Narben der Seele

Viele von uns tragen Narben an ihrem Körper…Narben sind sichtbare Zeichen von einer Wunde, meist von einem schmerzhaften Ereignis im Leben; sie erzählen von einem Sturz, einem Unfall, einer Operation oder einer Kriegsverletzung… Narben erinnern uns an etwas in der Vergangenheit Geschehenes, und erzählen uns meist eine Geschichte, wenn wir ihnen Beachtung schenken.  Die Narben haben die einstmals offene Wunde verschlossen, ein schützendes Gewebe gebildet, den Riss auf der Haut, in den Muskeln… verschlossen, so dass die offene Wunde nicht mehr blutet.

Aber es gibt auch die unsichtbaren Wunden der Seele, – Enttäuschungen, Untreue, Verrat, entbehrte Liebe, Nicht-Beachtung, Schuldgefühle, Ablehnung Scheitern im Beruf, Verlassenheitsgefühle, missbrauchtes Vertrauen, Scham, zu existieren, Verluste von Beziehungspersonen, …-, die manchmal unerkannt, und vom Bewusstsein verdrängt in uns schlummern und gerade dadurch unser Leben und Lebensgefühl tiefgreifend beeinflussen und steuern.

Nicht bearbeitete oder allzu leicht vergebene Kränkungen in Beziehungen zum Beispiel können eitern und unser Inneres vergiften, womit verhindert wird, dass die Wunden wirklich zuheilen und vernarben können. Dann ist es wichtig, die Wunde noch einmal anzuschauen, so als ob man einen schlechten Verband öffnet, um Luft ranzulassen, damit die mit einer Kränkung verbundenen Gefühle wahrgenommen werden können, und Vergebung möglich wird, damit der erlebte Riss vernarben kann.

Unter unseren Narben, liegt manchmal noch Unbewältigtes und noch nicht wirklich Verarbeitetes, was ans Licht drängt. In unserer Zeit aber, in der wir viel Wert auf Schein und auf eine makellose Fassade legen, verbergen wir unsere Wunden lieber und setzen auf vorweisbare Stärken. Der Künstler Joseph Beuys hat einmal in seiner Kunstinstallation „Zeige deine Wunde“ mitten in München, unseren Blick dahingelenkt, wo es wehtut, kränkend oder beschämend ist, sicher auch um auf die Zerbrechlichkeit und Endlichkeit der menschlichen Existenz hinzuweisen.

„Es ist ein Riss in allen Dingen, aber genauso kommt das Licht hinein… “ (There is a crack in everywhere, that`s how the light gets in), singt der Rockpoet Leonhard Cohen in seinem Lied Anthem.  Soll aber angesichts des „Risses“ Licht einfallen und wirkliche Heilung geschehen, muss die Wunde wahrgenommen und die damit verbundene Situation der Kränkung oder des Mangels an erfahrener Liebe und Zuwendung betrauert werden. Dann kann die Bruchstelle zum Einfallstor für neues Leben werden und einen heilenden Neuanfang ermöglichen.

Ein Kollege erzählte mir von seinem Vater, der ihn als jungen Mann nie wirklich anerkannt und wertgeschätzt hatte. Immer wenn er ähnliche Demütigungen und Kränkungen später erlebte, fühlte es sich für ihn so an, als ob sein Herz blutet. Erst als er aufhörte, seinem Vater Vorwürfe zu machen, er dessen Lebensschicksal besser verstand, und ihm für den Mangel an geschenkter Liebe mit viel Tränen vergeben konnte, heilte seine Herzwunde; die Narbe, die zurückblieb, war für ihn Erinnerung, in seinem Leben und seiner Arbeit, besonders jungen Menschen Wertschätzung und Anerkennung zu schenken.  Auf diese Weise vernarben Wunden nicht nur, sondern verwandeln sich in Perlen, die anderen Leben schenken.

Er ist zum „Verwundete Heiler“ geworden, die ihre Lebenswunde transformiert haben und dadurch zum Segen für andere geworden sind. Nelson Mandela, um noch ein Beispiel zu nennen, hat nach fast drei Jahrzehnten demütigender Haft aufgrund seines Widerstandes gegen die Apartheit in seiner Heimat, vergeben können und wesentlich zur Versöhnung zwischen Schwarzen und Weißen und zu einem gleichheitsorientierten demokratischen Staatswesen in Südafrika beigetragen.

Die Narben an unserem Körper, aber auch in unserer Seele gehören zu unserer Lebensgeschichte, zu unserem Schicksal, und brauchen manchmal neu unsere Aufmerksamkeit, machen uns fähig zur Empathie für Andere, die ähnliche Wunden an Leib und Seele tragen. 

Impuls zum Nachdenken:

Welche Narben gehören zu mir und welche Geschichte erzählen sie?

Wie heißen die Wunden meines Lebens?

Gustav Schädlich-Buter

Vergeben und verzeihen

„Sorry sems to  be the hardest word“ (Verzeihung scheint das schwierigste Wort zu sein), sang einst Elton John( Elton John – Sorry Seems To Be The Hardest Word – Bing video).

Der Liedtext spricht Wahres: sowohl eigenes Versagen und Schuld einzugestehen und um Verzeihung zu bitten als auch jemanden, der einen verletzt hat, Verzeihung zu schenken und Vergebung zu gewähren, kann schwer sein. Von Herzen zu verzeihen, kann uns ungeheuer viel kosten.

Wir kommen wohl nicht durchs Leben ohne Kränkungen zu erleiden oder andere zu verletzen. Es scheint nahezu keinen Lebensbereich zu geben, in dem wir nicht durch andere verletzt werden oder andere verletzen: zum Beispiel in Freundschafts- und Liebesbeziehungen, wenn mein Partner oder meine Partnerin mein Vertrauen missbraucht, mich hintergeht, fremdgeht oder Anvertrautes weitergibt. Gerade in engen Beziehungen trifft der Missbrauch von Vertrauen besonders schmerzlich. Aber auch im beruflichen Kontext können wir verletzt und gekränkt werden, durch Mobbing, unfaire Kritik, Sexismus…oder durch ungerechte Strukturen wie zum Beispiel bei Entscheidungsprozesse in einer Firma, die eine Beteiligung und Mitsprache ausschließen. Die tiefsten und dem Bewusstsein oft am wenigsten zugänglichen Verletzungen und Kränkungen stammen meist aus der Kindheit, wenn ich in meiner Einmaligkeit und Besonderheit- manche sprechen auch vom „spirituellen Selbst“- nicht anerkannt und gesehen worden bin. Solche Wunden durch abwesende, desinteressierte oder kaltherzige Eltern reichen oft sehr tief und werden nicht selten, weil besonders schmerzhaft, wie unter einer Betonschicht verborgen gehalten. Schwerwiegende Verletzungen, die nicht angeschaut werden, führen oft zu einem Schattenregiment, das sich in Depressionen, Müdigkeit oder psychosomatischen Beschwerden bemerkbar macht.

Kränkung kommt vom Wort „krenken“, was soviel wie „schwächen, erniedrigen, mindern, zunichtemachen“ bedeutet. Durch erlittene Kränkungen schwächt oder verliert der Mensch seinen Selbstwert, wird unsicher und zweifelt an sich selbst. Unser seelischer Innenraum wird durch Kränkungen verletzt, wobei die Anfälligkeit für solche Kränkungen individuell sehr verschieden sein kann, und mit dem Selbstbild sowie der eigenen Biografie zusammenhängen. Durch Verletzungen und Kränkungen, die nicht vergeben worden sind, entstehen Verbitterung, Scham, Hass und Rachegefühle, die uns oft im Griff haben und uns unversöhnlich machen. Zudem wird die eigene Vergebensbereitschaft oft dadurch behindert, dass Vergebung als Schwäche interpretiert werden kann, während rächende Vergeltung mit Stärke identifiziert wird. Doch durch Unversöhnlichkeit werde ich an den Täter gefesselt, werde dadurch unfrei und bin Gefühlen wie Hass und Bitterkeit ausgeliefert. Wer seine Wunden nicht anschaut und zur Vergebung bereit ist, baut einen Staudamm gegenüber dem Fluss des Lebens und der Lebendigkeit.

Ein Kämpfer gegen die Apartheid in Südafrika, Bischof Desmond Tutu, der viele Jahre zu Unrecht inhaftiert war, sagte einmal: „Wenn ich von Vergebung spreche, dann meine ich den Glauben, dass man auf der anderen Seite als besserer Mensch herauskommt, ein besserer als der, der von Hass und Groll verzehrt wurde…Wenn man in seinem Inneren Vergebung findet, dann ist man nicht mehr an den Täter gefesselt. Man kann sich weiterentwickeln- und man kann dazu beiztragen, dass auch der Täter ein besserer Mensch wird.“

Vergebung zwischen Völkern nach kriegerischen Auseinandersetzungen sind besonders  schmerzhaft und dauern lange, falls sie überhaupt gelingen. 

Durch Vergebung kann Heilung der erlittenen Wunde entstehen, auch wenn sie nicht in allen Situationen angezeigt ist wie z.B.  bei Trauma, Gewalterfahrungen oder Mißbrauch.

Echte Vergebung geht immer mit einem längeren Prozess einher. Verschiedene spirituell geprägte Autoren wie Melanie Wolfers oder Anselm Grün beschreiben den Verlauf solcher Prozesse, wobei sich alle einig sind, dass auftauchende  Gefühle nicht übersprungen oder kleingeredet werden dürfen. (vergleiche dazu ausführlicher: im Laufwerk: L/ Übergreifend /Seelsorge/ Vergebung). Schnell zugepflasterte Kränkungen können eitern und zu Vergiftungen führen. Oberflächliche Vergebung heilt keine Wunden.

Durchgearbeitete Verletzungen und Kränkungen, die nicht selten mit Wut und Trauer verbunden sind, können zu einer Vergebung führen, die verletzte Gemeinschaft wieder heilt und einen Neuanfang ermöglicht. Vergebung setzt jedoch voraus, das begangene Schuld und das entstandene Unrecht auch benannt wird. Wir können uns um Vergebung bemühen, doch dass sie von Herzen geschieht,  ist immer auch Geschenk und Gnade.

Auch der christliche Glaube weiß um die therapeutische Wirkung der Vergebung und um die Wichtigkeit des Aussprechens begangener Schuld. Viele Gleichnisse Jesu drehen sich direkt oder indirekt um das Thema Vergebung (vgl Lk 15, 11-32,  Mt 18, 23-35 …) und Jesus selbst bittet am Kreuz für seine Folterknechte:  „Vater, vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun“ (Lk 23,34), womit er den Kreislauf von Hass und Gegengewalt durchbricht. In der christlichen Liturgie kommt die Bitte um Vergebung vielfach vor wie im Vaterunser Gebet oder beim Friedensgruß, und erinnert daran, dass wir Menschen immer auf Vergebung angewiesen sind und vor der Herausforderung stehen, sich selbst und anderen, zu vergeben (Vgl. auch Mt 18,21-22, Mt 6, 14-15) auch angesichts der gegenwärtigen gesellschaftlichen Spaltungen und Feindseligkeiten.

Literatur zum Nachlesen:

Melanie Wolfers, Die Kraft des Vergebens, Wie wir Kränkungen überwinden und neu lebendig werden, Herder Verlag, Freiburg im Breisgau

Anselm Grün, Vergib dir selbst, Münsterschwarzach 2010

Anselm Grün, Zeit für Versöhnung, Spaltung überwinden, Begegnung wagen, erschienen im Herder Verlag, Freiburg im Breisgau 2023

Gustav Schädlich- Buter

Hoffnung beleben

„…Wer könnte atmen/ ohne Hoffnung/dass auch in Zukunft/Rosen sich öffnen…//heißt es in einem Gedicht von  jüdischen Lyrikerin Rose Ausländer (1901-1988), welche den Todestransporte der deutschen Wehrmacht nur knapp entkam. Nur die Hoffnung lässt Rose Ausländer leben und überleben, gibt ihr die Kraft am Leben nicht zu verzweifeln. Hoffnung gehört zu den Lebensgrundlagen des Menschseins wie die Atemluft. „Wer könnte atmen/ohne Hoffnung“, sagt die Dichterin auch. Schon ein lateinisches Sprichwort sagt: „Dum spiro, spero“- solange ich lebe, hoffe ich. Hoffnung ist eine Kraft in uns, die sich stärker erweisen kann als Angst, Verzweiflung, Trauer, Müdigkeit und Resignation.

„Wer hofft, ist jung.“, heißt es in dem Gedicht auch.  Wer hofft, ist auf eine Zukunft ausgerichtet. Hoffnung ist eine gespannte Erwartung auf die Zukunft. Kinder und junge Menschen stecken noch voller Hoffnungen und Erwartungen ans Leben; sie erwarten gespannt auf das, was kommt.

Die Kraft der Hoffnung und damit die Lust am Leben wächst, wenn wir mit offenen Augen durch die Welt gehen: die Rosen im Garten, die sich öffnen, die zwitschernden Amseln am frühen Morgen, der freundlicher Gruß der Kollegin und vieles andere, was das Herz weckt die Hoffnung, dass das Leben doch gut ist. So können alle durch unser Verhalten, durch unsere Freundlichkeit an der Hoffnung dieser Welt mitwirken.

Wer keine Hoffnung mehr hat, der ist am Ende, der fühlt sich alt, verbraucht und leer. Hoffende Menschen dagegen bleiben, auch wenn sie alt werden, jung, weil sie das Lebenselexier Hoffnung in sich tragen. Die Kraft zu hoffen, muss aber geübt werden, so der Philosoph Ernst Bloch; sie verlangt Disziplin, auf eine Zukunft zu setzen, auch wenn vieles dagegenspricht und arbeitet. Wer sich für eine gerechtere und friedlichere Welt einsetzen will, braucht einen langen Atem der Hoffnung. Wer Kinder großziehen will, braucht die Kraft der Hoffnung, dass deren Leben gelingt, auch wenn sie ganz andere Wege gehen. Wer sich für mehr Rechte für behinderte Menschen einsetzt, braucht ebenfalls die Kraft der Hoffnung, dass sich in unserer Gesellschaft trotz aller Widerstände etwas zum Besseren verwandeln lässt.

Nicht selten deckt aber eine negative Einstellung zum Leben, und die Sucht, alles pessimistisch zu sehen, die Kraft der Hoffnung zu, die gerade dann auftaucht, wenn wir handeln und anpacken, um eine missliche und ungute Situation, zu verändern. „Hoffen lernt man dadurch, dass man handelt, als sei Rettung möglich“, sagt Fulbert Steffensky, und dieses Handeln hängt nicht vom Erfolg der Handlung ab, sondern kann in sich gerechtfertigt sein.

Fast jede und jeder von uns kommt im Laufe eines langen Lebens in Situationen, in denen er müde und resigniert ist von den Lebenskämpfen, und die Erfahrung macht, mit Willenskraft nicht mehr weiterzukommen. Doch wenn wir uns am Ende der eigenen Kräfte einer tieferen Macht anvertrauen lernen, dann kann genau am Tiefpunkt der Krise ein wundersamer Umschlag passieren: eine Kraft taucht auf, die den Mut zum Weitergehen schenkt, die mit neuer Gewissheit und Zuversicht anfüllt. Das ist die Kraft der Hoffnung, die wie ein Stern am bewölkten Himmel plötzlich auftaucht oder wie ein Sonnenstrahl, der sich durch die dunklen Wolken gekämpft hat. Wir brauchen einander im Hoffen, denn die Erfahrung zeigt, dass die eigene Hoffnung allein nicht ausreicht, das Leben zu bestehen, um über die Abgründe zu gelangen oder einen Traum zu realisieren. „Ich habe einen Traum“, sagte Martin Luther King stellvertretend für viele Hoffende, ein Traum, in dem es um die Überwindung von Vorurteilen ging, ein Traum, der durch sein von der Hoffnung getragenes Handeln, weitgehend realisiert wurde.

Allein im Licht der Hoffnung, die immer auch ein Geschenk ist, können wir in dieser Welt, im Leiden und Scheitern, im allzu Zerbrechlichen, im trübseligen Strom menschlicher Schwächen und Bosheiten, immer noch an Zukunft und Erneuerung glauben. Doch stehen wir immer wieder vor der Wahl, ob wir die Welt aus rein weltlicher Sicht betrachten und bewerten wollen oder eben im Licht der Hoffnung, um auch noch im Unscheinbaren und „trotz alledem“ Gottes Gegenwart zu erkennen, der für Christen der Grund ihrer Hoffnung ist. Die christliche Hoffnung  ist eine maßlose Hoffnung, auf eine neue Erde, auf der Gerechtigkeit wohnt, auf ein ewiges Leben, das dem Tod nicht das letzte Wort geben will, und auf  eine Auferstehung schon in diesem Leben, die sich der Mutlosigkeit, dem jammernden Selbstmitleid und der Verzweiflung tapfer entgegenstellt.

Zum Nachdenken:

Worauf hoffe ich und was tue ich dafür?

Wer oder was gibt mir Hoffnung?

Mit wem teile ich meine Hoffnung?

Literatur zu Vertiefung:

Melanie Wolfers, Zuversicht, die Kraft, die an das Morgen glaubt.

Gustav Schädlich-Buter

Weihnachten- das Fest der Liebe

Weihnachten- das Fest der Liebe

Was ist Weihnachten? Was bedeutet Weihnachten? Warum feiern wir es seit Jahrhunderten so hartnäckig? Was ist das Wichtigste an Weihnachten und der Weihnachtszeit?

Für die einen ist es heute verbunden mit einem Schlendern über idyllische Weihnachtsmärkte mit Glühwein, Lebkuchen oder Bratwurst, andere sehen darin vorallem den Stress, die entsprechenden und womöglich erwarteten Weihnachtsgeschenke zu besorgen; manche, denen das entsprechende Kleingeld zur Verfügung steht, flüchten daher vor der Stressüberflutung an Weihnachten in die Karibik oder die Malediven. Für die meisten ist es wohl ein schönes Familienfest, bei dem alle zusammenkommen, und in gemütlicher Runde gegessen, getrunken, gesungen und geredet wird. Für wieder andere ist Weihnachten unbedingt mit einem Kirchgang verbunden, und ohne Krippe und „Stille Nacht, heilige Nacht“ ist es kein richtiges Weihnachten.

Womöglich würden bei all den unterschiedlichen Auffassungen über Weihnachten die meisten darin übereinstimmen, dass das Weihnachtsfest vorallem das „Fest der Liebe“ ist, auch wenn es oft genug gerade an Weihnachten zu Streit angesichts der Übererwartungen kommt.

Ein Fest der Liebe, aber was ist damit eigentlich gemeint? Was ist Liebe?

Ist Liebe nicht ein abgegriffenes, missbrauchtes, allzu sentimentales Wort, das in gefühlsduseligen Filmen oder schmalzigen Schlagern vorkommt? Mag sein. Doch ohne Liebe könnte kein Mensch auf Dauer leben, weil Liebe das Grundelexier des Lebens ist. Wer sich geliebt weiß, und wer das Glück hatte, in einem Nest von Liebe und Sicherheit aufzuwachsen, der kann sich in diesem Leben verwurzeln, in seinem Leib ein Zuhause finden und sich mit anderen verbunden fühlen. Der Benediktiner David Steindl-Rast sieht das Verbindende aller Formen der Liebe, – wie die leidenschaftliche Anziehung zwischen Menschen, die Liebe unter Geschwistern ebenso wie die Liebe im Engagement für Andere-, in einem Bewusstsein des Zusammengehörens und der Verbundenheit mit allen und allem.  Liebe ist für Steindl-Rast dieses Ja zum Zusammengehören, ein Ja, das sogar unsere Feinde einschließt. (vgl. Fülle und Nichts, Von innen her zum Leben erwachen, Freiburg im Breisgau 2005)

Die Tragödie besteht nur darin, dass sich die meisten Menschen nicht ausreichend geliebt fühlen und daher auch nicht so richtig lieben können und daher auch nicht so liebenswert sind. Zu viele Menschen fühlen sich nicht geliebt, einsam, unansehnlich und nicht gebraucht; zu viele Menschen fühlen sich nur unter Bedingungen geliebt; geliebt, solange ich funktioniere, meine Leistung bringe, den Erwartungen entspreche…

Vielleicht ist Weihnachten und die Weihnachtsgeschichte mit dem Jesuskind in der Krippe, zunächst einmal die Erinnerung an ein ursprüngliches und bedingungsloses Geliebtsein. Oder so etwas wie es die Schriftstellerin Angelika Krauß in Ihrem Band „Eine Wiege“ (Berlin 2015) ausdrückt: „Es ist wie die Rückkehr zum Glanz der ersten Blicke, zur Freude der Erstbegegnung, eine Art wiedergeschenkte Schönheit des Anfänglichen.“ (13)

Die Philosphin Hannah Arendt spricht von der Natalität oder „Gebürtlichkeit“ (als Gegenbegriff zur Sterblichkeit und dem „Sein zum Tode von Heidegger) und sie meint, dass mit jedem Menschen etwas Neues anfängt und etwas Neues in Bewegung gesetzt werden kann.

Oder christlich ausgedrückt: Gott offenbart und enthüllt seine bedingungslose und überströmende Liebe in diese unsere Welt und Geschichte hinein mit der Geburt von Jesus Christus und setzt damit einen Neuanfang, auch angesichts der ganzen Kakophonie menschlicher Bosheiten und dem Zwang immer wieder einander zu verlezten.

Es ist das göttliche Kind, das unser verletztes, verwundetes und entfremdetes inneres Kind berühren und heilen will, indem es uns ein fragloses Angenommensein ins Ganze der Wirklichkeit hineinnimmt. Und in dieser Begegnung geschieht ein Neuanfang, ein Aufbruch, der sagt, dass wir nicht auf das Vergangene festgelegt sind, dass wir zutiefst geliebt und erkannt sind, dass wir mehr sind als eine Laune der Natur.

Es ist das göttliche Kind, das wir in der Krippe betrachten können, uns dass uns mit offenen Armen in Empfang nehmen will und sagt, dass wir ohne Wenn und aber von Gottes Liebe umfangen sind.

Nicht umsonst sagt der Mystiker Angelus Silesius:

Wird Christus tausendmal zu Bethlehem geboren
und nicht in dir, du bleibst noch ewiglich verloren.“

(vgl. der Cherubinische Wandersmann)

Für den Mystiker ist das Weihnachtsgeschehen daher weit mehr als eine beschauliche Geschichte, sondern er sieht, nach weihnachtlichen Vorbild, eine innere Verbindung zwischen der Menschwerdung Jesu und der inneren Geburt Gottes in der menschlichen Seele. Dadurch wird der Mensch aus seiner Verlorenheit, aus seinen Verstrickungen herausgeführt und letztlich von seinem Gefühl des Ungeliebtseins erlöst.

Wir müssen zudem über ein rein sentimentales Verständnis von Weihnachten als „Warten auf das Jesuskind“ hinausgehen. Es geht um eine sich entäußernde Liebe, die nicht erst mit der Geburt Jesu (dort in verdichteter Form), und seiner Inkarnation, sondern schon am Anfang und als Urgrund der Schöpfung wirkte und weiterwirkt.

Für den Jesuiten und Naturforscher Teilhard de Chardin, ist die Liebe als Energieform die zentrale Kraft schlechthin, für das Fortschreiten der Evolution und das Weiterentwickeln der Schöpfung. (vgl. dazu ausführlicher, Raimund Badelt, Energie Liebe Teilhard de Chardin- ein Mystiker der Evolution, Würzburg 2017)

Und um es noch etwas anders mit den Worten der Dichterin Angelika Krauß zu sagen: „In unserem schnellen Leben, das sich in immer neue, erregende Simulationen zu verlieren droht, erscheint sie (die Liebe, d.V.) wie das letzte eherne Maß. Es muss auch von dort stammen, von wo wir unserer molekularen Zusammensetzung nach herkommen: von weit her in Zeit und Raum, von dort oben. Das hieße, der gleichgültige Kosmos impliziert die Liebeskraft vielleicht ebenso wie die Gravitation.“ (Marion Gees: Die Kindheit, die Liebe und die Form. In : Angela Krauß. Text+ Kritik 208. München 2015)

Schon am Anfang als Gott beschloss, sich in der Schöpfung vor 13,7 Milliarden Jahren beim Urknall zu manifestieren, quasi als erste Inkarnation- man spricht auch vom universalen Christus (vgl. Richard Rohr, Alles trägt den einen Namen – Die Wiederentdeckung des universalen Christus“), waren Materie und Geist schon eins, geschah dieser atemberaubende Aufbruch und die Urexplosion aus einem dunklen Urschoß ins Leben, die bis heute geschieht. Gott stiftet diese Urbeziehung vor aller Ewigkeit und diese Beziehung ist Liebe, die auch heute mit mir und in mir geschieht. Oder wie es in den alten Texten der Liturgie heißt: „Ex utero ante luciferum genui te“ (Ich habe Dich vor dem Lichtgestirn aus dem Ur- Schoß gezeugt. (Psalm 110,3) Vgl. dazu, Bernardin Schellenberger, Im Glanz des göttlichen Lichtes. Orthodoxe Mystik, Geheimnis und Herausforderung München 2014)

Wenn wir diese Tiefendimension von Weihnachten vernachlässigen, so der frühere Trappist Bernardin Schellenberger, und die Weihnachtsbotschaft auf die Geschichte vom Kind im Stall verkürzen, verspielen wir die atemberaubende Vergegenwärtigung des unfassbaren Gottes im Weihnachtsfest.

„Jene Wirklichkeit, die den unermesslichen Kosmos und auch unsere Welt und uns selbst hervorgerufen hat, gibt sich selbst in die Dynamik von Werden und Vergehen, von Geborenwerden und Sterben hinein. Ihr Name bleibt nicht absolut geheimnisvoll und rätselhaft, sondern wir in Jesus Christus ein Mensch wie wir, den man benennen und sich vorstellen kann. Er teilt unser Schicksal bis zum Tod in uns, ja in uns. Mehr noch: Er durchbricht diesen unseren Tod, der der seinige geworden ist und führt uns in die Gegenwart seines unfassbaren ewigen Lichtes, das den Hirten aus der dunklen Nacht über den Feldern von Bethlehem aufgestrahlt ist.“ (Bernardin Schellenberger, Im Glanz des göttlichen Lichtes, S.80)

Gustav Schädlich-Buter

Vulnerabilität

Heilungsräume für den verletzbaren Menschen

Das Thema, das mich als christlich geprägter Seelsorger schon seit meiner Zeit als Klinikseelsorger vor über 20 Jahren bewegt, ist der zerbrechliche, verletzbare, auch traumatisierte Mensch, im Kontrast zum starken und unverwundbaren (auch medial vermittelten) „Helden“, der niemanden braucht und auf der Siegerstraße unterwegs ist. Nicht der, der ganz „oben“ ist, sondern der, der ganz „unten“ ist; der, der am Boden liegt, -verachtet, übersehen, ungeliebt-, weckt vor allem mein Interesse, weil ich glaube, dass das Christentum vorallem eine Religion ist für Menschen, die einen tiefen Riss erlebt haben und  diese Menschen sich für G´tt (eine tiefere Ebene des Lebens) leichter öffnen können als jene, die sich selbst genügen.

Wir haben gerade in den letzten Jahren erfahren müssen, wie angreifbar der Mensch ist: Corona, Erdbeben, Migrant*innen, die im Meer ertrinken, Hunger und Obdachlosigkeit oder ein Krieg, der uns ganz nahegekommen ist. Aber auch Mutter Erde und das zwischenmenschliche Zusammenleben können uns Sorgen machen.

Wir können auch auf den individuellen und persönlichen Bereich schauen, auf die Belastungen und Krisen unseres eigenen Lebens: Krankheiten, Behinderung, frühe seelische Verletzungen, Traumata, Ausgeschlossensein, an den Rand gedrängt werden, Scheitern und Niederlagen im Beruf, zerbrochene Partnerschaften, nicht erfahrene Vergebung für Schuld, die uns drückt, Schwächen, Verrat….; alles Erfahrungen von Grenzen, die unsere Pläne durcheinandergebracht haben und unsere bisherigen Vorstellungen vom Leben zerbrochen haben.  

Wir Menschen brauchen Heilungsräume, an denen Wunden heilen können, und sichere Orte, an denen wir Geborgenheit erleben und zu einer neuen Ganzheit zusammengefügt werden.

In der Not und Krise brauchen wir vorallem Menschen, die uns schützen annehmen, unterstützen und Halt geben. In der Krise und erlebten Dunkelheit sind solche Menschen ein Licht, um Orientierung finden in der Verwirrung der Krise oder um aus einer möglichen Sackgasse des Lebens wieder herauszufinden.

Eine „Spiritualität von unten“ sagt, dass wir gerade dann, wenn unser Ego mit seinen Kontrollwünschen am Ende ist, sich ungeahnte Horizonte eröffnen und Lichtaugenblicke, das eigene Leben aus einer neuen Perspektive erkennen lassen, vorausgesetzt, dass wir an Wandlung glauben und uns nicht resigniert verschließen. Zuvor befinden wir uns meist in einem „Schwellenraum“, in dem das „Alte“ nicht mehr gilt (und die alten Muster und Lösungsstrategien uns nicht mehr weiterhelfen), aber das „Neue“ noch nicht aufgetaucht ist. Grenzen des Lebens können so durchwachsen werden, Risse können zu Öffnungen werden. Leonhard Cohen singt im Lied Anthem: „Es ist ein Riss in allen Dingen, aber genauso kommt das Licht hinein.“

In der Not und Krise brauchen wir auch Orte, die uns guttun und an denen wir Geborgenheit erfahren oder neue Kraft schöpfen können. „Kraftorte“, die Kinder oft intuitiv finden, wenn sie sich unsicher oder verängstigt fühlen.

Und nicht zu unterschätzen ist in der Krise der Glaube an G´tt, (ein Gottesname lautet: Ich bin der „Ich -bin -da“), der uns nicht im Stich lässt in unserer Not und von dem wir uns umfänglich angenommen fühlen, angesichts aller erfahrenen Ablehnung von anderen und einem damit einhergehenden Verlust des Selbstwertes und der Scham, in den Augen der anderen nicht zu genügen.

Der Traumatherapeut und Weisheitslehrer James Finley sagt, dass die unendliche Barmherzigkeit G`ttes unaufhörlich zu den gebrochenen Stellen unseres Lebens fließt. Nichts anderes als diese unbedingte Liebe, hat die Autorität zu sagen, wer wir sind.

Impuls:

Gibt es in meinem Leben Erfahrungen, wo mitten im „Riss“ (Scheitern, Verlust, Niederlagen…) neue Hoffnung und Aussicht aufgetaucht ist?

Welche Menschen haben mich in der Krise unterstützt?

Gibt es Lieblingsplätze/Kraftorte, an denen ich in der Krise,  Zuflucht finde oder Lebensenergie auftanken kann?

Lebendigwerden-ein Impuls zu Pfingsten

In dem Dokumentarfilm „Nicht ohne uns“ (Erscheinungsdatum 2017) von Sigrid Klausmann nach einer Idee von Walter Sittler, in dem Kinder und Jugendliche unterschiedlicher Kontinente befragt werden, sagt der 11-jährige Enjo aus der Schweiz: „Ich habe nicht den blassesten Schimmer, wieso ich in die Welt hineingeboren wurde.“

Wer darauf auch später keine Antwort findet, wird sich aller Voraussicht nach in einigen Jahre mit Lärm, Alkohol oder Internet betäuben, phantasielos und ohne Schwung seinen Job herunterreißen, mit Partner oder Partnerin angeödet vor dem Fernseher sitzen und nichts mehr Wesentliches in seinem Leben erwarten.  Resignierte und abgestumpfte Menschen, die sich abgefunden haben mit den kleinen, harmlosen Wünschen und Annehmlichkeiten, und ein sogenanntes „normales“ Leben führen.

Welch trauriges Gegenbild zu der im Frühling aufbrechenden Natur, zur Wurzel- und Grünkraft der Bäume, zum Sprießen und Aufblühen der Gräser und Blumen. Haben wir uns von den Wurzeln des Lebens abgeschnitten und entfernt? Fehlen uns,- besonders uns in der westlichen Wohlstandsgesellschaft-, die Visionen und begeisternde Träume, die über die basalen Absicherungsbedürfnisse hinausgehen? (vgl. Joel 3,1) Leiden nicht viele an Übersättigung, auch durch die vielen jederzeit erhältlichen Information und medialen Inputs?

Jemand verglich Menschen, die im dauerhaften Wohlstand leben mit Zierfischen, welche im gefahrlosen, langweiligen Aquarium, -gefüttert und satt-, ihre langweiligen Runden schwimmen; nur ab und zu erinnern sie sich an die Tiefen und Abenteuer des großen Meeres, in dem sie einst schwammen, und machen dann kurze heftige Bewegungen. 

Tatsächlich, so scheint es mir, sind die Türen der Sehnsucht für viele zugeschlagen und die Antennen für das Göttliche und alles Transzendente von den Häusern abmontiert, auch die Sprache für das Absolute ist verloren gegangen, die Kathedrale des „Heiligen“- besonders jene in der eigenen Seele- bleibt unbewohnt. Nicht wenigen scheint Berieselung und leichte Kost, Kreuzworträtsel und Televisionen von Privatsendern für das eigene Lebensglück zu reichen. Das große, tiefe und gefährliche Meer ist ebenso vergessen wie der unendlich weite Kosmos.

Die eigene Lebendigkeit und Sehnsucht wieder zu entdecken, hängt nach biblischer Auskunft an einer Inspiration (wörtlich „Einhauchung oder Beatmung“), also daran, dass wir neues Leben und Atem eigehaucht bekommen (vgl. die Schöpfungsgeschichte Gen 2,7, Joel 3,1). Daran erinnert auch das Pfingstfest, das wohl unverstandenste christliche Fest vom heiligen und heilenden Geist.  Das lateinische Wort „spiritus“ bedeutet sowohl Geist wie auch Wind und Atem. Es geht um eine neue Beatmung unseres Inneren, unserer Seele, unseres womöglich matt und flach gewordenen Atemstromes. Dort, wo uns der heilige Wind anrührt, atmen wir tief ein und tief aus. Der Heilige Geist, das ist wie der Wind, der uns berührt und uns sanft über die Wangen streichelt, der uns heftig anbläst, dass wir aufwachen und in Bewegung kommen. „Komm Heiliger Geist“, heißt es in der Pfingstsequenzund löse uns aus unserer Starrheit, locke uns heraus aus den Gefängnissen unserer satten Trägheit und sende uns vom Himmel her deinen Weckruf. Weite unsere enge, kleinliche und egoistische Sichtweise, befreie unsere Seele zu Dir hin, zum Schöpfer allen wahren Lebens und zu den Menschen, für die wir verantwortlich sind.

Der Heilige Geist, das ist auch Feuerkraft und Licht, das die Dunkelheit unserer Welt und unserer Seele von innen her erleuchtet; Licht, das hell macht, was finster ist, und uns den Weg zeigt, wenn wir im Dunklen tappen, stolpern, gefallen sind oder an Abgründen uns bewegen. Die Strahlen dieses Lichtes sollen unseren Lebensweg erleuchten, damit wir weiter gehen können, besonders inmitten von Krisen und Umbrüchen, die uns herumbeuteln. Die Strahlen seines Lichtes, das vom Himmel herkommt (und nicht aus unserem Erkenntnisvermögen), soll uns neue Perspektiven eröffnen, uns die verdunkelnde Furcht und Angst nehmen, die uns blind macht für die uns innewohnende geschenkte Liebe, die unbedingt an uns glaubt und will, dass wir sind.

Howard Thurmann, amerikanischer Bürgerrechtsaktivist und Mentor von Dr. Martin Luther King jr. gibt für das Lebendigwerden noch folgende Empfehlung:

Frage nicht, was die Welt braucht, frage dich selbst, was dich lebendig macht …und tue das; (denn) was die Welt braucht, das sind Leute, die lebendig geworden sind.“

Alles, was mich lebendig macht, belebt, inspiriert, ins Fließen bringt, könnte mich also zu meiner ur-eigenen Berufung führen.

Der Benediktiner David-Steindl-Rast hat dazu folgende grundlegende Fragen formuliert, die ich an Sie als Impuls weitergeben möchte:

Impuls:

Was würde ich wirklich gerne tun? Was bereitet mir eine tiefe und nachhaltige Freude?

Was kann ich gut? Wo bin ich gut? (worin drücke ich die Einzigartigkeit und Einmaligkeit meiner Person am besten aus? Was sind meine Talente und Begabungen?)

Welche Gelegenheit gibt mir das Leben gerade jetzt, um das zu tun, was mich mit Freude lebendig macht? Wozu lädt mich das Leben gerade jetzt ein? (um das herauszufinden, müssen wir aber anhalten und mit den Ohren des Herzens horchen und bereit sein, uns überraschen zu lassen)

Gustav Schädlich-Buter

Über Sucht, Sehnsucht und Gnade

Über Sucht, Sehnsucht und Gier

Früher haben begrenzte Ressourcen, Anforderungen von Familie und Eltern, Zwänge von Religion und Gesellschaft das Privat-Ich in seine Grenzen verwiesen. Die Grenzen sind heute, in der westlichen Welt zumindest, weitgehend aufgehoben; dies hat einerseits zu großen individuellen Spielräumen geführt, andererseits aber eine suchtabhängige Gesellschaft produziert, Individuen geformt, die Gefangene des Konsums sind, Sklaven einer Ideologie des immer „Mehr“ auf allen Gebieten und zu einem Menschenbild, das sich weitgehend über Äußerlichkeiten und Oberflächlichkeiten definiert.

Sucht ist alltäglich geworden und sie durchdringt, wenn wir ehrlich sind, nahezu jedes menschliche Wesen.

Dabei gibt es viele Erscheinungsbilder der Sucht: Drogensucht, Alkoholismus, Nikotinsucht, Koffeinsucht, Esssucht, Arbeitssucht, Sucht nach Stress, Sexsucht, Spielsucht, das Sammeln von Geld…. Manche Süchte wirken sich schlimmer und zerstörerischer aus als andere und bedürfen dringend psychologischer und therapeutischer Behandlung. Der Psychiater Gerald May weist aber darauf hin, dass bei allen Süchten letztlich die gleichen neurologischen, psychologischen und geistigen Mechanismen am Werk sind, egal, ob es sich um stoffliche Süchte wie Alkohol oder Drogen handelt oder ob wir bestimmten Idealen anhängen, an bestimmte Selbstbilder gebunden sind, ob wir Macht anstreben, oder süchtig nach Bestätigung und Anerkennung sind. (Gerald May, Sehnsucht, Sucht und Gnade, München 1993)

Sucht missbraucht unsere Freiheit und veranlasst uns etwas zu tun, was wir eigentlich nicht wollen. Sucht verbindet sich oft mit einem gierigen Verhalten(auch wenn Sucht und Gier nicht einfach dasselbe sind, so steckt doch in jeder Sucht die Gier nach mehr) Raffgier, Profitgier, Kommunikationsgier… zerstören menschliche Gemeinschaft. Der Philosoph Spinoza sieht in der Habgier, aber auch im Ehrgeiz und in der Wollust, sogar Formen des Wahnsinns. Die ungezügelte Gier nach immer mehr kann irgendwann zerstörerisch wirken und dies nicht nur für das Individuum (der süchtige und gierige Mensch verliert die Beziehung zu sich selbst, zu seinen Gefühlen, kann nicht mehr wirklich genießen…), sondern für eine Gruppe oder eine ganze Gesellschaft. Gieriges und süchtiges Verhalten macht uns nicht glücklich, sondern unruhig und getrieben, versklavt uns an materielle Dinge, an Geld, Macht oder führt zu unfreien und toxischen Beziehungen. (vgl. Anselm Grün, Gier. Auswege aus dem Streben nach immer mehr, Münsterschwarzach 2015)

 Alle Süchte beeinträchtigen die menschliche Freiheit und nehmen uns etwas von unserer Menschenwürde.

Die Sehnsucht nach Gott, die Energie im Innersten unseres Herzens, der Hunger nach bedingungsloser Liebe wird gebunden und gefangen gehalten durch die Sucht.

Aus spiritueller Sicht geht es darum, worauf der Benediktiner Anselm Grün hinweist, die Sucht wieder in Sehnsucht zu verwandeln, die uns über die irdische Welt hinausführt und als göttliche Spur in unser Herz eingepflanzt ist. Es gilt die verdrängte Sehnsucht nach Liebe, Geborgeheit und Angenommensein im süchtigen Verhalten wieder freizulegen. Die zerstörerischen Elemente der Gier- sie steckt ja in jedem Menschen – gilt es wieder in eine lebensspendende Kraft zu verwandeln, um im Herzen zur Ruhe zu kommen und eine innere Freiheit zurück zu erlangen. 

Die geistliche Tradition bezeichnet das süchtige Gebundensein in der englischen Sprache mit „attachment“, was so viel wie „Angenagelt“ oder „Verhaftet-sein“ bedeutet. Unser innerstes Verlangen und Wollen wird an bestimmte Objekte „genagelt“. Sucht kettet unser Wollen und Verhalten an bestimmte Gegenstände, Stoffe, Ideen und Menschen. Sie verführt uns zum Götzendienst und zur Anbetung des goldenen Kalbes, um das all unser Denken, Wollen und Fühlen kreist.

Gefangen, Acryl auf Holz

Viele spirituelle Traditionen weisen auf die Gefahren von Sucht und Gier hin. Für den Buddhismus ist die Gier gar die Wurzel allen Übels.

Im Lukasevangelium warnt Jesus seine Schüler vor Gier und Habsucht (Lk 12, 15-21 und warnt sie und uns davor, sich an vergängliche Dinge zu klammern und dabei zu vergessen, ein sterbliche und endliche Mensch zu sein. Stattdessen erinnert er in einem anderen Gleichnis uns daran, in all unserem Planen und Sorgen, die Vögel des Himmels und die Lilien des Feldes sich zum Vorbild zu nehmen, die nicht säen und nicht ernten und dennoch gut leben unter den liebenden Augen Gottes. Es geht ihm um Sein statt Haben wie es der Erich Fromm formuliert hat.

Die christlichen Wüstenasketen, haben bevor sie in die Wüste zogen, allen ihren Besitz verschenkt, um Raum und innere Freiheit zu schaffen für ihre Gottessuche. Geist und Herz sollten aufgeräumt sein für ein ungehindertes Streben nach Gott. Diese Wüstenväter und Wüstenmütter waren um Loslösung bemüht; sie machten eine Gegenbewegung zum Verhaftetsein unseres Verlangens an materielle Dinge, an wechselnde Gefühle, an ungeordnete Leidenschaften, Begierden und Süchte. Loslösung, Widerstand, das heilige Nein, Verzicht auf Ablenkungen, aber am zentralsten das Vertrauen auf eine zu Hilfe kommende Gnade (weil wir mit eigenem Willen nicht fähig sind uns von Süchten, Zwängen und tiefgreifenden Abhängigkeiten zu lösen) sind integrale Bestandteile jeder geistlichen Lebensreise, die uns aus der Knechtschaft befreien und unser ursprüngliches Verlangen nach Gott wieder freilegen.

Impulsfrage: (nur hinschauen, nicht werten)

Wo in meinem Leben bin ich verhaftet und süchtig gebunden?

Gustav Schädlich-Buter

„Spiritualität von unten“

„Wandlungsprozesse- Heilungsräume- Metamorphosen oder es ist ein „Riss in allen Dingen, aber genauso kommt das Licht hinein“ (Leonhard Cohen)

„Das Christentum ist vorallem eine Religion für Menschen, die einen tiefen Riss in ihrem Leben erlebt haben“ (Thomas Merton)

In der Werbung und in den Medien werden uns vor allem perfekte, gutaussehende, attraktive, leistungsstarke, gesunde und unabhängige/autonome Menschen präsentiert. Models und Bodybuilder, rund um die Uhr arbeitende Manager*innen, Menschen, die sich unabhängig und völlig frei von allen Bindungen zeigen, angstfreie Abenteurer, die niemanden brauchen, Schönheiten, die nur sich selbst feiern,- das sind die modernen und unverwundbaren Held*innen unserer Zeit.

Doch dies ist aber nur die halbe Welt und oft mehr Schein als die Wahrheit. Die Versuchung ist gegeben beim oberflächlichen Blick und Sinneseindruck hängen zu bleiben und nicht dahinter und darunter zu schauen in die Tiefe menschlicher Existenz. 

Das Leben von Philippe Pozzo di Borgo, der bis zu seinem 42. Lebensjahr Geschäftsführer des Champagnerunternehmens Pommery war, dann durch einen Gleitschirmunfall vom Hals ab querschnittgelähmt, ist vielen bekannt durch den Film „Ziemlich beste Freunde“. Er berichtet davon, wie er sich nach Erscheinen seiner Autobiografie vor Mails nicht mehr retten konnte, in denen alles Unglück der Welt auf seinem Bildschirm landete und die Unermesslichkeit der geschilderten Verzweiflung ihn überwältigte. In einem Interview mit Elisabeth von Thadden sagt er:

„Es klafft ein Abgrund zwischen den Anforderungen der Gesellschaft und dem, was sich in den Menschen zuträgt. Sie fühlen sich abgehängt, ausgeschieden, zerstört, beladen, gejagt, sie sind voller Scham und Angst, weil sie nicht leisten können, was man von ihnen verlangt, als Arbeitnehmer, als Familienväter, als Migranten oder Arbeitslose, es sind alle Lebenssituationen dabei, ob mit körperlicher Behinderung oder nicht. […] All diese Mails belegen ein massenhaftes Gefühl des Scheiterns. […] Die Menschen wollen ein sinnvolles Leben führen, sie wollen sich nicht fortgesetzt drängen und hetzen lassen. Jeder weiß oder ahnt doch zumindest, dass die menschliche Existenz zerbrechlich ist. Man glaubt nicht mehr an das Trugbild des ewig jungen und starken schönen Menschen. Die Zerbrechlichkeit muss wieder von den Rändern ins Zentrum rücken.“ (Philippe Pozzo di Borgo u. a., Ziemlich verletzlich, ziemlich stark, 2012, 8f.,)

Diese Verwundbarkeit menschlicher Existenz, so Pozzo di Borgo, werde verschleiert durch die vielfältigen Trugbotschaften der Medienkultur mit ihren überzogenen Wünschen und Ansprüchen an Leistung, Effizienz, Schönheit, ewige Jugend, Unverwundbarkeit, sogar Unsterblichkeit. Diese verzerrten nicht nur die Wirklichkeit, sondern führen auch zu einem fraglichen Menschenbild und zu permanenten Angstzuständen. Für Pozzo di Borgo sind elementare Beziehungen statt Gleichgültigkeit für das Glückserleben zentral; wechselseitige Abhängigkeit, ein Geben und Nehmen, das auf freundliche Weise geschieht, sei keine Minderung der Würde, sondern führe zum Glück.“ (vgl. Vogt, Schädlich-Buter, Spiritualität und Verantwortung, S.89)

Menschen mit einer Behinderung oder überhaupt Menschen in prekären Lebenssituationen stellen dazu ein Gegenbild dar, sind die Antihelden, die weder unabhängig noch leistungsstark sind, die nicht mit Statussymbolen protzen können, sondern zerrissen daherkommen (vgl. den Helden Zyklus von Baselitz). Menschen mit einer Behinderung sind so wichtig für unsere Gesellschaft, weil sie den zerbrechlichen und verwundbaren Teil menschlicher Existenz sichtbar machen, weil sie die Endlichkeit und Bruchstückhaftigkeit menschlicher Existenz bezeugen durch ihre bloße Anwesenheit, weil sie den Gläubigen sagen, was Gnade ist und was es mit der Sehnsucht auf sich hat  jenseits aller Leistung geliebt und angenommen zu werden, und,  weil gerade die schwerstbehinderten Menschen,  uns die Angewiesenheit, Bedürftigkeit und Nacktheit unserer Existenz deutlich machen können, die jene durch nichts kompensieren können. Der Körper des behinderten Menschen ist der Ort für die bedingungslose Zuwendung eines Gottes, der bedingungslos liebt.

Menschen mit einer Behinderung sind Zeugen für das Ganze des Menschseins, weil sie den omnipotenten Helden oder Heldin infrage stellen und wie ein Protest wirken gegen die Hybris des gottgleichen Menschen, dessen einziger Bezugspunkt er selbst ist.

„Zerbrochen“, Acryl auf Leinwand

Diese Infragestellung menschlicher Allmächtigkeit und Omnipotenz geschah in den letzten Jahren auch durch die weltweiten Krisen, durch Corona, den Ukrainekrieg und zuletzt das schreckliche Erdbeben in der Türkei und Syrien.

„Es ist ein Riss in allen Dingen, aber genauso kommt das Licht hinein!“, heißt es im Lied Anthem von Leonhard Cohen und er will damit sagen, dass die Risse überall vorhanden sind, aber auch, dass aus den Rissen in unserem Leben, aus den Brüchen und Erfahrungen des Scheiterns, Neues und Schönes entstehen kann. (Dies ist der Ansatz einer „Spiritualität von unten“) Ja, dass sogar manchmal Altes, womöglich Überlebtes zerbrechen muss, damit eine neue, bislang noch ungeahnte Gestalt sich offenbaren kann. Der Bruch oder die Niederlagen kann eine Metamorphose einleiten, der über den Weg in die Tiefe eine neue Identität hervorbringt. Oder anders gesagt: das falsche, oberflächliche, egozentrische oder in festgezurrten Vorbahnungen sich bewegende Ego/Ich, wird aufgebrochen. Ein Bruch, ein Riss, der zunächst schmerzt, wehtut, die Orientierung nimmt und in einen Schwellenraum versetzt, der Monate, ja sogar Jahre dauern kann.

Der „Schwellenraum“ (Richad Rohr) ist der Übergangsraum, in dem das Alte nicht mehr gilt und das Neue noch nicht aufgetaucht ist. Bilder und Prototypen für diesen Zustand sind Jona, der im Walfischbauch sitzt oder Hiob im Dreck und im Schmerz seiner ganzen Verluste. Doch in der Tiefe kann etwas wachsen ohne unser Zutun. „Er schläft und steht wieder auf, es wir Nacht und wird Tag, der Samen keimt und wächst, und der Mann weiß nicht wie.“ (Markus 4,26) Und manchmal ist es ein Hoffnungsschimmer, der die Dunkelheit erleuchtet, eine Kraft, die von irgendwoher kommt und sagt, „Jetzt nicht aufgeben!“ und „Am Leben bleiben!“. Meister Eckhart sagt, wenn ich nicht zugrunde gegangen wäre, also in den Grund meiner Existenz, dann wäre ich zugrunde gegangen. Am Grund meiner Existenz lässt sich das wahre Selbst entdecken, an dessen Tür, inständig und mit viel Geduld der klopft, den Johannes vom Kreuz als den „Ich weiß nicht was“ bezeichnet.

Der „Schwellenraum“ kann zum „Heilungsraum“ werden, der für unterschiedliche Menschen ganz unterschiedlich aussehen kann: manche bekommen durch die Kraft der Natur neuen Antrieb für ihr Leben. So der bekannte Sozialfotograf Sebastiao Salgado, der nach erschütternden Erfahrungen des Genozids in Ruanda den Glauben an die Menschheit verloren hat, und im Pflanzen eines Waldes neue Kraft schöpft. Oder Ingrid Leitner, die Gründerin des CBF (Clubs Behinderter und ihrer Freunde), die mit 15 Jahren an Polio erkrankte, hat ihre Wohnung in eine grüne Oase verwandelt, wodurch sie viel Kraft bekam. (Autobiografie von Ingrid Leitner, Das Leben der Sternentaucherin). Andere entdecken in der Kunst und kreativen Schaffen einen Weg das Leid und die Gebrochenheit zu durchschreiten, finden in der Malerei wie Frieda Kahlo ein Ausdrucksmittel für ihr innerstes Erleben, in der Trauer, Schmerz und unbändige Lebensfreude zugleich auftaucht.  Wieder andere entdecken wie Philippe de Bozo, Chef einer großen Champagnerfirma und nach einem Gleitschirmabsturz vom Hals ab gelähmt- vielen durch den Film „Ziemlich beste Freunde“ bekannt-, die Wichtigkeit von Beziehung zu anderen Menschen, aber auch wie wesentlich die Stille im Leben ist. Helen Keller, die mit zwei Jahren Augenlicht und Gehör verliert, sagt: „Wenn eine Tür des Glücks sich schließ, öffnet sich eine andere, aber oft starren wir so lange auf die geschlossene Tür, dass wir die, die sich uns geöffnet hat nicht sehen. Helen Keller findet eine Aufgabe, die auch Heilungsraum ist, im Engagement für andere blinde Menschen, aber sie setzt sich auch für die Rechte der Schwarzen und die Frauenrechte ein. Wer sich um andere kümmert, trägt auch zu seiner eigenen Heilung und zum eigenen Wohlbefinden bei statt nur um sich selbst zu kreisen. (vgl. frei nach Jesaja 58,10: Wenn es dir dreckig geht, dann mach dich auf und kümmere dich um die Ärmsten, Notleidenden und teile dein Brot mit ihnen, dann wird in Kürze dein Licht wieder aufleuchten).

Es gibt auch verwundete Heiler, manche wie Claude Anshin, der sich vom Killer im Vietnamkrieg und PTB- Störungen, Drogen und Alkohol nach seiner Rückkehr nach Amerika, schließlich zum buddhistischen Mönch wandelt. Er findet über den vietnamesischen Mönch Thich Nhat Hanh zur Meditation, und zu einer neuen Lebensaufgabe und Berufung als Friedensaktivist.

Thomas Merton, der durch sein Buch „The Seven Storey Mountain“ (deutsch: Der Berg der sieben Stufen) weltbekannt gewordene Trappistenmönch, erkennt im Laufe seines Lebens, dass echtes spirituelles Leben aus dem Dunkel und aus dem Scheitern wächst, und dass der Weg zu Gott durch die Wüste führt. Nur so könnte man das eingebildete, falsche, kranke und egozentrische Ego überwinden. Eine „Spiritualität von unten“ besagt, dass im „Riss“ und in den Brüchen des Lebens, die Chance liegt, dass sich die Türen der Seele öffnen für das Nahekommen Gottes als einem, der bedingungslos liebt und annimmt. Der „Riss“, wo wir am Ende unserer Kräfte sind und unsere Ohnmacht eingestehen müssen (wie die anonymen Alkoholiker) kann wie eine Öffnung sein, durch welche ein Licht in uns einströmt, dass wir nicht selbst erzeugen können.

„Ein Trauma stellt die Betroffenen vor einen Wendepunkt in ihrem Leben und kann trotz aller Verletzungen, die Möglichkeit bieten, gestärkt aus ihm hervorzugehen. Eine wichtige Voraussetzung dafür ist, dass sich der Einzelne der Realität stellt, anstatt sie zu leugnen oder zu verdrängen, und das Unglück als Teil seines Lebens annimmt. In der Resilienzforschung wird diese Fähigkeit Akzeptanz genannt.“ (Vogt, Schädlich-Buter, Spiritualität und Verantwortung, S.52) In der Kunst könnte man an Joseph Beuys Installation „Zeige deine Wunde“ denken oder an das Bild von Caravaggio „Der ungläubige Thomas“, dem Jesus seine offene Wunde hinhält und die Möglichkeit eröffnet, sie zu berühren. Um in der Akzeptanz des Verlustes, der Trauer um Unwiederbringliches, im Scheitern von Lebensplanungen nicht aufzugeben und Hoffnung zu finden, ist es wichtig durch den Schmerz, das Leiden und die Trauer zu gehen, manchmal auch nur auszuhalten, was mir da widerfährt. Emmy Werner sagt zu resilienten Menschen „vulnerable but invincible“, und meint, dass es sich bei diesen Menschen nicht um unverwundbare Helden/Held*innen handelt, sondern nur, dass sie sich durch die Lebenskrisen nicht unterkriegen lassen und dadurch ein psychisches Immunsystem entwickeln. Für die Reifung durch eine Krise gibt es kein Rezept, aber wer es wagt, sich mit seinen Lebenswunden anderen Menschen oder Gott zu öffnen und anzuvertrauen, für den entspringt nicht selten eine Quelle der Hoffnung.

Biblisch könnte man an dieser Stelle an das Paulus Wort denken: „Wenn ich schwach bin, dann bin ich stark“ (2 Kor 12,10) Es gilt im Prozess der Verarbeitung auch die dunklen Gefühle (auch Suizidgedanken), die offenen und ungelösten Fragen, die mit der Lebenskrise einhergehende Verunsicherung und Verzweiflung, die Frage nach dem Sinn dessen, was mir das Leben zugemutet und auferlegt hat, die Leere, in der sich kein Gott zeigen will (vgl. das Gedicht von Jean Paul „Siebenkäs“),….zu stellen. Das Leid bleibt unerlöst, wenn es keinen Ausdruck findet. Wer sich verletztlich zeigt, eröffnet Reifungsprozesse.

Wer durch eine Lebenskrise hindurch gegangen ist, hat sich verwandelt (das bestätigen nicht nur die Ergebnisse der Traumaforschung, sondern auch die Berichte von Nahtoderfahrungen wie sie der Philosophieprofessor Godehard Bruntrüp S.J. eindrucksvoll beschreibt). Menschen, die durch Leid und Krisen gegangen sind, werden wie auch Forschungen zeigen, empathischer, liebesfähiger, entwickeln eine neue Wertehierarchie; sinnerfüllte Beziehungen sind wichtiger als Erfolg im Beruf; das eigene Ich öffnet sich stärker für den anderen, erlebt mehr Verbundenheit, kreist weniger um sich selbst, wird sehender für die Not des Anderen und lebt von einem inneren gottnahen Zentrum her, das frei ist von außen auferlegten Bedingungen und Strukturen des Funktionierens und Wertgeschätzseins in Welt und Gesellschaft. Die spirituelle Sprache spricht hier vom wahren Selbst.

Der Franziskaner Richard Rohr schreibt: „Unser falsches Selbst, das wir auch unser „kleines Selbst“ nennen könnten, ist unsere Startrampe: unser Körperbild, unser Job, unsere Ausbildung, unsere Kleidung, unser Geld, unser Auto, unsere sexuelle Identität, unser Erfolg und so weiter. Dies sind die Insignien des Egos, die wir alle benutzen, um uns durch einen gewöhnlichen Tag zu bringen. Sie sind eine schöne Plattform, auf der man stehen kann, aber sie sind weitgehend eine Projektion unseres Selbstbildes und unserer Anhaftung daran. Keiner von ihnen wird von Dauer sein! Wenn wir in der Lage sind, über unser falsches Selbst hinauszugehen – zur richtigen Zeit und auf die richtige Weise – wird es sich genauso anfühlen, als hätten wir nichts verloren. In der Tat wird es sich wie Freiheit und Befreiung anfühlen. Wenn wir mit dem Ganzen verbunden sind, müssen wir den bloßen Teil nicht mehr schützen oder verteidigen. Wir sind jetzt mit etwas Unerschöpflichem verbunden. Unser falsches Selbst nicht zur richtigen Zeit und auf die richtige Weise loszulassen, ist genau das, was es bedeutet, festzustecken, gefangen und süchtig nach uns selbst zu sein.

Und James Finley, einst Novize bei Thomas Merton, später Traumatherapeut, reflektiert Merton`s Lehre über das Wahre Selbst und das separate (oder falsche) Selbst:

Unser wahres Selbst ist ein Selbst in Gemeinschaft. Es ist ein Selbst, das in Gottes ewiger Liebe besteht. Ebenso ist das falsche Selbst das Selbst, das außerhalb dieser geschaffenen bestehenden Gemeinschaft mit Gott steht, die unsere Identität bildet…..In unserem Eifer, die Vermieter unseres eigenen Seins zu werden, klammern wir uns an jede Errungenschaft als eine Art Bestätigung unserer selbsternannten Realität. Wir werden zum Zentrum und Gott zieht sich irgendwie an einen unsichtbaren Rand zurück. Andere werden in dem Maße real, in dem sie zu bedeutenden anderen für die Pläne unseres eigenen Egos werden. Und in diesem Prozess stirbt das GANZE Gott in uns und das sterile Nichts unserer Wünsche wird zu unserem Gott. Merton macht deutlich, dass die selbsternannte Autonomie des falschen Selbst nur eine Illusion ist…“ (vgl. Homepage des CAC, Center für action and contemplation)

Der Prophet Ezechiel spricht davon, dass G*tt das Herz von Stein aus unserer Brust nimmt und uns ein neues lebendiges Herz schenkt. (Ez 11, 19.20) Ein Herz, das barmherzig ist und nachsichtig gegenüber Fehlern und Schuld ist, und das sich solidarisch an die Seite der Menschen stellt, die an den Rand gedrängt werden und Ungerechtigkeit erleiden.  Ein Herz, das nicht gleichgültig zusieht, wie Menschen exkludiert oder misshandelt werden. Gerade die Gleichgültigkeit ist Zeichen eines verschlossenen, tauben, fühllosen Herzens wie wir es sehen angesichts der ertrinkenden Migranten im Mittelmeer.  Wer sich um andere kümmert und sorgt, entgrenzt sein Herz, überschreitet/transzendiert sich selbst und öffnet sich der Kraft verwandelnder Liebe.

Aus einer theologischen Perspektive gehören Leid, Schuld, Scheitern und Ungerechtigkeit zentral zum menschlichen Leben, das oft nicht nach unseren Vorstellungen läuft. Nicht umsonst ist das Kreuz zentrales Erlösungssymbol der Christen. Das Leiden und Scheitern hat nicht das letzte Wort, sondern ist ein Durchgangsweg zur Auferstehung und zu neuem, verwandeltem Leben; insofern dient der Weg Jesu auch als Modell für menschliche Transformationsprozesse. „Deinen Tod, o Herr, verkünden wir und deine Auferstehung preisen wir“, lautet das Geheimnis des Glaubens. Christliche Hoffnung ist kein blinder Optimismus, sondern eine Gewissheit, die durch die Erfahrung des Kreuzes hindurchgegangen ist. Mitten im Fragmentarischen des eigenen Lebens ahnen manche etwas von einem Ganzen, das allein mit der Kraft des Willens nicht hergestellt werden kann. Heilungsprozesse ereignen sich meist so, dass  ein „Anderer“ (G*tt) oder etwas anderes jenseits meines eigenen Wollens und Vermögens, die Bruchstücke meines Lebens zu etwas ganz Neuem, zuweilen mit unendlicher Geduld, zusammenfügt.  Schönheit und Hässliches, Verzweiflung und Hoffnung liegen in der menschlichen Seele oft ineinander verschränkt. Sobald ich das eine weglasse, verbanne ich das Andere mit. Wenn ich Schmerz zulasse, öffne ich mich auch für die Schönheit und das Neue, das werden will.  Die japanische Kunst des Kintsugi, wo Vasen zerbrochen und dann mit Gold-Leim wieder zusammengesetzt werden, können als Metapher gelesen werden für eine neue Ganzheit, für die Heilung des Gebrochenen und wie aus Bruchstücken eine neue Schönheit entsteht.

Liturgisch lässt sich angesichts der Zerbrechlichkeit und Verwundbarkeit menschlicher Existenz an das Brotbrechen der Eucharistie denken (wie es der Priester und Lyriker Andreas Knapp in seinem Buch „Vom Segen der Zerbrechlichkeit“ herausgearbeitet hat). Der die rituelle Handlung begleitende Satz „Seht zerbrochen für uns…“ erinnert daran, dass sich die Bruchstelle Jesu und unsere eigenen Bruchstellen zu einem Ganzen zusammenfügen. Allerdings nur dort, wo ich bereit bin, die Bruchstellen meines Lebens hinzuhalten, weil glatten und abgerundeten Stellen keine Anknüpfungsmöglichkeit bieten.

Gustav Schädlich-Buter, März 2023

Aufwärts- „Nach oben“ (Toute la-haut)

Was kann man zum Neuen Jahr Besseres wünschen, als dass es wieder aufwärts gehen soll. Aber dieses Aufwärts kann so und so verstanden werden. Die einen wünschen sich, dass nach Corona und Energiekrise die Wirtschaft neu angekurbelt wird, die anderen hoffen nach einer Krankheit oder einem Burnout, dass es wieder aufwärts geht und ein Neustart gelingt.

Die französische Sängerin ZAZ, mit bürgerlichem Namen Isabelle Geffroy, beschreibt in Ihrem Lied „Tout la-haut“ einen anderen Aufstieg; ein Aufstieg der Seele, ein Aufstieg zum wahren Selbst jenseits falscher Gewissheiten und Sicherheiten. Jenseits von Schein und nach außen gezeigten unbeschwerten Masken, so der Liedtext, liegt oft ein verletztes und verbranntes Kind. Hinter dem selbstsicheren Ego lauern die versteckten Risse der Kindheit. Der Weg nach oben bedeutet für die Sängerin, das Wahre vom Falschen zu entwirren; dabei ist es wichtig, die Einsamkeit und Ruhe schätzen zu lernen, von den Künstlichkeiten zu lassen, um endlich herauszufinden, warum wir existieren und warum wir uns gegen manches wehren. Sie fordert den Hörer des Liedes auf, diesen Weg nach oben zu nehmen, der im Grunde eher einem Abstieg gleicht, in die Tiefen und versteckten Verletzungen des inneren Kindes, und der verlangt, die Täuschungen und falschen Selbstsicherheiten zu entlarven. (zum Lied: ZAZ – Tout là-haut (Clip officiel) – Bing video)

Die Sängerin ZAZ beschreibt im Grunde einen Heilungsweg, der immer dort beginnt, wo wir anfangen und riskieren in der Gegenwart eines anderen über das zu reden, was uns am meisten verletzt. Die gebrochenen und verletzten Stellen in uns brauchen die meiste Liebe und Barmherzigkeit; denn gerade dort, wo wir keinen Ort und keinen Menschen haben, dem wir uns öffnen können, gibt es eine Neigung in uns, uns selbst zu betrafen und „runter“ zu ziehen. Wer sich nicht willkommen und übersehen fühlt, neigt nicht selten zu einer trotzigen Fassade, welche die Trauer über die Ablehnung und die innere Unsicherheit überspielt und zu einem Leben im falschen Selbst führt.

Das wahre Selbst zu entdecken, ist eine der zentralen Herausforderungen auf jedem spirituellen Weg. Dazu ist unabdingbar den eigenen Wunden zu begegnen. Verletzungen, die jemand verbirgt, können zur Selbstverachtung und zur Überzeugung führen, nichts wert zu sein. Ohne Kommunikation und Offenheit entwickelt sich kein gesundes Zugehörigkeitsgefühl und ohne die unbedingte Liebe von jemanden, der an uns glaubt und will, dass wir leben, entwickelt sich ein psychisches Schuldgefühl, nicht liebenswert zu sein.

Ausnahmslos alle Menschen fühlen sich zuwenig geliebt, können daher nur unzureichend lieben und erscheinen daher auch so wenig liebenswert, behauptet der Philosoph Adorno. Ungeliebten Menschen moralische Forderungen und Imperative zu solidarischer Liebe aufzuerlegen („Du sollst deine Feinde lieben, Migranten aufnehmen, das Klima schützen, Verzichten, Opfer bringen…), verfestigt nur die Kälte und Erstarrung, die ungeliebte Menschen in sich spüren. Menschen, die sich für wertlos erachten, blockieren auch die in ihnen steckenden Potentiale. Forderungen allein geben keine Liebeskraft, sondern machen defensiv.

„Aufwärts“ geht es erst, wenn wir hören und unser Herz dafür öffnen, was kein Mensch sich selber sagen kann: „Du bist geliebt!“, „Du bist geschätzt!“, „Du bist gewollt!“, „Du bist mir wertvoll und teuer!“ Erst die Erfahrung bedingungslos geliebt zu sein, ermöglicht, dass Menschen ihrerseits lieben und solidarisch handeln können. Wer eine solche Zusage erhält und daran glaubt (das kann uns niemand abnehmen), der kann die Schönheit der Welt wieder wahrnehmen und „die Sterne schmecken da oben“, wie es die Sängerin ZAZ in ihrem Chanson poetisch ausdrückt.

Die religiöse Sprache würde sagen: der heilende und bedingungslose Energie- und Lebensstrom göttlicher Güte und Barmherzigkeit, der allen Menschen gilt, also inklusiv ist, verwandelt unsere Wunden, wenn wir die Tür unseres Herzens dafür aufschließen. Dadurch eröffnet sich der tiefere Sinn unserer Existenz und das, was hineinströmt, drängt geradezu, überzufließen zu unseren Mitmenschen. Denn Verantwortung und solidarisches Handeln lässt sich nicht von außen verordnen, sondern erwächst unmittelbar aus einer Beziehung, die als Geschenk und Gnade erlebt wird.

Gustav Schädlich-Buter

Traumsucher

Er wußte nicht, was ihn dazu antrieb, aber er stieg hinunter in den dunklen Raum, dessen Tür sich plötzlich vor ihm auftat; viele Treppen hinunter in ein dunkles Reich, das von keinem Lebewesen bewohnt schien. Auf dem Boden lagen die Scherben eines zerbrochenen bunten Glasfensters.

Etwas in ihm drängte ihn dazu, die bunten, überall zerstreuten Scherben in einer Tasche, die er immer bei sich trug, aufzusammeln. Nur sehr wenig Licht strömte durch das zerbrochene Fenster noch herein, aber zumindest war der Raum nicht ganz dunkel, so dass ein Gang sichtbar wurde, der zu weiteren scheinbar unbewohnten Räume führte. Vorsichtig öffnete der Mann eine halb offenstehende Tür und gerade als er einen Schritt hineinwagen wollte, stieß er an einen lebendigen Körper. Erschrocken zuckte er zusammen, als ein leises Wimmern und Klagen einer ängstlichen Stimme an sein Ohr drang. Kaum sichtbar durch das wenige Licht, erkannte er aber, da seine Augen sich inzwischen an die Dunkelheit gewöhnt hatten, die Gestalt einer Frau, die an einer Säule lehnte. Ihre Haare waren wirr verstrubbelt, aber alles an ihr schien durcheinander; ihr Kleid war zerrissen und sie hatte keine Schuhe an den Füßen. „Wer bist du“, fragte der Mann , und: „Wie kommst du hier her?“ „Was ist das überhaupt für ein Kellerraum, in dem wir sind?“. Die Frau schaute ihn mit aufgerissenen Augen an und sagte lange kein Wort. Dann, als müsste sie erst wieder die verloren gegangenen Worte ihrer Sprache zusammensetzen, öffnete sie den Mund und würgte einige unverständliche Laute hervor, die wie „kraks“ oder „crux“ klangen. Der Mann nahm sie -ohne weiter mit Fragen zu bedrängen- beim Arm und half ihr auf, sie konnte kaum laufen, war sehr geschwächt, konnte sich kaum aufrechthalten, aber mit seiner Hilfe schaffte sie es bis zum Hauptraum, wo durch das zerschlagene Fenster gedämpftes Licht hereinfiel. Der Mann zog seine Jacke aus, legte sie auf den Boden und half der Frau, sich darauf nieder zu lassen. Die Frau legte sich darauf und schlief nach kurzer Zeit ein. Der Mann saß bei ihr und von Müdigkeit übermannt, schlief auch er ein. Im Traum sah er die Frau erneut; sie stand ihm jetzt gegenüber, sie hatte ihre Sprache wieder gefunden und redete klar und deutlich folgenden Satz an den Mann gerichtet: „Wir sind hier im Reich der verlorenen Träume. Aber was suchst Du hier?  Warum bist du denn  hier her gekommen?“

Der Mann schaute mit seinem Gesicht etwas unwissend und verloren zur Erde und gerade als er ihr sagen wollte „Ich weiß es nicht“, sagte er: „Jetzt fällt es mir ein, warum ich hier bin. Jemand, den ich nicht kenne, hat mich beauftragt, deine Träume zu suchen.“

Daraufhin erstarrte die Frau und sie stieß ihre Antwort bitter und trotzig aus ihrem halbverschlossenen Mund heraus: “Ich hatte nie Träume!“ Der Mann schaute sie lange freundlich an ohne etwas zu sagen und legte dann den Arm um sie. Die Frau begann zu schluchzen, über ihre Wangen rollten Tränen, die schließlich zu einem Tränenstrom anschwollen. Als sie aus den Tränenfluten wieder auftauchte, waren ihre Augen hellstrahlend voller Licht, in dem Leid und Kraft sich zu vereinen schienen. „Ja“, sagte sie, „ich hatte Träume, große Träume, Lebensträume, Liebesträume.“ Und es schien, als sie so redete, dass sich ihre Gestalt in die eines Engels verwandelte. Und ihre Stimme klang wie eine hellklingende  Glocke, die all die verlorenen Träume sammeln und herbeirufen wollte. Und sie sprach:

Ich träumte von einer Hand, die mich niemals fallen lässt und mich hält, wenn ich Angst habe, dass alles umsonst und wertlos ist, was ich bin und was ich tue.

Ich träumte von einem Menschen, den ich so lieben würde, dass nicht einmal der Tod etwas anhaben konnte.

Ich träumte von einer neuen Sprache, die alle Dinge so zärtlich benannte, dass auch noch das gröbste Ding durchsichtig werden konnte. Und die wichtigsten Worte in dieser Sprache waren DU und JA.

Ich träumte von einem Schiff, mit dem ich unendlich weit aufs Herzmeer hinaussegeln konnte und über mir nur der Sternenhimmel und der, der ihn geschaffen hat. Ich wollte Sternenbrücken bauen zum Freiheitsklang, zum Kinderherz.

Ich träumte von Blumen,- zart und fein, groß und stark-, bewegt vom sanftem Wind im Atemgarten.

Ich träumte von Lichtwellen, die mich durchströmten und die wie ein unauslöschlicher  Lichtschimmer blieben, wenn ich die Schatten der Nacht durchschritt.

Ich träumte von einem Tanz durch die Dunkelheit wie eine Blinde geführt von Erlösungston zu Erlösungston, Musik aus Verheißungsklängen aus dem Nichts, die alles zu bedeuten schienen.

Ich träumte von einer Wurzelwohnung, die mich vertrauensvoll wärmt und birgt, in der ich bedingungslos sein konnte. Ich träumte von einer Höhle, in der alle Seelennarben zuheilen und im Verborgenen neues Leben heranwächst.

Abstieg ist Aufstieg, Acryl auf Leinwand (Ausschnitt)

Und die Frau rief noch viele, viele andere Träume herbei und als sie geendet hatte, nahm der Mann seine Umhängetasche von der Schulter.  Er holte die zerbrochenen bunten Teile des Glasfensters heraus, die er gesammelt hatte und setzte die Bruchstücke zu einem bunten Mosaik zusammen. „Für dich“, sagte er zu der Frau, „deine Träume“, verlier sie nicht und lass sie dir nicht zerbrechen.

Kurz darauf erwachte ein Mann, der bei einer Wanderung auf einer Wiese sich etwas ausruhen wollte und dabei eingeschlafen war. Als er nach Hause kam, erzählte er seiner Frau: Ich hatte heute einen merkwürdigen Traum, und es war ganz eigenartig und das ist mir noch nie geschehen, dass ich im Traum noch einmal träumte.  Ist doch verrückt, was man nicht alles für komische Sachen träumt.

Gustav Schädlich-Buter