahren müssen, wie angreifbar der Mensch ist: Corona, Erdbeben, Migrant*innen, die im Meer ertrinken, Hunger und Obdachlosigkeit oder ein Krieg, der uns ganz nahegekommen ist. Aber auch Mutter Erde und das zwischenmenschliche Zusammenleben können uns Sorgen machen.
Wir können auch auf den individuellen und persönlichen Bereich schauen, auf die Belastungen und Krisen unseres eigenen Lebens: Krankheiten, Behinderung, frühe seelische Verletzungen, Traumata, Ausgeschlossensein, an den Rand gedrängt werden, Scheitern und Niederlagen im Beruf, zerbrochene Partnerschaften, nicht erfahrene Vergebung für Schuld, die uns drückt, Schwächen, Verrat….; alles Erfahrungen von Grenzen, die unsere Pläne durcheinandergebracht haben und unsere bisherigen Vorstellungen vom Leben zerbrochen haben.
Wir Menschen brauchen Heilungsräume, an denen Wunden heilen können, und sichere Orte, an denen wir Geborgenheit erleben und zu einer neuen Ganzheit zusammengefügt werden.
In der Not und Krise brauchen wir vorallem Menschen, die uns schützen annehmen, unterstützen und Halt geben. In der Krise und erlebten Dunkelheit sind solche Menschen ein Licht, um Orientierung finden in der Verwirrung der Krise oder um aus einer möglichen Sackgasse des Lebens wieder herauszufinden.
Eine „Spiritualität von unten“ sagt, dass wir gerade dann, wenn unser Ego mit seinen Kontrollwünschen am Ende ist, sich ungeahnte Horizonte eröffnen und Lichtaugenblicke, das eigene Leben aus einer neuen Perspektive erkennen lassen, vorausgesetzt, dass wir an Wandlung glauben und uns nicht resigniert verschließen. Zuvor befinden wir uns meist in einem „Schwellenraum“, in dem das „Alte“ nicht mehr gilt (und die alten Muster und Lösungsstrategien uns nicht mehr weiterhelfen), aber das „Neue“ noch nicht aufgetaucht ist. Grenzen des Lebens können so durchwachsen werden, Risse können zu Öffnungen werden. Leonhard Cohen singt im Lied Anthem: „Es ist ein Riss in allen Dingen, aber genauso kommt das Licht hinein.“
In der Not und Krise brauchen wir auch Orte, die uns guttun und an denen wir Geborgenheit erfahren oder neue Kraft schöpfen können. „Kraftorte“, die Kinder oft intuitiv finden, wenn sie sich unsicher oder verängstigt fühlen.
Und nicht zu unterschätzen ist in der Krise der Glaube an G´tt, (ein Gottesname lautet: Ich bin der „Ich -bin -da“), der uns nicht im Stich lässt in unserer Not und von dem wir uns umfänglich angenommen fühlen, angesichts aller erfahrenen Ablehnung von anderen und einem damit einhergehenden Verlust des Selbstwertes und der Scham, in den Augen der anderen nicht zu genügen.
Der Traumatherapeut und Weisheitslehrer James Finley sagt, dass die unendliche Barmherzigkeit G`ttes unaufhörlich zu den gebrochenen Stellen unseres Lebens fließt. Nichts anderes als diese unbedingte Liebe, hat die Autorität zu sagen, wer wir sind.
Impuls:
Gibt es in meinem Leben Erfahrungen, wo mitten im „Riss“ (Scheitern, Verlust, Niederlagen…) neue Hoffnung und Aussicht aufgetaucht ist?
Welche Menschen haben mich in der Krise unterstützt?
Gibt es Lieblingsplätze/Kraftorte, an denen ich in der Krise, Zuflucht finde oder Lebensenergie auftanken kann?
In dem Dokumentarfilm „Nicht ohne uns“ (Erscheinungsdatum 2017) von Sigrid Klausmann nach einer Idee von Walter Sittler, in dem Kinder und Jugendliche unterschiedlicher Kontinente befragt werden, sagt der 11-jährige Enjo aus der Schweiz: „Ich habe nicht den blassesten Schimmer, wieso ich in die Welt hineingeboren wurde.“
Wer darauf auch später keine Antwort findet, wird sich aller Voraussicht nach in einigen Jahre mit Lärm, Alkohol oder Internet betäuben, phantasielos und ohne Schwung seinen Job herunterreißen, mit Partner oder Partnerin angeödet vor dem Fernseher sitzen und nichts mehr Wesentliches in seinem Leben erwarten. Resignierte und abgestumpfte Menschen, die sich abgefunden haben mit den kleinen, harmlosen Wünschen und Annehmlichkeiten, und ein sogenanntes „normales“ Leben führen.
Welch trauriges Gegenbild zu der im Frühling aufbrechenden Natur, zur Wurzel- und Grünkraft der Bäume, zum Sprießen und Aufblühen der Gräser und Blumen. Haben wir uns von den Wurzeln des Lebens abgeschnitten und entfernt? Fehlen uns,- besonders uns in der westlichen Wohlstandsgesellschaft-, die Visionen und begeisternde Träume, die über die basalen Absicherungsbedürfnisse hinausgehen? (vgl. Joel 3,1) Leiden nicht viele an Übersättigung, auch durch die vielen jederzeit erhältlichen Information und medialen Inputs?
Jemand verglich Menschen, die im dauerhaften Wohlstand leben mit Zierfischen, welche im gefahrlosen, langweiligen Aquarium, -gefüttert und satt-, ihre langweiligen Runden schwimmen; nur ab und zu erinnern sie sich an die Tiefen und Abenteuer des großen Meeres, in dem sie einst schwammen, und machen dann kurze heftige Bewegungen.
Tatsächlich, so scheint es mir, sind die Türen der Sehnsucht für viele zugeschlagen und die Antennen für das Göttliche und alles Transzendente von den Häusern abmontiert, auch die Sprache für das Absolute ist verloren gegangen, die Kathedrale des „Heiligen“- besonders jene in der eigenen Seele- bleibt unbewohnt. Nicht wenigen scheint Berieselung und leichte Kost, Kreuzworträtsel und Televisionen von Privatsendern für das eigene Lebensglück zu reichen. Das große, tiefe und gefährliche Meer ist ebenso vergessen wie der unendlich weite Kosmos.
Die eigene Lebendigkeit und Sehnsucht wieder zu entdecken, hängt nach biblischer Auskunft an einer Inspiration (wörtlich „Einhauchung oder Beatmung“), also daran, dass wir neues Leben und Atem eigehaucht bekommen (vgl. die Schöpfungsgeschichte Gen 2,7, Joel 3,1). Daran erinnert auch das Pfingstfest, das wohl unverstandenste christliche Fest vom heiligen und heilenden Geist. Das lateinische Wort „spiritus“ bedeutet sowohl Geist wie auch Wind und Atem. Es geht um eine neue Beatmung unseres Inneren, unserer Seele, unseres womöglich matt und flach gewordenen Atemstromes. Dort, wo uns der heilige Wind anrührt, atmen wir tief ein und tief aus. Der Heilige Geist, das ist wie der Wind, der uns berührt und uns sanft über die Wangen streichelt, der uns heftig anbläst, dass wir aufwachen und in Bewegung kommen. „Komm Heiliger Geist“, heißt es in der Pfingstsequenzund löse uns aus unserer Starrheit, locke uns heraus aus den Gefängnissen unserer satten Trägheit und sende uns vom Himmel her deinen Weckruf. Weite unsere enge, kleinliche und egoistische Sichtweise, befreie unsere Seele zu Dir hin, zum Schöpfer allen wahren Lebens und zu den Menschen, für die wir verantwortlich sind.
Der Heilige Geist, das ist auch Feuerkraft und Licht, das die Dunkelheit unserer Welt und unserer Seele von innen her erleuchtet; Licht, das hell macht, was finster ist, und uns den Weg zeigt, wenn wir im Dunklen tappen, stolpern, gefallen sind oder an Abgründen uns bewegen. Die Strahlen dieses Lichtes sollen unseren Lebensweg erleuchten, damit wir weiter gehen können, besonders inmitten von Krisen und Umbrüchen, die uns herumbeuteln. Die Strahlen seines Lichtes, das vom Himmel herkommt (und nicht aus unserem Erkenntnisvermögen), soll uns neue Perspektiven eröffnen, uns die verdunkelnde Furcht und Angst nehmen, die uns blind macht für die uns innewohnende geschenkte Liebe, die unbedingt an uns glaubt und will, dass wir sind.
Howard Thurmann, amerikanischer Bürgerrechtsaktivist und Mentor von Dr. Martin Luther King jr. gibt für das Lebendigwerden noch folgende Empfehlung:
„Frage nicht, was die Welt braucht, frage dich selbst, was dich lebendig macht …und tue das; (denn) was die Welt braucht, das sind Leute, die lebendig geworden sind.“
Alles, was mich lebendig macht, belebt, inspiriert, ins Fließen bringt, könnte mich also zu meiner ur-eigenen Berufung führen.
Der Benediktiner David-Steindl-Rast hat dazu folgende grundlegende Fragen formuliert, die ich an Sie als Impuls weitergeben möchte:
Impuls:
Was würde ich wirklich gerne tun? Was bereitet mir eine tiefe und nachhaltige Freude?
Was kann ich gut? Wo bin ich gut? (worin drücke ich die Einzigartigkeit und Einmaligkeit meiner Person am besten aus? Was sind meine Talente und Begabungen?)
Welche Gelegenheit gibt mir das Leben gerade jetzt, um das zu tun, was mich mit Freude lebendig macht? Wozu lädt mich das Leben gerade jetzt ein? (um das herauszufinden, müssen wir aber anhalten und mit den Ohren des Herzens horchen und bereit sein, uns überraschen zu lassen)
Früher haben begrenzte Ressourcen, Anforderungen von Familie und Eltern, Zwänge von Religion und Gesellschaft das Privat-Ich in seine Grenzen verwiesen. Die Grenzen sind heute, in der westlichen Welt zumindest, weitgehend aufgehoben; dies hat einerseits zu großen individuellen Spielräumen geführt, andererseits aber eine suchtabhängige Gesellschaft produziert, Individuen geformt, die Gefangene des Konsums sind, Sklaven einer Ideologie des immer „Mehr“ auf allen Gebieten und zu einem Menschenbild, das sich weitgehend über Äußerlichkeiten und Oberflächlichkeiten definiert.
Sucht ist alltäglich geworden und sie durchdringt, wenn wir ehrlich sind, nahezu jedes menschliche Wesen.
Dabei gibt es viele Erscheinungsbilder der Sucht: Drogensucht, Alkoholismus, Nikotinsucht, Koffeinsucht, Esssucht, Arbeitssucht, Sucht nach Stress, Sexsucht, Spielsucht, das Sammeln von Geld…. Manche Süchte wirken sich schlimmer und zerstörerischer aus als andere und bedürfen dringend psychologischer und therapeutischer Behandlung. Der Psychiater Gerald May weist aber darauf hin, dass bei allen Süchten letztlich die gleichen neurologischen, psychologischen und geistigen Mechanismen am Werk sind, egal, ob es sich um stoffliche Süchte wie Alkohol oder Drogen handelt oder ob wir bestimmten Idealen anhängen, an bestimmte Selbstbilder gebunden sind, ob wir Macht anstreben, oder süchtig nach Bestätigung und Anerkennung sind. (Gerald May, Sehnsucht, Sucht und Gnade, München 1993)
Sucht missbraucht unsere Freiheit und veranlasst uns etwas zu tun, was wir eigentlich nicht wollen. Sucht verbindet sich oft mit einem gierigen Verhalten(auch wenn Sucht und Gier nicht einfach dasselbe sind, so steckt doch in jeder Sucht die Gier nach mehr) Raffgier, Profitgier, Kommunikationsgier… zerstören menschliche Gemeinschaft. Der Philosoph Spinoza sieht in der Habgier, aber auch im Ehrgeiz und in der Wollust, sogar Formen des Wahnsinns. Die ungezügelte Gier nach immer mehr kann irgendwann zerstörerisch wirken und dies nicht nur für das Individuum (der süchtige und gierige Mensch verliert die Beziehung zu sich selbst, zu seinen Gefühlen, kann nicht mehr wirklich genießen…), sondern für eine Gruppe oder eine ganze Gesellschaft. Gieriges und süchtiges Verhalten macht uns nicht glücklich, sondern unruhig und getrieben, versklavt uns an materielle Dinge, an Geld, Macht oder führt zu unfreien und toxischen Beziehungen. (vgl. Anselm Grün, Gier. Auswege aus dem Streben nach immer mehr, Münsterschwarzach 2015)
Alle Süchte beeinträchtigen die menschliche Freiheit und nehmen uns etwas von unserer Menschenwürde.
Die Sehnsucht nach Gott, die Energie im Innersten unseres Herzens, der Hunger nach bedingungsloser Liebe wird gebunden und gefangen gehalten durch die Sucht.
Aus spiritueller Sicht geht es darum, worauf der Benediktiner Anselm Grün hinweist, die Sucht wieder in Sehnsucht zu verwandeln, die uns über die irdische Welt hinausführt und als göttliche Spur in unser Herz eingepflanzt ist. Es gilt die verdrängte Sehnsucht nach Liebe, Geborgeheit und Angenommensein im süchtigen Verhalten wieder freizulegen. Die zerstörerischen Elemente der Gier- sie steckt ja in jedem Menschen – gilt es wieder in eine lebensspendende Kraft zu verwandeln, um im Herzen zur Ruhe zu kommen und eine innere Freiheit zurück zu erlangen.
Die geistliche Tradition bezeichnet das süchtige Gebundensein in der englischen Sprache mit „attachment“, was so viel wie „Angenagelt“ oder „Verhaftet-sein“ bedeutet. Unser innerstes Verlangen und Wollen wird an bestimmte Objekte „genagelt“. Sucht kettet unser Wollen und Verhalten an bestimmte Gegenstände, Stoffe, Ideen und Menschen. Sie verführt uns zum Götzendienst und zur Anbetung des goldenen Kalbes, um das all unser Denken, Wollen und Fühlen kreist.
Viele spirituelle Traditionen weisen auf die Gefahren von Sucht und Gier hin. Für den Buddhismus ist die Gier gar die Wurzel allen Übels.
Im Lukasevangelium warnt Jesus seine Schüler vor Gier und Habsucht (Lk 12, 15-21 und warnt sie und uns davor, sich an vergängliche Dinge zu klammern und dabei zu vergessen, ein sterbliche und endliche Mensch zu sein. Stattdessen erinnert er in einem anderen Gleichnis uns daran, in all unserem Planen und Sorgen, die Vögel des Himmels und die Lilien des Feldes sich zum Vorbild zu nehmen, die nicht säen und nicht ernten und dennoch gut leben unter den liebenden Augen Gottes. Es geht ihm um Sein statt Haben wie es der Erich Fromm formuliert hat.
Die christlichen Wüstenasketen, haben bevor sie in die Wüste zogen, allen ihren Besitz verschenkt, um Raum und innere Freiheit zu schaffen für ihre Gottessuche. Geist und Herz sollten aufgeräumt sein für ein ungehindertes Streben nach Gott. Diese Wüstenväter und Wüstenmütter waren um Loslösung bemüht; sie machten eine Gegenbewegung zum Verhaftetsein unseres Verlangens an materielle Dinge, an wechselnde Gefühle, an ungeordnete Leidenschaften, Begierden und Süchte. Loslösung, Widerstand, das heilige Nein, Verzicht auf Ablenkungen, aber am zentralsten das Vertrauen auf eine zu Hilfe kommende Gnade (weil wir mit eigenem Willen nicht fähig sind uns von Süchten, Zwängen und tiefgreifenden Abhängigkeiten zu lösen) sind integrale Bestandteile jeder geistlichen Lebensreise, die uns aus der Knechtschaft befreien und unser ursprüngliches Verlangen nach Gott wieder freilegen.
Impulsfrage: (nur hinschauen, nicht werten)
Wo in meinem Leben bin ich verhaftet und süchtig gebunden?
„Wandlungsprozesse- Heilungsräume- Metamorphosen oder es ist ein „Riss in allen Dingen, aber genauso kommt das Licht hinein“ (Leonhard Cohen)
„Das Christentum ist vorallem eine Religion für Menschen, die einen tiefen Riss in ihrem Leben erlebt haben“ (Thomas Merton)
In der Werbung und in den Medien werden uns vor allem perfekte, gutaussehende, attraktive, leistungsstarke, gesunde und unabhängige/autonome Menschen präsentiert. Models und Bodybuilder, rund um die Uhr arbeitende Manager*innen, Menschen, die sich unabhängig und völlig frei von allen Bindungen zeigen, angstfreie Abenteurer, die niemanden brauchen, Schönheiten, die nur sich selbst feiern,- das sind die modernen und unverwundbaren Held*innen unserer Zeit.
Doch dies ist aber nur die halbe Welt und oft mehr Schein als die Wahrheit. Die Versuchung ist gegeben beim oberflächlichen Blick und Sinneseindruck hängen zu bleiben und nicht dahinter und darunter zu schauen in die Tiefe menschlicher Existenz.
Das Leben von Philippe Pozzo di Borgo, der bis zu seinem 42. Lebensjahr Geschäftsführer des Champagnerunternehmens Pommery war, dann durch einen Gleitschirmunfall vom Hals ab querschnittgelähmt, ist vielen bekannt durch den Film „Ziemlich beste Freunde“. Er berichtet davon, wie er sich nach Erscheinen seiner Autobiografie vor Mails nicht mehr retten konnte, in denen alles Unglück der Welt auf seinem Bildschirm landete und die Unermesslichkeit der geschilderten Verzweiflung ihn überwältigte. In einem Interview mit Elisabeth von Thadden sagt er:
„Es klafft ein Abgrund zwischen den Anforderungen der Gesellschaft und dem, was sich in den Menschen zuträgt. Sie fühlen sich abgehängt, ausgeschieden, zerstört, beladen, gejagt, sie sind voller Scham und Angst, weil sie nicht leisten können, was man von ihnen verlangt, als Arbeitnehmer, als Familienväter, als Migranten oder Arbeitslose, es sind alle Lebenssituationen dabei, ob mit körperlicher Behinderung oder nicht. […] All diese Mails belegen ein massenhaftes Gefühl des Scheiterns. […] Die Menschen wollen ein sinnvolles Leben führen, sie wollen sich nicht fortgesetzt drängen und hetzen lassen. Jeder weiß oder ahnt doch zumindest, dass die menschliche Existenz zerbrechlich ist. Man glaubt nicht mehr an das Trugbild des ewig jungen und starken schönen Menschen. Die Zerbrechlichkeit muss wieder von den Rändern ins Zentrum rücken.“ (Philippe Pozzo di Borgo u. a., Ziemlich verletzlich, ziemlich stark, 2012, 8f.,)
Diese Verwundbarkeit menschlicher Existenz, so Pozzo di Borgo, werde verschleiert durch die vielfältigen Trugbotschaften der Medienkultur mit ihren überzogenen Wünschen und Ansprüchen an Leistung, Effizienz, Schönheit, ewige Jugend, Unverwundbarkeit, sogar Unsterblichkeit. Diese verzerrten nicht nur die Wirklichkeit, sondern führen auch zu einem fraglichen Menschenbild und zu permanenten Angstzuständen. Für Pozzo di Borgo sind elementare Beziehungen statt Gleichgültigkeit für das Glückserleben zentral; wechselseitige Abhängigkeit, ein Geben und Nehmen, das auf freundliche Weise geschieht, sei keine Minderung der Würde, sondern führe zum Glück.“ (vgl. Vogt, Schädlich-Buter, Spiritualität und Verantwortung, S.89)
Menschen mit einer Behinderung oder überhaupt Menschen in prekären Lebenssituationen stellen dazu ein Gegenbild dar, sind die Antihelden, die weder unabhängig noch leistungsstark sind, die nicht mit Statussymbolen protzen können, sondern zerrissen daherkommen (vgl. den Helden Zyklus von Baselitz). Menschen mit einer Behinderung sind so wichtig für unsere Gesellschaft, weil sie den zerbrechlichen und verwundbaren Teil menschlicher Existenz sichtbar machen, weil sie die Endlichkeit und Bruchstückhaftigkeit menschlicher Existenz bezeugen durch ihre bloße Anwesenheit, weil sie den Gläubigen sagen, was Gnade ist und was es mit der Sehnsucht auf sich hat jenseits aller Leistung geliebt und angenommen zu werden, und, weil gerade die schwerstbehinderten Menschen, uns die Angewiesenheit, Bedürftigkeit und Nacktheit unserer Existenz deutlich machen können, die jene durch nichts kompensieren können. Der Körper des behinderten Menschen ist der Ort für die bedingungslose Zuwendung eines Gottes, der bedingungslos liebt.
Menschen mit einer Behinderung sind Zeugen für das Ganze des Menschseins, weil sie den omnipotenten Helden oder Heldin infrage stellen und wie ein Protest wirken gegen die Hybris des gottgleichen Menschen, dessen einziger Bezugspunkt er selbst ist.
Diese Infragestellung menschlicher Allmächtigkeit und Omnipotenz geschah in den letzten Jahren auch durch die weltweiten Krisen, durch Corona, den Ukrainekrieg und zuletzt das schreckliche Erdbeben in der Türkei und Syrien.
„Es ist ein Riss in allen Dingen, aber genauso kommt das Licht hinein!“, heißt es im Lied Anthem von Leonhard Cohen und er will damit sagen, dass die Risse überall vorhanden sind, aber auch, dass aus den Rissen in unserem Leben, aus den Brüchen und Erfahrungen des Scheiterns, Neues und Schönes entstehen kann. (Dies ist der Ansatz einer „Spiritualität von unten“) Ja, dass sogar manchmal Altes, womöglich Überlebtes zerbrechen muss, damit eine neue, bislang noch ungeahnte Gestalt sich offenbaren kann. Der Bruch oder die Niederlagen kann eine Metamorphose einleiten, der über den Weg in die Tiefe eine neue Identität hervorbringt. Oder anders gesagt: das falsche, oberflächliche, egozentrische oder in festgezurrten Vorbahnungen sich bewegende Ego/Ich, wird aufgebrochen. Ein Bruch, ein Riss, der zunächst schmerzt, wehtut, die Orientierung nimmt und in einen Schwellenraum versetzt, der Monate, ja sogar Jahre dauern kann.
Der „Schwellenraum“ (Richad Rohr) ist der Übergangsraum, in dem das Alte nicht mehr gilt und das Neue noch nicht aufgetaucht ist. Bilder und Prototypen für diesen Zustand sind Jona, der im Walfischbauch sitzt oder Hiob im Dreck und im Schmerz seiner ganzen Verluste. Doch in der Tiefe kann etwas wachsen ohne unser Zutun. „Er schläft und steht wieder auf, es wir Nacht und wird Tag, der Samen keimt und wächst, und der Mann weiß nicht wie.“ (Markus 4,26) Und manchmal ist es ein Hoffnungsschimmer, der die Dunkelheit erleuchtet, eine Kraft, die von irgendwoher kommt und sagt, „Jetzt nicht aufgeben!“ und „Am Leben bleiben!“. Meister Eckhart sagt, wenn ich nicht zugrunde gegangen wäre, also in den Grund meiner Existenz, dann wäre ich zugrunde gegangen. Am Grund meiner Existenz lässt sich das wahre Selbst entdecken, an dessen Tür, inständig und mit viel Geduld der klopft, den Johannes vom Kreuz als den „Ich weiß nicht was“ bezeichnet.
Der „Schwellenraum“ kann zum „Heilungsraum“ werden, der für unterschiedliche Menschen ganz unterschiedlich aussehen kann: manche bekommen durch die Kraft der Natur neuen Antrieb für ihr Leben. So der bekannte Sozialfotograf Sebastiao Salgado, der nach erschütternden Erfahrungen des Genozids in Ruanda den Glauben an die Menschheit verloren hat, und im Pflanzen eines Waldes neue Kraft schöpft. Oder Ingrid Leitner, die Gründerin des CBF (Clubs Behinderter und ihrer Freunde), die mit 15 Jahren an Polio erkrankte, hat ihre Wohnung in eine grüne Oase verwandelt, wodurch sie viel Kraft bekam. (Autobiografie von Ingrid Leitner, Das Leben der Sternentaucherin). Andere entdecken in der Kunst und kreativen Schaffen einen Weg das Leid und die Gebrochenheit zu durchschreiten, finden in der Malerei wie Frieda Kahlo ein Ausdrucksmittel für ihr innerstes Erleben, in der Trauer, Schmerz und unbändige Lebensfreude zugleich auftaucht. Wieder andere entdecken wie Philippe de Bozo, Chef einer großen Champagnerfirma und nach einem Gleitschirmabsturz vom Hals ab gelähmt- vielen durch den Film „Ziemlich beste Freunde“ bekannt-, die Wichtigkeit von Beziehung zu anderen Menschen, aber auch wie wesentlich die Stille im Leben ist. Helen Keller, die mit zwei Jahren Augenlicht und Gehör verliert, sagt: „Wenn eine Tür des Glücks sich schließ, öffnet sich eine andere, aber oft starren wir so lange auf die geschlossene Tür, dass wir die, die sich uns geöffnet hat nicht sehen. Helen Keller findet eine Aufgabe, die auch Heilungsraum ist, im Engagement für andere blinde Menschen, aber sie setzt sich auch für die Rechte der Schwarzen und die Frauenrechte ein. Wer sich um andere kümmert, trägt auch zu seiner eigenen Heilung und zum eigenen Wohlbefinden bei statt nur um sich selbst zu kreisen. (vgl. frei nach Jesaja 58,10: Wenn es dir dreckig geht, dann mach dich auf und kümmere dich um die Ärmsten, Notleidenden und teile dein Brot mit ihnen, dann wird in Kürze dein Licht wieder aufleuchten).
Es gibt auch verwundete Heiler, manche wie Claude Anshin, der sich vom Killer im Vietnamkrieg und PTB- Störungen, Drogen und Alkohol nach seiner Rückkehr nach Amerika, schließlich zum buddhistischen Mönch wandelt. Er findet über den vietnamesischen Mönch Thich Nhat Hanh zur Meditation, und zu einer neuen Lebensaufgabe und Berufung als Friedensaktivist.
Thomas Merton, der durch sein Buch „The Seven Storey Mountain“ (deutsch: Der Berg der sieben Stufen) weltbekannt gewordene Trappistenmönch, erkennt im Laufe seines Lebens, dass echtes spirituelles Leben aus dem Dunkel und aus dem Scheitern wächst, und dass der Weg zu Gott durch die Wüste führt. Nur so könnte man das eingebildete, falsche, kranke und egozentrische Ego überwinden. Eine „Spiritualität von unten“ besagt, dass im „Riss“ und in den Brüchen des Lebens, die Chance liegt, dass sich die Türen der Seele öffnen für das Nahekommen Gottes als einem, der bedingungslos liebt und annimmt. Der „Riss“, wo wir am Ende unserer Kräfte sind und unsere Ohnmacht eingestehen müssen (wie die anonymen Alkoholiker) kann wie eine Öffnung sein, durch welche ein Licht in uns einströmt, dass wir nicht selbst erzeugen können.
„Ein Trauma stellt die Betroffenen vor einen Wendepunkt in ihrem Leben und kann trotz aller Verletzungen, die Möglichkeit bieten, gestärkt aus ihm hervorzugehen. Eine wichtige Voraussetzung dafür ist, dass sich der Einzelne der Realität stellt, anstatt sie zu leugnen oder zu verdrängen, und das Unglück als Teil seines Lebens annimmt. In der Resilienzforschung wird diese Fähigkeit Akzeptanz genannt.“ (Vogt, Schädlich-Buter, Spiritualität und Verantwortung, S.52) In der Kunst könnte man an Joseph Beuys Installation „Zeige deine Wunde“ denken oder an das Bild von Caravaggio „Der ungläubige Thomas“, dem Jesus seine offene Wunde hinhält und die Möglichkeit eröffnet, sie zu berühren. Um in der Akzeptanz des Verlustes, der Trauer um Unwiederbringliches, im Scheitern von Lebensplanungen nicht aufzugeben und Hoffnung zu finden, ist es wichtig durch den Schmerz, das Leiden und die Trauer zu gehen, manchmal auch nur auszuhalten, was mir da widerfährt. Emmy Werner sagt zu resilienten Menschen „vulnerable but invincible“, und meint, dass es sich bei diesen Menschen nicht um unverwundbare Helden/Held*innen handelt, sondern nur, dass sie sich durch die Lebenskrisen nicht unterkriegen lassen und dadurch ein psychisches Immunsystem entwickeln. Für die Reifung durch eine Krise gibt es kein Rezept, aber wer es wagt, sich mit seinen Lebenswunden anderen Menschen oder Gott zu öffnen und anzuvertrauen, für den entspringt nicht selten eine Quelle der Hoffnung.
Biblisch könnte man an dieser Stelle an das Paulus Wort denken: „Wenn ich schwach bin, dann bin ich stark“ (2 Kor 12,10) Es gilt im Prozess der Verarbeitung auch die dunklen Gefühle (auch Suizidgedanken), die offenen und ungelösten Fragen, die mit der Lebenskrise einhergehende Verunsicherung und Verzweiflung, die Frage nach dem Sinn dessen, was mir das Leben zugemutet und auferlegt hat, die Leere, in der sich kein Gott zeigen will (vgl. das Gedicht von Jean Paul „Siebenkäs“),….zu stellen. Das Leid bleibt unerlöst, wenn es keinen Ausdruck findet. Wer sich verletztlich zeigt, eröffnet Reifungsprozesse.
Wer durch eine Lebenskrise hindurch gegangen ist, hat sich verwandelt (das bestätigen nicht nur die Ergebnisse der Traumaforschung, sondern auch die Berichte von Nahtoderfahrungen wie sie der Philosophieprofessor Godehard Bruntrüp S.J. eindrucksvoll beschreibt). Menschen, die durch Leid und Krisen gegangen sind, werden wie auch Forschungen zeigen, empathischer, liebesfähiger, entwickeln eine neue Wertehierarchie; sinnerfüllte Beziehungen sind wichtiger als Erfolg im Beruf; das eigene Ich öffnet sich stärker für den anderen, erlebt mehr Verbundenheit, kreist weniger um sich selbst, wird sehender für die Not des Anderen und lebt von einem inneren gottnahen Zentrum her, das frei ist von außen auferlegten Bedingungen und Strukturen des Funktionierens und Wertgeschätzseins in Welt und Gesellschaft. Die spirituelle Sprache spricht hier vom wahren Selbst.
Der Franziskaner Richard Rohr schreibt: „Unser falsches Selbst, das wir auch unser „kleines Selbst“ nennen könnten, ist unsere Startrampe: unser Körperbild, unser Job, unsere Ausbildung, unsere Kleidung, unser Geld, unser Auto, unsere sexuelle Identität, unser Erfolg und so weiter. Dies sind die Insignien des Egos, die wir alle benutzen, um uns durch einen gewöhnlichen Tag zu bringen. Sie sind eine schöne Plattform, auf der man stehen kann, aber sie sind weitgehend eine Projektion unseres Selbstbildes und unserer Anhaftung daran. Keiner von ihnen wird von Dauer sein! Wenn wir in der Lage sind, über unser falsches Selbst hinauszugehen – zur richtigen Zeit und auf die richtige Weise – wird es sich genauso anfühlen, als hätten wir nichts verloren. In der Tat wird es sich wie Freiheit und Befreiung anfühlen. Wenn wir mit dem Ganzen verbunden sind, müssen wir den bloßen Teil nicht mehr schützen oder verteidigen. Wir sind jetzt mit etwas Unerschöpflichem verbunden. Unser falsches Selbst nicht zur richtigen Zeit und auf die richtige Weise loszulassen, ist genau das, was es bedeutet, festzustecken, gefangen und süchtig nach uns selbst zu sein.
Und James Finley, einst Novize bei Thomas Merton, später Traumatherapeut, reflektiert Merton`s Lehre über das Wahre Selbst und das separate (oder falsche) Selbst:
Unser wahres Selbst ist ein Selbst in Gemeinschaft. Es ist ein Selbst, das in Gottes ewiger Liebe besteht. Ebenso ist das falsche Selbst das Selbst, das außerhalb dieser geschaffenen bestehenden Gemeinschaft mit Gott steht, die unsere Identität bildet…..In unserem Eifer, die Vermieter unseres eigenen Seins zu werden, klammern wir uns an jede Errungenschaft als eine Art Bestätigung unserer selbsternannten Realität. Wir werden zum Zentrum und Gott zieht sich irgendwie an einen unsichtbaren Rand zurück. Andere werden in dem Maße real, in dem sie zu bedeutenden anderen für die Pläne unseres eigenen Egos werden. Und in diesem Prozess stirbt das GANZE Gott in uns und das sterile Nichts unserer Wünsche wird zu unserem Gott. Merton macht deutlich, dass die selbsternannte Autonomie des falschen Selbst nur eine Illusion ist…“ (vgl. Homepage des CAC, Center für action and contemplation)
Der Prophet Ezechiel spricht davon, dass G*tt das Herz von Stein aus unserer Brust nimmt und uns ein neues lebendiges Herz schenkt. (Ez 11, 19.20) Ein Herz, das barmherzig ist und nachsichtig gegenüber Fehlern und Schuld ist, und das sich solidarisch an die Seite der Menschen stellt, die an den Rand gedrängt werden und Ungerechtigkeit erleiden. Ein Herz, das nicht gleichgültig zusieht, wie Menschen exkludiert oder misshandelt werden. Gerade die Gleichgültigkeit ist Zeichen eines verschlossenen, tauben, fühllosen Herzens wie wir es sehen angesichts der ertrinkenden Migranten im Mittelmeer. Wer sich um andere kümmert und sorgt, entgrenzt sein Herz, überschreitet/transzendiert sich selbst und öffnet sich der Kraft verwandelnder Liebe.
Aus einer theologischen Perspektive gehören Leid, Schuld, Scheitern und Ungerechtigkeit zentral zum menschlichen Leben, das oft nicht nach unseren Vorstellungen läuft. Nicht umsonst ist das Kreuz zentrales Erlösungssymbol der Christen. Das Leiden und Scheitern hat nicht das letzte Wort, sondern ist ein Durchgangsweg zur Auferstehung und zu neuem, verwandeltem Leben; insofern dient der Weg Jesu auch als Modell für menschliche Transformationsprozesse. „Deinen Tod, o Herr, verkünden wir und deine Auferstehung preisen wir“, lautet das Geheimnis des Glaubens. Christliche Hoffnung ist kein blinder Optimismus, sondern eine Gewissheit, die durch die Erfahrung des Kreuzes hindurchgegangen ist. Mitten im Fragmentarischen des eigenen Lebens ahnen manche etwas von einem Ganzen, das allein mit der Kraft des Willens nicht hergestellt werden kann. Heilungsprozesse ereignen sich meist so, dass ein „Anderer“ (G*tt) oder etwas anderes jenseits meines eigenen Wollens und Vermögens, die Bruchstücke meines Lebens zu etwas ganz Neuem, zuweilen mit unendlicher Geduld, zusammenfügt. Schönheit und Hässliches, Verzweiflung und Hoffnung liegen in der menschlichen Seele oft ineinander verschränkt. Sobald ich das eine weglasse, verbanne ich das Andere mit. Wenn ich Schmerz zulasse, öffne ich mich auch für die Schönheit und das Neue, das werden will. Die japanische Kunst des Kintsugi, wo Vasen zerbrochen und dann mit Gold-Leim wieder zusammengesetzt werden, können als Metapher gelesen werden für eine neue Ganzheit, für die Heilung des Gebrochenen und wie aus Bruchstücken eine neue Schönheit entsteht.
Liturgisch lässt sich angesichts der Zerbrechlichkeit und Verwundbarkeit menschlicher Existenz an das Brotbrechen der Eucharistie denken (wie es der Priester und Lyriker Andreas Knapp in seinem Buch „Vom Segen der Zerbrechlichkeit“ herausgearbeitet hat). Der die rituelle Handlung begleitende Satz „Seht zerbrochen für uns…“ erinnert daran, dass sich die Bruchstelle Jesu und unsere eigenen Bruchstellen zu einem Ganzen zusammenfügen. Allerdings nur dort, wo ich bereit bin, die Bruchstellen meines Lebens hinzuhalten, weil glatten und abgerundeten Stellen keine Anknüpfungsmöglichkeit bieten.
In der letzten Phase unserer Ausbildung zur Seelsorge hatten wir einen Kurs mit Pater Josef Sudbrack, einem Jesuiten, der ein anerkannter Fachmann für Spiritualität und Mystik war. Neulich fiel mir Pater Sudbrack, der inzwischen verstorben ist, wieder ein, aufgrund eines kurzen Gesprächs, das ich mit ihm hatte. Pater Sudbrack war kriegsverwundet und ihm musste deshalb als 19 Jährigem 1944 ein Bein amputiert werden. Und so kamen wir auf den Krieg zu sprechen und ich fragte ihn, wie er das alles seelisch heil überstanden hat. Er sagte, dass all die schlimmen Erfahrungen, auch der Verlust seines Beines, ihn nicht wirklich aus der Bahn geworfen haben, denn er habe eine so gute und behütete Kindheit in Trier bei seiner Eltern, die eine Bäckerei hatten, erlebt, dass selbst das Schreckliche des Krieges diese Basis nicht zu zerstören vermochte. Das beeindruckte mich damals sehr. Glücklich also, wer eine so gute Basis für sein Leben bekommen hat, ein Urvertrauen, das wie ein Haus der Persönlichkeit stabil steht, dass es allen Stürmen des Lebens trotzen kann und selbst wenn es die im Leben unvermeidlichen Risse gibt nicht einstürzt. Das Wort Vertrauen reißt viele Themen an: Urvertrauen, Selbstvertrauen, Gottvertrauen…Wer schenkte mir Vertrauen und wem vertraue ich?
Ohne konkrete Personen zu nennen, würde ich auf die letzte
Frage antworten:
Vertrauen schenke ich der Person, die mich annimmt wie ich
bin mit meinen Stärken und meinen Schwächen, die mir meine Fehler verzeiht und
mich in keine Schublade einsperrt, die es ehrlich mit mir meint sowohl was Lob
als auch was Kritik betrifft, und die mich nicht für irgendwelche Zwecke
missbraucht statt mich um meiner selbst willen gern zu haben; und sie müßte „da“
ist, wenn ich in Not und Hilfe brauche.
Die Entwicklungspsychologen weisen uns daraufhin, das
Vertrauen nicht angeboren ist, sondern sich entwickeln und entfalten muss,
vorallem durch verlässliche und verbindliche Beziehungen; Vertrauen baut sich auf über Blickkontakt, Sprache,
Dialog, und über Einfühlung, in das, was
ein Baby oder Kleinkind an Nahrung und Schutz braucht. Wem Vertrauen geschenkt
wird, der kann zu einem vertrauenswürdigen Menschen heranwachsen und später
selbst Vertrauen wagen. Wer als Kind ständig kritisiert, bevormundet,
besserwisserisch abgekanzelt, überängstlich beschützt, mit ambivalenten
Botschaften gefüttert, oder ausschließlich nach seiner Leistung in der Schule
beurteilt wurde, der kann im Leben als Erwachsener nur schwer ein Vertrauen in
sich selbst entwickeln und auch Krisen schwerer bestehen. Menschen ohne
vertrauensvolle Beziehungen werden nicht selten über kurz oder lang krank an
Leib und Seele. Heilung liegt im geschenkten Vertrauen anderer Personen.
Vertrauen ist also zunächst ein Geschenk, durch das ich mich selbst als
liebenswert erleben kann, und das ich mir nicht selbst geben kann.
Wer vertrauensvolle Beziehungen erlebt, bekommt Vertrauen in
sich selbst und die eigenen Fähigkeiten, bekommt Selbstwert, es wächst im Kind die Lust, in die Welt“ hinaus zu gehen und
seine Talente zu erproben. Vertrauen scheint so elementar wie die Luft zum
Atmen. Dort, wo es fehlt, auch in Arbeitskontexten, wo es keinen
Vertrauensvorschuss mehr gibt, der Spielräume schenkt, herrscht früher oder
später eine Atmosphäre der Kontrolle, Überwachung und Angst. Auch in
Partnerschaften führt mangelndes Vertrauen zu Eifersucht, und Mißtrauen. Jeder
Vertrauensvorschuss birgt natürlich auch das Wagnis in sich, enttäuscht zu
werden, wobei ja niemand seinen Verstand völlig ausschalten muss, um allzu naiv
und vertrauensselig ins offene Messer zu laufen.
Doch jede wichtige Entscheidung braucht Vertrauen, ob bei
der Berufs- oder Partnerwahl. Eine absolute Sicherheit gibt es nicht, was uns
gerade die Pandemie überdeutlich vor Augen führt. Aber schon vor Corona
stellten sich viele Menschen die Frage: Ist diese Welt vertrauenswürdig?
Überall auf der Welt Fake News, Korruption, Ungerechtigkeit und Machtmißbrauch.
Wem kann ich noch wirklich vertrauen? Angst und Unsicherheit haben sich
besonders in unsere Wohlstandsgesellschaften eingeschlichen und sich mit der
Coronapandemie verstärkt. Viele Menschen erleben einen Kontrollverlust, sind
vom bekannten Weg in ein für nicht wenige äußerst bedrohliche erlebtes unbekanntes Gelände
abgesetzt worden; die Institutionen, die Sicherheit geben sollen, Politik und
Kirche zum Beispiel, scheinen sich auch nur mühsam im Nebel vorantasten zu
können.
Was ist jetzt mit dem Vertrauen? Wie können wir es
zurückgewinnen, zumindest soweit, dass uns die Ängste und Unsicherheiten des
Lebens angesichts der Pandemie nicht verschlucken?
Vielleicht hilft uns schon die Einsicht etwas weiter,
dass es sowieso eine Illusion ist, an eine absolute Sicherheit zu glauben. Wer
hätte nicht schon im eigenen Leben erlebt, dass Pläne durchkreuzt wurden (wer
wüßte dies nicht besser als viele, die in der Pfennigparade leben und arbeiten),
dass es Überraschungen gab, die uns einen Strich durch die Rechnung gemacht
haben, dass die letzte Etappe zum Berggipfel durch einen unvorhersehbaren
Wettereinbruch verhindert wurde, oder wie neulich der Weltumsegler Boris
Herrmann kurz vor dem Ziel, in das er als Sieger hätte einlaufen können, mit
einem „blöden“, unbeleuchteten Fischkutter zusammenprallte.
Manches im Leben braucht wohl den Abstand im Humor,
gewiss manchmal mag es Galgenhumor sein. So sagte schon Benjamin Franklin,
einer der Gründerväter der Vereinigten Staaten, zu unserem tief verankerten Bedürfnis
nach Sicherheit etwas augenzwinkernd: „Nichts in dieser Welt ist sicher,
außer dem Tod und den Steuern.“ Auch so manche gelassene und lange
gewachsene Lebensweisheit, kann uns wieder auf den Boden des Vertrauens
bringen, wie es der kölsche Glaubenssatz zum Ausdruck bringt: “Et kütt, wie
et kütt! Et hätt noch emmer joot jejange! Wat fott es, es fott! Et bliev nix,
wie et wor! Wat wells de maache!“ Übersetzt: Es kommt wie es kommt, – damit
begegneten die Rheinländer sowohl den durchziehenden Heeren wie auch dem
Rheinhochwasser; und mit „es ist noch immer gut gegangen“, wollten sie sagen,
dass wir uns nicht in einem rabenschwarzen Pessimismus und den damit
verbundenen zerstörerischen Kräften überlassen sollten. Warum also nicht
einwenig nach all den sicher wichtigen und notwendigen Anstrengungen einwenig
kluge Schicksalsergebenheit und ein positiver Fatalismus, der eingesteht, dass
wir nicht alles in der Hand und unter Kontrolle haben können(vgl. dazu
ausführlicher das kluge Buch „Lob des Fatalismus“, vom SZ Journalisten Matthias
Dobrinski, dem ich wichtige Anregungen verdanke und das ich als Lektüre sehr
empfehlen kann). Oder wer es etwas religiöser haben will, dem mag die Einsicht
und Bitte des amerikanischen Theologen Reinhold Niebuhr ans Herz gelegt werden:
„Gott, gib mir die Gelassenheit, Dinge hinzunehmen, die ich nicht ändern
kann, den Mut, die Dinge zu ändern, die ich ändern kann, und die Weisheit, das
eine vom anderen zu unterscheiden.“
Sicher sind es, um auf Pater Sudbrack zurück zu kommen, auch
ganz konkrete Menschen, die Vertrauen und Ruhe ausstrahlen in dieser unsicheren
Zeit und uns zumindest für Momente mit hineinnehmen in dieses Urvertrauen, dass
die Welt schon gut und vertrauenswürdig ist, wie es uns Genesis in der
Schöpfungsgeschichte verspricht.
Und nicht zuletzt kann auch ein liebevoll zubereitetes
Mittag- oder Abendessen und ein Strauß Blumen auf dem Tisch diesen Glauben
stärken (trotz Fastenzeit).
Angeschaut werden – ein menschliches Grundbedürfnis
Regarde moi – Schau mich an!, heißt es in einem Lied des Rappers Lomepal. Die Augen des anderen sind der Spiegel, der mir sagt, dass es mich gibt und dass es gut ist, dass es mich gibt. Jeder Mensch scheint ein tiefes Bedürfnis in sich zu tragen, gesehen zu werden, liebevoll und respektvoll angeschaut zu werden. Der jüdische Philosoph Martin Buber sprach davon , dass jeder Mensch danach Ausschau halte, dass ihm das Ja des Seindürfens zugesprochen werde; das geschieht in der Regel zunächst über die liebenden und vertrauensstiftenden Blicke, welche Mutter und Vater dem Baby schenken; das kleine Menschenwesen erlebt Resonanz und fühlt sich in seinem eigenen Sein bestätigt.
Wichtige emotionale Botschaften werden über Blicke und Mimik transportiert, deren Ausbleiben für die Kinder fatale Folgen haben kann. (Im Moment laufen sogar Untersuchungen über die möglichen Auswirkungen auf Babys, wenn Mütter und Väter statt den Blickkontakt mit ihrem Baby zu suchen ihre Aufmerksamkeit auf ihr Smartphone richten.)
Übersehen-werden macht krank oder aggressiv
Wer nicht beachtet und übersehen
wird, erlebt eine tiefe Kränkung; manche reagieren dann
als Jugendliche oder im Erwachsenenleben depressiv und trauen sich nichts zu; andere reagieren gewalttätig,
indem sie ihre Wut im Außen abreagieren
Der australische Psychologe Marc Dadds fand in
Versuchsreihen mit schwer gestörten Jugendlichen,
die als brutal, kalt und gefühllos auffällig geworden waren, heraus, dass
jene erstmals in ihrem Leben Empathie entwickelten, nachdem die Eltern in
mehreren Sitzungen mit warmer Stimme sagten: „Ich hab dich lieb!“ und
ihnen dabei in die Augen schauten. Nach mehreren Monaten waren diese
Jugendlichen erstmals in der Lage Emotionen im Gesicht ihres Gegenübers zu
erkennen..(vgl. dazu auch die Bücher über Spiegelneuronen, z.B. von J. Bauer).
(vgl dazu: J. Röser, Das Gewissen der Augen, in CIG, Nr.50, 2012, S.564)
Es gibt auch Familienschicksale von Verfolgung , Vertreibung, Außenseitertum, in denen Menschen und Menschengruppen übersehen oder schief angeschaut wurden und die in den Folgegenerationen unbewußt weiterwirken .
Mauritius Wilde berichtet von einer jungen Frau mit
einer sehr schwierigen Kindheit und Jugend, in der sie sehr oft übersehen und
nicht beachtet wurde. Immer wenn sie heute an dieser frühen Wunde des Übersehenwerdens leidet, geht sie zu einem Freund,
der sie kurz anschaut. Schon ein kurzer Blick und Moment des Angeschaut-werdens
sei für sie sehr heilsam geworden. Aber sie musste sich zuvor dieses Bedürfnis eingestehen.(vgl.
Mauritius Wilde, Respekt, Die Kunst der gegenseitigen Wertschätzung,
Münsterschwarzach2009, 2. Aufl. 2010, S.23)
In unserer Gesellschaft, in der Aufmerksamkeit ein
hohes Gut geworden ist, werden diejenigen, die in diesem Spiel um Beachtung
nicht mitmischen können oder wollen, auch leicht übersehen.
„Augenblicke“ können niederdrücken oder aufbauen
Wie Menschen angeschaut werden, kann sie aufbauen oder
niederdrücken, lebendig machen oder zerstören. So fordern Philippe Pozzo die
Borgo, – nach einem Gleitschirmunfall querschnittgelähmt- und sein Pfleger
Abdel Sellou (deren Geschichte vielen durch die autobiografisch Verfilmung
„Ziemlich beste Freunde“ bekannt wurde) in mehreren Interviews: „Wir,
die kaputten Typen (..), wir wollen nicht euer Mitleid, sondern mit anderen
Augen angesehen werden, mit einem Blick, der uns als ganzen Menschen wahrnimmt.
Wir sehen uns nach einem Lächeln, einem Austausch, der uns stärkt, weil er uns
sagt, dass es uns gibt und dass wir wertvoll sind.“ (Di Borgo,
Jean Vanier, Cherisey Laurent, Ziemlich verletzlich, ziemlich stark-Wege zu
einer solidarischen Gesellschaft, München 2012, S.9)
Angeschaut-werden- eine religiöse Grundsehnsucht
Schau mich an!,
denn ich kann mich ja selbst nicht sehen. In dieser Bitte findet auch eine zutiefst religiöse Sehnsucht ihren Ausdruck; viele Psalmen (Gebete) der
Bibel sind ja vor circa 3000 Jahren entstanden als es noch keine Spiegel gab
und die Menschen sich selbst nur äußerst selten sehen konnten, höchstens in einer Pfütze oder in einem Teich. Deshalb
richteten sie ihre Sehnsucht beachtet zu werden, nach „oben“, auf Gott, der sie
wie eine Mutter im Blick hat, auf sie schaut und sie eben nicht übersieht.(Psalm
139, Psalm32…) Gerade in der Not und Einsamkeit wird dieses Bedürfnis angeschaut,
beachtet und begleitet zu werden auch heute bei Menschen wach.
Die Bedeutung des Sehens und Gesehen-werdens wurde
auch symbolisch in vielen Kirchen als Auge
Gottes zum Ausdruck gebracht. Doch leider assoziieren – gerade ältere
Menschen- im Laufe einer teils unrühmlichen Kirchengeschichte und Pastoral,
damit nur den „Buchhalter- und Überwachergott“, der alles sieht, beobachtet,
aufschreibt und mit entsprechenden Strafen belegt. Der tiefere Sinn wurde damit
natürlich gründlich verfehlt. Gemeint war es anders, nämlich so, dass
wir unter den Augen des liebevollen, göttlichen Betrachterszum Frieden in uns finden (so ähnlich
sagt es der mittelalterliche Mystiker Bernhard von Clairvaux)und uns darin geborgen wissen.
Authentische Religion führt zum Glauben, dass es einen Bereich gibt, in dem wir
immer schon als wertvoll gesehen und anerkannt sind: von Gott.
Anschauen statt übersehen- eine urchristliche Grundpraxis
Zu einer urchristlichen
Praxis gehört es, gerade Menschen zu beachten, die gerne übersehen werden.
Jesus hat immer wieder seinen Blick auf all jene gerichtet, die am Rande der
Gesellschaft keine Beachtung fanden. Dies kann uns durchaus als Modell dienen,
einander freundlich anzuschauen. So nimmt ein ehrlich gemeinter freundlicher
Blick auch die Scham in seinem Körper und seinen Lebensäußerungen ungenügend zu
sein oder komisch auf andere zu wirken. Ein freundlicher Blick kann jemand Ansehen
schenken, aus seinem Versteck locken, und das Vertrauen aufbauen, an sich
selbst zu glauben.
Fragen zu Nachdenken:
Von wem fühle ich mich gesehen und beachtet?
Von wem übersehen?
Welche Rolle spielt Beachtung in meinem Leben?
Wen sehe ich gerne?
Will ich gerne gesehen werden oder ist es mir unangenehm?