Schau mich an! – Vom Sehen und Gesehen-werden

Angeschaut werden – ein menschliches Grundbedürfnis

Regarde moi – Schau mich an!, heißt es in einem Lied des Rappers Lomepal. Die Augen des anderen sind der Spiegel, der mir sagt, dass es mich gibt und dass es gut ist, dass es mich gibt. Jeder Mensch scheint ein tiefes Bedürfnis in sich zu tragen, gesehen zu werden, liebevoll und respektvoll angeschaut zu werden. Der jüdische Philosoph Martin Buber sprach davon , dass jeder Mensch danach Ausschau halte, dass ihm das Ja des Seindürfens zugesprochen werde; das geschieht in der Regel zunächst über die liebenden und vertrauensstiftenden Blicke, welche Mutter und Vater dem Baby schenken; das kleine Menschenwesen erlebt Resonanz und fühlt sich in seinem eigenen Sein bestätigt.

Wichtige emotionale Botschaften werden über Blicke und Mimik transportiert, deren Ausbleiben für die Kinder fatale Folgen haben kann. (Im Moment laufen sogar Untersuchungen über die möglichen Auswirkungen auf Babys, wenn Mütter und Väter statt den Blickkontakt mit ihrem Baby zu suchen ihre Aufmerksamkeit auf ihr Smartphone richten.)

Übersehen-werden macht krank oder aggressiv

Wer nicht beachtet und übersehen wird, erlebt eine tiefe Kränkung; manche reagieren dann als Jugendliche oder im Erwachsenenleben depressiv  und trauen sich nichts zu; andere reagieren gewalttätig, indem sie ihre Wut im Außen abreagieren

Der australische Psychologe Marc Dadds fand in Versuchsreihen mit schwer gestörten Jugendlichen, die als brutal, kalt und gefühllos auffällig geworden waren, heraus, dass jene erstmals in ihrem Leben Empathie entwickelten, nachdem  die Eltern in mehreren Sitzungen mit warmer Stimme sagten: „Ich hab dich lieb!“ und ihnen dabei in die Augen schauten. Nach mehreren Monaten waren diese Jugendlichen erstmals in der Lage Emotionen im Gesicht ihres Gegenübers zu erkennen..(vgl. dazu auch die Bücher über Spiegelneuronen, z.B. von J. Bauer). (vgl dazu: J. Röser, Das Gewissen der Augen, in CIG, Nr.50, 2012, S.564)

Es gibt auch Familienschicksale von Verfolgung , Vertreibung, Außenseitertum, in denen Menschen und Menschengruppen übersehen oder schief angeschaut wurden und die in den Folgegenerationen unbewußt weiterwirken .

Mauritius Wilde berichtet von einer jungen Frau mit einer sehr schwierigen Kindheit und Jugend, in der sie sehr oft übersehen und nicht beachtet wurde. Immer wenn sie heute an dieser frühen Wunde des Übersehenwerdens leidet, geht sie zu einem Freund, der sie kurz anschaut. Schon ein kurzer Blick und Moment des Angeschaut-werdens sei für sie sehr heilsam geworden. Aber sie musste sich zuvor dieses Bedürfnis eingestehen.(vgl. Mauritius Wilde, Respekt, Die Kunst der gegenseitigen Wertschätzung, Münsterschwarzach2009, 2. Aufl. 2010, S.23)

In unserer Gesellschaft, in der Aufmerksamkeit ein hohes Gut geworden ist, werden diejenigen, die in diesem Spiel um Beachtung nicht mitmischen können oder wollen, auch leicht übersehen.

„Augenblicke“ können niederdrücken oder aufbauen

Wie Menschen angeschaut werden, kann sie aufbauen oder niederdrücken, lebendig machen oder zerstören. So fordern Philippe Pozzo die Borgo, – nach einem Gleitschirmunfall querschnittgelähmt- und sein Pfleger Abdel Sellou (deren Geschichte vielen durch die autobiografisch Verfilmung „Ziemlich beste Freunde“ bekannt wurde) in mehreren Interviews: „Wir, die kaputten Typen (..), wir wollen nicht euer Mitleid, sondern mit anderen Augen angesehen werden, mit einem Blick, der uns als ganzen Menschen wahrnimmt. Wir sehen uns nach einem Lächeln, einem Austausch, der uns stärkt, weil er uns sagt, dass es uns gibt und dass wir wertvoll sind.“ (Di Borgo, Jean Vanier, Cherisey Laurent, Ziemlich verletzlich, ziemlich stark-Wege zu einer solidarischen Gesellschaft, München 2012, S.9)

Schauen mit offenem Herzen, Aquarell

Angeschaut-werden- eine religiöse Grundsehnsucht

Schau mich an!, denn ich kann mich ja selbst nicht sehen. In dieser Bitte  findet auch eine zutiefst religiöse Sehnsucht ihren Ausdruck; viele Psalmen (Gebete) der Bibel sind ja vor circa 3000 Jahren entstanden als es noch keine Spiegel gab und die Menschen sich selbst nur äußerst selten sehen konnten, höchstens  in einer Pfütze oder in einem Teich. Deshalb richteten sie ihre Sehnsucht beachtet zu werden, nach „oben“, auf Gott, der sie wie eine Mutter im Blick hat, auf sie schaut und sie eben nicht übersieht.(Psalm 139, Psalm32…) Gerade in der Not und Einsamkeit wird dieses Bedürfnis angeschaut, beachtet und begleitet zu werden auch heute bei Menschen wach.

Die Bedeutung des Sehens und Gesehen-werdens wurde auch symbolisch in vielen Kirchen als Auge Gottes zum Ausdruck gebracht. Doch leider assoziieren – gerade ältere Menschen- im Laufe einer teils unrühmlichen Kirchengeschichte und Pastoral, damit nur den „Buchhalter- und Überwachergott“, der alles sieht, beobachtet, aufschreibt und mit entsprechenden Strafen belegt. Der tiefere Sinn wurde damit natürlich gründlich verfehlt. Gemeint war es anders, nämlich so, dass wir unter den Augen des liebevollen, göttlichen Betrachters zum Frieden in uns finden (so ähnlich sagt es der mittelalterliche Mystiker Bernhard von Clairvaux)und uns darin geborgen wissen. Authentische Religion führt zum Glauben, dass es einen Bereich gibt, in dem wir immer schon als wertvoll gesehen und anerkannt sind: von Gott.

Anschauen statt übersehen- eine urchristliche Grundpraxis

Zu einer urchristlichen Praxis gehört es, gerade Menschen zu beachten, die gerne übersehen werden. Jesus hat immer wieder seinen Blick auf all jene gerichtet, die am Rande der Gesellschaft keine Beachtung fanden. Dies kann uns durchaus als Modell dienen, einander freundlich anzuschauen. So nimmt ein ehrlich gemeinter freundlicher Blick auch die Scham in seinem Körper und seinen Lebensäußerungen ungenügend zu sein oder komisch auf andere zu wirken. Ein freundlicher Blick kann jemand Ansehen schenken, aus seinem Versteck locken, und das Vertrauen aufbauen, an sich selbst zu glauben.

Fragen zu Nachdenken:

Von wem fühle ich mich gesehen und beachtet?

Von wem übersehen?

Welche Rolle spielt Beachtung in meinem Leben?

Wen sehe ich gerne?

Will ich gerne gesehen werden oder ist es mir unangenehm?

Vom Sehen und Ansehen

Ansehen schenken- Ansehen bekommen

Der jüdische Philosoph Martin Buber (1878-1965) sprach davon, dass jeder Mensch danach „Ausschau“ halte, dass ihm das Ja des Seindürfens zugesprochen werde. Jeder Mensch scheint eine tiefe Sehnsucht in sich zu tragen, liebevoll und respektvoll angeschaut zu werden.

Mauritius Wilde berichtet von einer jungen Frau mit einer sehr schwierigen Kindheit und Jugend, in der sie sehr oft übersehen und nicht beachtet wurde. Immer wenn sie heute an dieser frühen Wunde des Übersehenwerdens leidet, geht sie zu einem Freund, der sie kurz anschaut. Schon ein kurzer Blick und Moment des Angeschaut-werdens sei für sie sehr heilsam geworden. Aber sie musste sich zuvor dieses Bedürfnis erst eingestehen.(vgl. Mauritius Wilde, Respekt, Die Kunst der gegenseitigen Wertschätzung, Münsterschwarzach2009, 2. Aufl. 2010, S.23)

Der australische Psychologe Marc Dadds fand in Versuchsreihen mit schwer gestörten Jugendlichen, die als brutal, kalt und gefühllos auffällig geworden waren, heraus, dass jene erstmals in ihrem Leben Empathie entwickelten, nachdem  die Eltern in mehreren Sitzungen mit warmer Stimme sagten: „Ich hab dich lieb!“ und ihnen dabei in die Augen schauten. Nach mehreren Monaten waren diese Jugendlichen erstmals in der Lage Emotionen im Gesicht ihres Gegenübers zu erkennen. Die Schulung der Augen regt anscheinend das Mitgefühl an, indem sie das Individuum befähigen, im Anschauen des anderen Individuums, sich in jenes hinein zu versetzen.(vgl. dazu auch die Bücher über Spiegelneuronen, z.B. von J. Bauer) Wichtige emotionale Botschaften werden über Blicke und Mimik transportiert, deren Ausbleiben für die Kinder fatale Folgen haben kann. (vgl dazu: J. Röser, Das Gewissen der Augen, in CIG, Nr.50, 2012, S.564)

Wie Menschen angeschaut werden, kann sie aufbauen oder niederdrücken, lebendig machen oder zerstören. So fordern Philippe Pozzo die Borgo, – nach einem Gleitschirmunfall querschnittgelähmt- und sein Pfleger Abdel Sellou (deren Geschichte vielen durch die autobiografisch Verfilmung „Ziemlich beste Freunde“ bekannt wurde) in mehreren Interviews: „Wir, die kaputten Typen (..), wir wollen nicht euer Mitleid, sondern mit anderen Augen angesehen werden, mit einem Blick, der uns als ganzen Menschen wahrnimmt. Wir sehen uns nach einem Lächeln, einem Austausch, der uns stärkt, weil er uns sagt, dass es uns gibt und dass wir wertvoll sind.“ (Di Borgo, Jean Vanier, Cherisey Laurent, Ziemlich verletzlich, ziemlich stark-Wege zu einer solidarischen Gesellschaft, München 2012, S.9)

Nicht umsonst hat Sehen auch mit Ansehen zu tun, das geschenkt oder verweigert werden kann. Viele Geschichten im Evangelium erinnern daran, dass Jesus die Kunst des heilsamen Anschauens beherrscht hat, in dem er Menschen vorurteilsfrei und jenseits religiöser oder kultureller Grenzen Ansehen und Respekt schenkte. Man denke nur an die Geschichte des als römischer Kollaborateur verachteten Zöllners Zachäus, der durch den Blick Jesu fähig wurde, sein habgieriges Leben zu verwandeln.

Die Bedeutung des Sehens und Gesehen-werdens wurde auch symbolisch in vielen Kirchen als Auge Gottes zum Ausdruck gebracht. Doch leider assoziieren – gerade ältere Menschen- im Laufe einer teils unrühmlichen Kirchengeschichte und Pastoral, damit nur den Buchhalter- und Überwachergott, der alles sieht, beobachtet, aufschreibt und mit entsprechenden Bußstrafen belegt. Der tiefere Sinn wurde damit natürlich gründlich verfehlt. Gemeint war es anders, nämlich so, dass wir unter den Augen des liebevollen, göttlichen Betrachters (so ähnlich sagt es der Mystiker Bernhard von Clairvaux) zum Frieden in uns finden und uns darin geborgen wissen.

Der Schriftsteller Peter Handke bestätigt das, wenn er schreibt: „Wenn wir uns gegenwärtig machen, dass Gott uns umfassend anschaut, wären wir alle total besänftigt.“  Und Botho Strauß,  den man gewiss nicht als missionarischen  Glaubenverfechter verdächtigen kann, meint dazu: „Das Vertrauen in ein umfassendes Gesehenwerden gründet in der Einheit Gottes. Ohne diese Gewissheit, Erkannte zu sein, hielten wir uns keine Sekunde aufrecht.“ (Zitate nach einem Referat von Prof. Georg Langenhorst).

Ob gläubig oder nicht, könnten uns diese unterschiedlichen und doch verbindenden Einsichten zur Bedeutung des Sehens und Angeschautwerdens dazu anregen, eine entsprechende Praxis in unserem jeweiligen Arbeitsbereich zu entwickeln. Wir könnten uns dabei bemühen, – und viele in unserem Haus tun das aus einem natürlichen Gespür heraus sowieso schon-, einander Ansehen zu schenken. Das lateinische Wort für Respekt „ respicere“ hat nicht umsonst mit sehen und (noch einmal hinschauen) zu tun; dazu an andere Stelle mehr.

Gustav Schädlich-Buter