Vulnerabilität

Heilungsräume für den verletzbaren Menschen

Das Thema, das mich als christlich geprägter Seelsorger schon seit meiner Zeit als Klinikseelsorger vor über 20 Jahren bewegt, ist der zerbrechliche, verletzbare, auch traumatisierte Mensch, im Kontrast zum starken und unverwundbaren (auch medial vermittelten) „Helden“, der niemanden braucht und auf der Siegerstraße unterwegs ist. Nicht der, der ganz „oben“ ist, sondern der, der ganz „unten“ ist; der, der am Boden liegt, -verachtet, übersehen, ungeliebt-, weckt vor allem mein Interesse, weil ich glaube, dass das Christentum vorallem eine Religion ist für Menschen, die einen tiefen Riss erlebt haben und  diese Menschen sich für G´tt (eine tiefere Ebene des Lebens) leichter öffnen können als jene, die sich selbst genügen.

Wir haben gerade in den letzten Jahren erfahren müssen, wie angreifbar der Mensch ist: Corona, Erdbeben, Migrant*innen, die im Meer ertrinken, Hunger und Obdachlosigkeit oder ein Krieg, der uns ganz nahegekommen ist. Aber auch Mutter Erde und das zwischenmenschliche Zusammenleben können uns Sorgen machen.

Wir können auch auf den individuellen und persönlichen Bereich schauen, auf die Belastungen und Krisen unseres eigenen Lebens: Krankheiten, Behinderung, frühe seelische Verletzungen, Traumata, Ausgeschlossensein, an den Rand gedrängt werden, Scheitern und Niederlagen im Beruf, zerbrochene Partnerschaften, nicht erfahrene Vergebung für Schuld, die uns drückt, Schwächen, Verrat….; alles Erfahrungen von Grenzen, die unsere Pläne durcheinandergebracht haben und unsere bisherigen Vorstellungen vom Leben zerbrochen haben.  

Wir Menschen brauchen Heilungsräume, an denen Wunden heilen können, und sichere Orte, an denen wir Geborgenheit erleben und zu einer neuen Ganzheit zusammengefügt werden.

In der Not und Krise brauchen wir vorallem Menschen, die uns schützen annehmen, unterstützen und Halt geben. In der Krise und erlebten Dunkelheit sind solche Menschen ein Licht, um Orientierung finden in der Verwirrung der Krise oder um aus einer möglichen Sackgasse des Lebens wieder herauszufinden.

Eine „Spiritualität von unten“ sagt, dass wir gerade dann, wenn unser Ego mit seinen Kontrollwünschen am Ende ist, sich ungeahnte Horizonte eröffnen und Lichtaugenblicke, das eigene Leben aus einer neuen Perspektive erkennen lassen, vorausgesetzt, dass wir an Wandlung glauben und uns nicht resigniert verschließen. Zuvor befinden wir uns meist in einem „Schwellenraum“, in dem das „Alte“ nicht mehr gilt (und die alten Muster und Lösungsstrategien uns nicht mehr weiterhelfen), aber das „Neue“ noch nicht aufgetaucht ist. Grenzen des Lebens können so durchwachsen werden, Risse können zu Öffnungen werden. Leonhard Cohen singt im Lied Anthem: „Es ist ein Riss in allen Dingen, aber genauso kommt das Licht hinein.“

In der Not und Krise brauchen wir auch Orte, die uns guttun und an denen wir Geborgenheit erfahren oder neue Kraft schöpfen können. „Kraftorte“, die Kinder oft intuitiv finden, wenn sie sich unsicher oder verängstigt fühlen.

Und nicht zu unterschätzen ist in der Krise der Glaube an G´tt, (ein Gottesname lautet: Ich bin der „Ich -bin -da“), der uns nicht im Stich lässt in unserer Not und von dem wir uns umfänglich angenommen fühlen, angesichts aller erfahrenen Ablehnung von anderen und einem damit einhergehenden Verlust des Selbstwertes und der Scham, in den Augen der anderen nicht zu genügen.

Der Traumatherapeut und Weisheitslehrer James Finley sagt, dass die unendliche Barmherzigkeit G`ttes unaufhörlich zu den gebrochenen Stellen unseres Lebens fließt. Nichts anderes als diese unbedingte Liebe, hat die Autorität zu sagen, wer wir sind.

Impuls:

Gibt es in meinem Leben Erfahrungen, wo mitten im „Riss“ (Scheitern, Verlust, Niederlagen…) neue Hoffnung und Aussicht aufgetaucht ist?

Welche Menschen haben mich in der Krise unterstützt?

Gibt es Lieblingsplätze/Kraftorte, an denen ich in der Krise,  Zuflucht finde oder Lebensenergie auftanken kann?

Schau mich an! – Vom Sehen und Gesehen-werden

Angeschaut werden – ein menschliches Grundbedürfnis

Regarde moi – Schau mich an!, heißt es in einem Lied des Rappers Lomepal. Die Augen des anderen sind der Spiegel, der mir sagt, dass es mich gibt und dass es gut ist, dass es mich gibt. Jeder Mensch scheint ein tiefes Bedürfnis in sich zu tragen, gesehen zu werden, liebevoll und respektvoll angeschaut zu werden. Der jüdische Philosoph Martin Buber sprach davon , dass jeder Mensch danach Ausschau halte, dass ihm das Ja des Seindürfens zugesprochen werde; das geschieht in der Regel zunächst über die liebenden und vertrauensstiftenden Blicke, welche Mutter und Vater dem Baby schenken; das kleine Menschenwesen erlebt Resonanz und fühlt sich in seinem eigenen Sein bestätigt.

Wichtige emotionale Botschaften werden über Blicke und Mimik transportiert, deren Ausbleiben für die Kinder fatale Folgen haben kann. (Im Moment laufen sogar Untersuchungen über die möglichen Auswirkungen auf Babys, wenn Mütter und Väter statt den Blickkontakt mit ihrem Baby zu suchen ihre Aufmerksamkeit auf ihr Smartphone richten.)

Übersehen-werden macht krank oder aggressiv

Wer nicht beachtet und übersehen wird, erlebt eine tiefe Kränkung; manche reagieren dann als Jugendliche oder im Erwachsenenleben depressiv  und trauen sich nichts zu; andere reagieren gewalttätig, indem sie ihre Wut im Außen abreagieren

Der australische Psychologe Marc Dadds fand in Versuchsreihen mit schwer gestörten Jugendlichen, die als brutal, kalt und gefühllos auffällig geworden waren, heraus, dass jene erstmals in ihrem Leben Empathie entwickelten, nachdem  die Eltern in mehreren Sitzungen mit warmer Stimme sagten: „Ich hab dich lieb!“ und ihnen dabei in die Augen schauten. Nach mehreren Monaten waren diese Jugendlichen erstmals in der Lage Emotionen im Gesicht ihres Gegenübers zu erkennen..(vgl. dazu auch die Bücher über Spiegelneuronen, z.B. von J. Bauer). (vgl dazu: J. Röser, Das Gewissen der Augen, in CIG, Nr.50, 2012, S.564)

Es gibt auch Familienschicksale von Verfolgung , Vertreibung, Außenseitertum, in denen Menschen und Menschengruppen übersehen oder schief angeschaut wurden und die in den Folgegenerationen unbewußt weiterwirken .

Mauritius Wilde berichtet von einer jungen Frau mit einer sehr schwierigen Kindheit und Jugend, in der sie sehr oft übersehen und nicht beachtet wurde. Immer wenn sie heute an dieser frühen Wunde des Übersehenwerdens leidet, geht sie zu einem Freund, der sie kurz anschaut. Schon ein kurzer Blick und Moment des Angeschaut-werdens sei für sie sehr heilsam geworden. Aber sie musste sich zuvor dieses Bedürfnis eingestehen.(vgl. Mauritius Wilde, Respekt, Die Kunst der gegenseitigen Wertschätzung, Münsterschwarzach2009, 2. Aufl. 2010, S.23)

In unserer Gesellschaft, in der Aufmerksamkeit ein hohes Gut geworden ist, werden diejenigen, die in diesem Spiel um Beachtung nicht mitmischen können oder wollen, auch leicht übersehen.

„Augenblicke“ können niederdrücken oder aufbauen

Wie Menschen angeschaut werden, kann sie aufbauen oder niederdrücken, lebendig machen oder zerstören. So fordern Philippe Pozzo die Borgo, – nach einem Gleitschirmunfall querschnittgelähmt- und sein Pfleger Abdel Sellou (deren Geschichte vielen durch die autobiografisch Verfilmung „Ziemlich beste Freunde“ bekannt wurde) in mehreren Interviews: „Wir, die kaputten Typen (..), wir wollen nicht euer Mitleid, sondern mit anderen Augen angesehen werden, mit einem Blick, der uns als ganzen Menschen wahrnimmt. Wir sehen uns nach einem Lächeln, einem Austausch, der uns stärkt, weil er uns sagt, dass es uns gibt und dass wir wertvoll sind.“ (Di Borgo, Jean Vanier, Cherisey Laurent, Ziemlich verletzlich, ziemlich stark-Wege zu einer solidarischen Gesellschaft, München 2012, S.9)

Schauen mit offenem Herzen, Aquarell

Angeschaut-werden- eine religiöse Grundsehnsucht

Schau mich an!, denn ich kann mich ja selbst nicht sehen. In dieser Bitte  findet auch eine zutiefst religiöse Sehnsucht ihren Ausdruck; viele Psalmen (Gebete) der Bibel sind ja vor circa 3000 Jahren entstanden als es noch keine Spiegel gab und die Menschen sich selbst nur äußerst selten sehen konnten, höchstens  in einer Pfütze oder in einem Teich. Deshalb richteten sie ihre Sehnsucht beachtet zu werden, nach „oben“, auf Gott, der sie wie eine Mutter im Blick hat, auf sie schaut und sie eben nicht übersieht.(Psalm 139, Psalm32…) Gerade in der Not und Einsamkeit wird dieses Bedürfnis angeschaut, beachtet und begleitet zu werden auch heute bei Menschen wach.

Die Bedeutung des Sehens und Gesehen-werdens wurde auch symbolisch in vielen Kirchen als Auge Gottes zum Ausdruck gebracht. Doch leider assoziieren – gerade ältere Menschen- im Laufe einer teils unrühmlichen Kirchengeschichte und Pastoral, damit nur den „Buchhalter- und Überwachergott“, der alles sieht, beobachtet, aufschreibt und mit entsprechenden Strafen belegt. Der tiefere Sinn wurde damit natürlich gründlich verfehlt. Gemeint war es anders, nämlich so, dass wir unter den Augen des liebevollen, göttlichen Betrachters zum Frieden in uns finden (so ähnlich sagt es der mittelalterliche Mystiker Bernhard von Clairvaux)und uns darin geborgen wissen. Authentische Religion führt zum Glauben, dass es einen Bereich gibt, in dem wir immer schon als wertvoll gesehen und anerkannt sind: von Gott.

Anschauen statt übersehen- eine urchristliche Grundpraxis

Zu einer urchristlichen Praxis gehört es, gerade Menschen zu beachten, die gerne übersehen werden. Jesus hat immer wieder seinen Blick auf all jene gerichtet, die am Rande der Gesellschaft keine Beachtung fanden. Dies kann uns durchaus als Modell dienen, einander freundlich anzuschauen. So nimmt ein ehrlich gemeinter freundlicher Blick auch die Scham in seinem Körper und seinen Lebensäußerungen ungenügend zu sein oder komisch auf andere zu wirken. Ein freundlicher Blick kann jemand Ansehen schenken, aus seinem Versteck locken, und das Vertrauen aufbauen, an sich selbst zu glauben.

Fragen zu Nachdenken:

Von wem fühle ich mich gesehen und beachtet?

Von wem übersehen?

Welche Rolle spielt Beachtung in meinem Leben?

Wen sehe ich gerne?

Will ich gerne gesehen werden oder ist es mir unangenehm?