In dem Dokumentarfilm „Nicht ohne uns“ (Erscheinungsdatum 2017) von Sigrid Klausmann nach einer Idee von Walter Sittler, in dem Kinder und Jugendliche unterschiedlicher Kontinente befragt werden, sagt der 11-jährige Enjo aus der Schweiz: „Ich habe nicht den blassesten Schimmer, wieso ich in die Welt hineingeboren wurde.“
Wer darauf auch später keine Antwort findet, wird sich aller Voraussicht nach in einigen Jahre mit Lärm, Alkohol oder Internet betäuben, phantasielos und ohne Schwung seinen Job herunterreißen, mit Partner oder Partnerin angeödet vor dem Fernseher sitzen und nichts mehr Wesentliches in seinem Leben erwarten. Resignierte und abgestumpfte Menschen, die sich abgefunden haben mit den kleinen, harmlosen Wünschen und Annehmlichkeiten, und ein sogenanntes „normales“ Leben führen.
Welch trauriges Gegenbild zu der im Frühling aufbrechenden Natur, zur Wurzel- und Grünkraft der Bäume, zum Sprießen und Aufblühen der Gräser und Blumen. Haben wir uns von den Wurzeln des Lebens abgeschnitten und entfernt? Fehlen uns,- besonders uns in der westlichen Wohlstandsgesellschaft-, die Visionen und begeisternde Träume, die über die basalen Absicherungsbedürfnisse hinausgehen? (vgl. Joel 3,1) Leiden nicht viele an Übersättigung, auch durch die vielen jederzeit erhältlichen Information und medialen Inputs?
Jemand verglich Menschen, die im dauerhaften Wohlstand leben mit Zierfischen, welche im gefahrlosen, langweiligen Aquarium, -gefüttert und satt-, ihre langweiligen Runden schwimmen; nur ab und zu erinnern sie sich an die Tiefen und Abenteuer des großen Meeres, in dem sie einst schwammen, und machen dann kurze heftige Bewegungen.
Tatsächlich, so scheint es mir, sind die Türen der Sehnsucht für viele zugeschlagen und die Antennen für das Göttliche und alles Transzendente von den Häusern abmontiert, auch die Sprache für das Absolute ist verloren gegangen, die Kathedrale des „Heiligen“- besonders jene in der eigenen Seele- bleibt unbewohnt. Nicht wenigen scheint Berieselung und leichte Kost, Kreuzworträtsel und Televisionen von Privatsendern für das eigene Lebensglück zu reichen. Das große, tiefe und gefährliche Meer ist ebenso vergessen wie der unendlich weite Kosmos.
Die eigene Lebendigkeit und Sehnsucht wieder zu entdecken, hängt nach biblischer Auskunft an einer Inspiration (wörtlich „Einhauchung oder Beatmung“), also daran, dass wir neues Leben und Atem eigehaucht bekommen (vgl. die Schöpfungsgeschichte Gen 2,7, Joel 3,1). Daran erinnert auch das Pfingstfest, das wohl unverstandenste christliche Fest vom heiligen und heilenden Geist. Das lateinische Wort „spiritus“ bedeutet sowohl Geist wie auch Wind und Atem. Es geht um eine neue Beatmung unseres Inneren, unserer Seele, unseres womöglich matt und flach gewordenen Atemstromes. Dort, wo uns der heilige Wind anrührt, atmen wir tief ein und tief aus. Der Heilige Geist, das ist wie der Wind, der uns berührt und uns sanft über die Wangen streichelt, der uns heftig anbläst, dass wir aufwachen und in Bewegung kommen. „Komm Heiliger Geist“, heißt es in der Pfingstsequenzund löse uns aus unserer Starrheit, locke uns heraus aus den Gefängnissen unserer satten Trägheit und sende uns vom Himmel her deinen Weckruf. Weite unsere enge, kleinliche und egoistische Sichtweise, befreie unsere Seele zu Dir hin, zum Schöpfer allen wahren Lebens und zu den Menschen, für die wir verantwortlich sind.
Der Heilige Geist, das ist auch Feuerkraft und Licht, das die Dunkelheit unserer Welt und unserer Seele von innen her erleuchtet; Licht, das hell macht, was finster ist, und uns den Weg zeigt, wenn wir im Dunklen tappen, stolpern, gefallen sind oder an Abgründen uns bewegen. Die Strahlen dieses Lichtes sollen unseren Lebensweg erleuchten, damit wir weiter gehen können, besonders inmitten von Krisen und Umbrüchen, die uns herumbeuteln. Die Strahlen seines Lichtes, das vom Himmel herkommt (und nicht aus unserem Erkenntnisvermögen), soll uns neue Perspektiven eröffnen, uns die verdunkelnde Furcht und Angst nehmen, die uns blind macht für die uns innewohnende geschenkte Liebe, die unbedingt an uns glaubt und will, dass wir sind.
Howard Thurmann, amerikanischer Bürgerrechtsaktivist und Mentor von Dr. Martin Luther King jr. gibt für das Lebendigwerden noch folgende Empfehlung:
„Frage nicht, was die Welt braucht, frage dich selbst, was dich lebendig macht …und tue das; (denn) was die Welt braucht, das sind Leute, die lebendig geworden sind.“
Alles, was mich lebendig macht, belebt, inspiriert, ins Fließen bringt, könnte mich also zu meiner ur-eigenen Berufung führen.
Der Benediktiner David-Steindl-Rast hat dazu folgende grundlegende Fragen formuliert, die ich an Sie als Impuls weitergeben möchte:
Impuls:
Was würde ich wirklich gerne tun? Was bereitet mir eine tiefe und nachhaltige Freude?
Was kann ich gut? Wo bin ich gut? (worin drücke ich die Einzigartigkeit und Einmaligkeit meiner Person am besten aus? Was sind meine Talente und Begabungen?)
Welche Gelegenheit gibt mir das Leben gerade jetzt, um das zu tun, was mich mit Freude lebendig macht? Wozu lädt mich das Leben gerade jetzt ein? (um das herauszufinden, müssen wir aber anhalten und mit den Ohren des Herzens horchen und bereit sein, uns überraschen zu lassen)
Früher haben begrenzte Ressourcen, Anforderungen von Familie und Eltern, Zwänge von Religion und Gesellschaft das Privat-Ich in seine Grenzen verwiesen. Die Grenzen sind heute, in der westlichen Welt zumindest, weitgehend aufgehoben; dies hat einerseits zu großen individuellen Spielräumen geführt, andererseits aber eine suchtabhängige Gesellschaft produziert, Individuen geformt, die Gefangene des Konsums sind, Sklaven einer Ideologie des immer „Mehr“ auf allen Gebieten und zu einem Menschenbild, das sich weitgehend über Äußerlichkeiten und Oberflächlichkeiten definiert.
Sucht ist alltäglich geworden und sie durchdringt, wenn wir ehrlich sind, nahezu jedes menschliche Wesen.
Dabei gibt es viele Erscheinungsbilder der Sucht: Drogensucht, Alkoholismus, Nikotinsucht, Koffeinsucht, Esssucht, Arbeitssucht, Sucht nach Stress, Sexsucht, Spielsucht, das Sammeln von Geld…. Manche Süchte wirken sich schlimmer und zerstörerischer aus als andere und bedürfen dringend psychologischer und therapeutischer Behandlung. Der Psychiater Gerald May weist aber darauf hin, dass bei allen Süchten letztlich die gleichen neurologischen, psychologischen und geistigen Mechanismen am Werk sind, egal, ob es sich um stoffliche Süchte wie Alkohol oder Drogen handelt oder ob wir bestimmten Idealen anhängen, an bestimmte Selbstbilder gebunden sind, ob wir Macht anstreben, oder süchtig nach Bestätigung und Anerkennung sind. (Gerald May, Sehnsucht, Sucht und Gnade, München 1993)
Sucht missbraucht unsere Freiheit und veranlasst uns etwas zu tun, was wir eigentlich nicht wollen. Sucht verbindet sich oft mit einem gierigen Verhalten(auch wenn Sucht und Gier nicht einfach dasselbe sind, so steckt doch in jeder Sucht die Gier nach mehr) Raffgier, Profitgier, Kommunikationsgier… zerstören menschliche Gemeinschaft. Der Philosoph Spinoza sieht in der Habgier, aber auch im Ehrgeiz und in der Wollust, sogar Formen des Wahnsinns. Die ungezügelte Gier nach immer mehr kann irgendwann zerstörerisch wirken und dies nicht nur für das Individuum (der süchtige und gierige Mensch verliert die Beziehung zu sich selbst, zu seinen Gefühlen, kann nicht mehr wirklich genießen…), sondern für eine Gruppe oder eine ganze Gesellschaft. Gieriges und süchtiges Verhalten macht uns nicht glücklich, sondern unruhig und getrieben, versklavt uns an materielle Dinge, an Geld, Macht oder führt zu unfreien und toxischen Beziehungen. (vgl. Anselm Grün, Gier. Auswege aus dem Streben nach immer mehr, Münsterschwarzach 2015)
Alle Süchte beeinträchtigen die menschliche Freiheit und nehmen uns etwas von unserer Menschenwürde.
Die Sehnsucht nach Gott, die Energie im Innersten unseres Herzens, der Hunger nach bedingungsloser Liebe wird gebunden und gefangen gehalten durch die Sucht.
Aus spiritueller Sicht geht es darum, worauf der Benediktiner Anselm Grün hinweist, die Sucht wieder in Sehnsucht zu verwandeln, die uns über die irdische Welt hinausführt und als göttliche Spur in unser Herz eingepflanzt ist. Es gilt die verdrängte Sehnsucht nach Liebe, Geborgeheit und Angenommensein im süchtigen Verhalten wieder freizulegen. Die zerstörerischen Elemente der Gier- sie steckt ja in jedem Menschen – gilt es wieder in eine lebensspendende Kraft zu verwandeln, um im Herzen zur Ruhe zu kommen und eine innere Freiheit zurück zu erlangen.
Die geistliche Tradition bezeichnet das süchtige Gebundensein in der englischen Sprache mit „attachment“, was so viel wie „Angenagelt“ oder „Verhaftet-sein“ bedeutet. Unser innerstes Verlangen und Wollen wird an bestimmte Objekte „genagelt“. Sucht kettet unser Wollen und Verhalten an bestimmte Gegenstände, Stoffe, Ideen und Menschen. Sie verführt uns zum Götzendienst und zur Anbetung des goldenen Kalbes, um das all unser Denken, Wollen und Fühlen kreist.
Gefangen, Acryl auf Holz
Viele spirituelle Traditionen weisen auf die Gefahren von Sucht und Gier hin. Für den Buddhismus ist die Gier gar die Wurzel allen Übels.
Im Lukasevangelium warnt Jesus seine Schüler vor Gier und Habsucht (Lk 12, 15-21 und warnt sie und uns davor, sich an vergängliche Dinge zu klammern und dabei zu vergessen, ein sterbliche und endliche Mensch zu sein. Stattdessen erinnert er in einem anderen Gleichnis uns daran, in all unserem Planen und Sorgen, die Vögel des Himmels und die Lilien des Feldes sich zum Vorbild zu nehmen, die nicht säen und nicht ernten und dennoch gut leben unter den liebenden Augen Gottes. Es geht ihm um Sein statt Haben wie es der Erich Fromm formuliert hat.
Die christlichen Wüstenasketen, haben bevor sie in die Wüste zogen, allen ihren Besitz verschenkt, um Raum und innere Freiheit zu schaffen für ihre Gottessuche. Geist und Herz sollten aufgeräumt sein für ein ungehindertes Streben nach Gott. Diese Wüstenväter und Wüstenmütter waren um Loslösung bemüht; sie machten eine Gegenbewegung zum Verhaftetsein unseres Verlangens an materielle Dinge, an wechselnde Gefühle, an ungeordnete Leidenschaften, Begierden und Süchte. Loslösung, Widerstand, das heilige Nein, Verzicht auf Ablenkungen, aber am zentralsten das Vertrauen auf eine zu Hilfe kommende Gnade (weil wir mit eigenem Willen nicht fähig sind uns von Süchten, Zwängen und tiefgreifenden Abhängigkeiten zu lösen) sind integrale Bestandteile jeder geistlichen Lebensreise, die uns aus der Knechtschaft befreien und unser ursprüngliches Verlangen nach Gott wieder freilegen.
Impulsfrage: (nur hinschauen, nicht werten)
Wo in meinem Leben bin ich verhaftet und süchtig gebunden?
„Wandlungsprozesse- Heilungsräume- Metamorphosen oder es ist ein „Riss in allen Dingen, aber genauso kommt das Licht hinein“ (Leonhard Cohen)
„Das Christentum ist vorallem eine Religion für Menschen, die einen tiefen Riss in ihrem Leben erlebt haben“ (Thomas Merton)
In der Werbung und in den Medien werden uns vor allem perfekte, gutaussehende, attraktive, leistungsstarke, gesunde und unabhängige/autonome Menschen präsentiert. Models und Bodybuilder, rund um die Uhr arbeitende Manager*innen, Menschen, die sich unabhängig und völlig frei von allen Bindungen zeigen, angstfreie Abenteurer, die niemanden brauchen, Schönheiten, die nur sich selbst feiern,- das sind die modernen und unverwundbaren Held*innen unserer Zeit.
Doch dies ist aber nur die halbe Welt und oft mehr Schein als die Wahrheit. Die Versuchung ist gegeben beim oberflächlichen Blick und Sinneseindruck hängen zu bleiben und nicht dahinter und darunter zu schauen in die Tiefe menschlicher Existenz.
Das Leben von Philippe Pozzo di Borgo, der bis zu seinem 42. Lebensjahr Geschäftsführer des Champagnerunternehmens Pommery war, dann durch einen Gleitschirmunfall vom Hals ab querschnittgelähmt, ist vielen bekannt durch den Film „Ziemlich beste Freunde“. Er berichtet davon, wie er sich nach Erscheinen seiner Autobiografie vor Mails nicht mehr retten konnte, in denen alles Unglück der Welt auf seinem Bildschirm landete und die Unermesslichkeit der geschilderten Verzweiflung ihn überwältigte. In einem Interview mit Elisabeth von Thadden sagt er:
„Es klafft ein Abgrund zwischen den Anforderungen der Gesellschaft und dem, was sich in den Menschen zuträgt. Sie fühlen sich abgehängt, ausgeschieden, zerstört, beladen, gejagt, sie sind voller Scham und Angst, weil sie nicht leisten können, was man von ihnen verlangt, als Arbeitnehmer, als Familienväter, als Migranten oder Arbeitslose, es sind alle Lebenssituationen dabei, ob mit körperlicher Behinderung oder nicht. […] All diese Mails belegen ein massenhaftes Gefühl des Scheiterns. […] Die Menschen wollen ein sinnvolles Leben führen, sie wollen sich nicht fortgesetzt drängen und hetzen lassen. Jeder weiß oder ahnt doch zumindest, dass die menschliche Existenz zerbrechlich ist. Man glaubt nicht mehr an das Trugbild des ewig jungen und starken schönen Menschen. Die Zerbrechlichkeit muss wieder von den Rändern ins Zentrum rücken.“ (Philippe Pozzo di Borgo u. a., Ziemlich verletzlich, ziemlich stark, 2012, 8f.,)
Diese Verwundbarkeit menschlicher Existenz, so Pozzo di Borgo, werde verschleiert durch die vielfältigen Trugbotschaften der Medienkultur mit ihren überzogenen Wünschen und Ansprüchen an Leistung, Effizienz, Schönheit, ewige Jugend, Unverwundbarkeit, sogar Unsterblichkeit. Diese verzerrten nicht nur die Wirklichkeit, sondern führen auch zu einem fraglichen Menschenbild und zu permanenten Angstzuständen. Für Pozzo di Borgo sind elementare Beziehungen statt Gleichgültigkeit für das Glückserleben zentral; wechselseitige Abhängigkeit, ein Geben und Nehmen, das auf freundliche Weise geschieht, sei keine Minderung der Würde, sondern führe zum Glück.“ (vgl. Vogt, Schädlich-Buter, Spiritualität und Verantwortung, S.89)
Menschen mit einer Behinderung oder überhaupt Menschen in prekären Lebenssituationen stellen dazu ein Gegenbild dar, sind die Antihelden, die weder unabhängig noch leistungsstark sind, die nicht mit Statussymbolen protzen können, sondern zerrissen daherkommen (vgl. den Helden Zyklus von Baselitz). Menschen mit einer Behinderung sind so wichtig für unsere Gesellschaft, weil sie den zerbrechlichen und verwundbaren Teil menschlicher Existenz sichtbar machen, weil sie die Endlichkeit und Bruchstückhaftigkeit menschlicher Existenz bezeugen durch ihre bloße Anwesenheit, weil sie den Gläubigen sagen, was Gnade ist und was es mit der Sehnsucht auf sich hat jenseits aller Leistung geliebt und angenommen zu werden, und, weil gerade die schwerstbehinderten Menschen, uns die Angewiesenheit, Bedürftigkeit und Nacktheit unserer Existenz deutlich machen können, die jene durch nichts kompensieren können. Der Körper des behinderten Menschen ist der Ort für die bedingungslose Zuwendung eines Gottes, der bedingungslos liebt.
Menschen mit einer Behinderung sind Zeugen für das Ganze des Menschseins, weil sie den omnipotenten Helden oder Heldin infrage stellen und wie ein Protest wirken gegen die Hybris des gottgleichen Menschen, dessen einziger Bezugspunkt er selbst ist.
„Zerbrochen“, Acryl auf Leinwand
Diese Infragestellung menschlicher Allmächtigkeit und Omnipotenz geschah in den letzten Jahren auch durch die weltweiten Krisen, durch Corona, den Ukrainekrieg und zuletzt das schreckliche Erdbeben in der Türkei und Syrien.
„Es ist ein Riss in allen Dingen, aber genauso kommt das Licht hinein!“, heißt es im Lied Anthem von Leonhard Cohen und er will damit sagen, dass die Risse überall vorhanden sind, aber auch, dass aus den Rissen in unserem Leben, aus den Brüchen und Erfahrungen des Scheiterns, Neues und Schönes entstehen kann. (Dies ist der Ansatz einer „Spiritualität von unten“) Ja, dass sogar manchmal Altes, womöglich Überlebtes zerbrechen muss, damit eine neue, bislang noch ungeahnte Gestalt sich offenbaren kann. Der Bruch oder die Niederlagen kann eine Metamorphose einleiten, der über den Weg in die Tiefe eine neue Identität hervorbringt. Oder anders gesagt: das falsche, oberflächliche, egozentrische oder in festgezurrten Vorbahnungen sich bewegende Ego/Ich, wird aufgebrochen. Ein Bruch, ein Riss, der zunächst schmerzt, wehtut, die Orientierung nimmt und in einen Schwellenraum versetzt, der Monate, ja sogar Jahre dauern kann.
Der „Schwellenraum“ (Richad Rohr) ist der Übergangsraum, in dem das Alte nicht mehr gilt und das Neue noch nicht aufgetaucht ist. Bilder und Prototypen für diesen Zustand sind Jona, der im Walfischbauch sitzt oder Hiob im Dreck und im Schmerz seiner ganzen Verluste. Doch in der Tiefe kann etwas wachsen ohne unser Zutun. „Er schläft und steht wieder auf, es wir Nacht und wird Tag, der Samen keimt und wächst, und der Mann weiß nicht wie.“ (Markus 4,26) Und manchmal ist es ein Hoffnungsschimmer, der die Dunkelheit erleuchtet, eine Kraft, die von irgendwoher kommt und sagt, „Jetzt nicht aufgeben!“ und „Am Leben bleiben!“. Meister Eckhart sagt, wenn ich nicht zugrunde gegangen wäre, also in den Grund meiner Existenz, dann wäre ich zugrunde gegangen. Am Grund meiner Existenz lässt sich das wahre Selbst entdecken, an dessen Tür, inständig und mit viel Geduld der klopft, den Johannes vom Kreuz als den „Ich weiß nicht was“ bezeichnet.
Der „Schwellenraum“ kann zum „Heilungsraum“ werden, der für unterschiedliche Menschen ganz unterschiedlich aussehen kann: manche bekommen durch die Kraft der Natur neuen Antrieb für ihr Leben. So der bekannte Sozialfotograf Sebastiao Salgado, der nach erschütternden Erfahrungen des Genozids in Ruanda den Glauben an die Menschheit verloren hat, und im Pflanzen eines Waldes neue Kraft schöpft. Oder Ingrid Leitner, die Gründerin des CBF (Clubs Behinderter und ihrer Freunde), die mit 15 Jahren an Polio erkrankte, hat ihre Wohnung in eine grüne Oase verwandelt, wodurch sie viel Kraft bekam. (Autobiografie von Ingrid Leitner, Das Leben der Sternentaucherin). Andere entdecken in der Kunst und kreativen Schaffen einen Weg das Leid und die Gebrochenheit zu durchschreiten, finden in der Malerei wie Frieda Kahlo ein Ausdrucksmittel für ihr innerstes Erleben, in der Trauer, Schmerz und unbändige Lebensfreude zugleich auftaucht. Wieder andere entdecken wie Philippe de Bozo, Chef einer großen Champagnerfirma und nach einem Gleitschirmabsturz vom Hals ab gelähmt- vielen durch den Film „Ziemlich beste Freunde“ bekannt-, die Wichtigkeit von Beziehung zu anderen Menschen, aber auch wie wesentlich die Stille im Leben ist. Helen Keller, die mit zwei Jahren Augenlicht und Gehör verliert, sagt: „Wenn eine Tür des Glücks sich schließ, öffnet sich eine andere, aber oft starren wir so lange auf die geschlossene Tür, dass wir die, die sich uns geöffnet hat nicht sehen. Helen Keller findet eine Aufgabe, die auch Heilungsraum ist, im Engagement für andere blinde Menschen, aber sie setzt sich auch für die Rechte der Schwarzen und die Frauenrechte ein. Wer sich um andere kümmert, trägt auch zu seiner eigenen Heilung und zum eigenen Wohlbefinden bei statt nur um sich selbst zu kreisen. (vgl. frei nach Jesaja 58,10: Wenn es dir dreckig geht, dann mach dich auf und kümmere dich um die Ärmsten, Notleidenden und teile dein Brot mit ihnen, dann wird in Kürze dein Licht wieder aufleuchten).
Es gibt auch verwundete Heiler, manche wie Claude Anshin, der sich vom Killer im Vietnamkrieg und PTB- Störungen, Drogen und Alkohol nach seiner Rückkehr nach Amerika, schließlich zum buddhistischen Mönch wandelt. Er findet über den vietnamesischen Mönch Thich Nhat Hanh zur Meditation, und zu einer neuen Lebensaufgabe und Berufung als Friedensaktivist.
Thomas Merton, der durch sein Buch „The Seven Storey Mountain“ (deutsch: Der Berg der sieben Stufen) weltbekannt gewordene Trappistenmönch, erkennt im Laufe seines Lebens, dass echtes spirituelles Leben aus dem Dunkel und aus dem Scheitern wächst, und dass der Weg zu Gott durch die Wüste führt. Nur so könnte man das eingebildete, falsche, kranke und egozentrische Ego überwinden. Eine „Spiritualität von unten“ besagt, dass im „Riss“ und in den Brüchen des Lebens, die Chance liegt, dass sich die Türen der Seele öffnen für das Nahekommen Gottes als einem, der bedingungslos liebt und annimmt. Der „Riss“, wo wir am Ende unserer Kräfte sind und unsere Ohnmacht eingestehen müssen (wie die anonymen Alkoholiker) kann wie eine Öffnung sein, durch welche ein Licht in uns einströmt, dass wir nicht selbst erzeugen können.
„Ein Trauma stellt die Betroffenen vor einen Wendepunkt in ihrem Leben und kann trotz aller Verletzungen, die Möglichkeit bieten, gestärkt aus ihm hervorzugehen. Eine wichtige Voraussetzung dafür ist, dass sich der Einzelne der Realität stellt, anstatt sie zu leugnen oder zu verdrängen, und das Unglück als Teil seines Lebens annimmt. In der Resilienzforschung wird diese Fähigkeit Akzeptanz genannt.“ (Vogt, Schädlich-Buter, Spiritualität und Verantwortung, S.52) In der Kunst könnte man an Joseph Beuys Installation „Zeige deine Wunde“ denken oder an das Bild von Caravaggio „Der ungläubige Thomas“, dem Jesus seine offene Wunde hinhält und die Möglichkeit eröffnet, sie zu berühren. Um in der Akzeptanz des Verlustes, der Trauer um Unwiederbringliches, im Scheitern von Lebensplanungen nicht aufzugeben und Hoffnung zu finden, ist es wichtig durch den Schmerz, das Leiden und die Trauer zu gehen, manchmal auch nur auszuhalten, was mir da widerfährt. Emmy Werner sagt zu resilienten Menschen „vulnerable but invincible“, und meint, dass es sich bei diesen Menschen nicht um unverwundbare Helden/Held*innen handelt, sondern nur, dass sie sich durch die Lebenskrisen nicht unterkriegen lassen und dadurch ein psychisches Immunsystem entwickeln. Für die Reifung durch eine Krise gibt es kein Rezept, aber wer es wagt, sich mit seinen Lebenswunden anderen Menschen oder Gott zu öffnen und anzuvertrauen, für den entspringt nicht selten eine Quelle der Hoffnung.
Biblisch könnte man an dieser Stelle an das Paulus Wort denken: „Wenn ich schwach bin, dann bin ich stark“ (2 Kor 12,10) Es gilt im Prozess der Verarbeitung auch die dunklen Gefühle (auch Suizidgedanken), die offenen und ungelösten Fragen, die mit der Lebenskrise einhergehende Verunsicherung und Verzweiflung, die Frage nach dem Sinn dessen, was mir das Leben zugemutet und auferlegt hat, die Leere, in der sich kein Gott zeigen will (vgl. das Gedicht von Jean Paul „Siebenkäs“),….zu stellen. Das Leid bleibt unerlöst, wenn es keinen Ausdruck findet. Wer sich verletztlich zeigt, eröffnet Reifungsprozesse.
Wer durch eine Lebenskrise hindurch gegangen ist, hat sich verwandelt (das bestätigen nicht nur die Ergebnisse der Traumaforschung, sondern auch die Berichte von Nahtoderfahrungen wie sie der Philosophieprofessor Godehard Bruntrüp S.J. eindrucksvoll beschreibt). Menschen, die durch Leid und Krisen gegangen sind, werden wie auch Forschungen zeigen, empathischer, liebesfähiger, entwickeln eine neue Wertehierarchie; sinnerfüllte Beziehungen sind wichtiger als Erfolg im Beruf; das eigene Ich öffnet sich stärker für den anderen, erlebt mehr Verbundenheit, kreist weniger um sich selbst, wird sehender für die Not des Anderen und lebt von einem inneren gottnahen Zentrum her, das frei ist von außen auferlegten Bedingungen und Strukturen des Funktionierens und Wertgeschätzseins in Welt und Gesellschaft. Die spirituelle Sprache spricht hier vom wahren Selbst.
Der Franziskaner Richard Rohr schreibt: „Unser falsches Selbst, das wir auch unser „kleines Selbst“ nennen könnten, ist unsere Startrampe: unser Körperbild, unser Job, unsere Ausbildung, unsere Kleidung, unser Geld, unser Auto, unsere sexuelle Identität, unser Erfolg und so weiter. Dies sind die Insignien des Egos, die wir alle benutzen, um uns durch einen gewöhnlichen Tag zu bringen. Sie sind eine schöne Plattform, auf der man stehen kann, aber sie sind weitgehend eine Projektion unseres Selbstbildes und unserer Anhaftung daran. Keiner von ihnen wird von Dauer sein! Wenn wir in der Lage sind, über unser falsches Selbst hinauszugehen – zur richtigen Zeit und auf die richtige Weise – wird es sich genauso anfühlen, als hätten wir nichts verloren. In der Tat wird es sich wie Freiheit und Befreiung anfühlen. Wenn wir mit dem Ganzen verbunden sind, müssen wir den bloßen Teil nicht mehr schützen oder verteidigen. Wir sind jetzt mit etwas Unerschöpflichem verbunden. Unser falsches Selbst nicht zur richtigen Zeit und auf die richtige Weise loszulassen, ist genau das, was es bedeutet, festzustecken, gefangen und süchtig nach uns selbst zu sein.
Und James Finley, einst Novize bei Thomas Merton, später Traumatherapeut, reflektiert Merton`s Lehre über das Wahre Selbst und das separate (oder falsche) Selbst:
Unser wahres Selbst ist ein Selbst in Gemeinschaft. Es ist ein Selbst, das in Gottes ewiger Liebe besteht. Ebenso ist das falsche Selbst das Selbst, das außerhalb dieser geschaffenen bestehenden Gemeinschaft mit Gott steht, die unsere Identität bildet…..In unserem Eifer, die Vermieter unseres eigenen Seins zu werden, klammern wir uns an jede Errungenschaft als eine Art Bestätigung unserer selbsternannten Realität. Wir werden zum Zentrum und Gott zieht sich irgendwie an einen unsichtbaren Rand zurück. Andere werden in dem Maße real, in dem sie zu bedeutenden anderen für die Pläne unseres eigenen Egos werden. Und in diesem Prozess stirbt das GANZE Gott in uns und das sterile Nichts unserer Wünsche wird zu unserem Gott. Merton macht deutlich, dass die selbsternannte Autonomie des falschen Selbst nur eine Illusion ist…“ (vgl. Homepage des CAC, Center für action and contemplation)
Der Prophet Ezechiel spricht davon, dass G*tt das Herz von Stein aus unserer Brust nimmt und uns ein neues lebendiges Herz schenkt. (Ez 11, 19.20) Ein Herz, das barmherzig ist und nachsichtig gegenüber Fehlern und Schuld ist, und das sich solidarisch an die Seite der Menschen stellt, die an den Rand gedrängt werden und Ungerechtigkeit erleiden. Ein Herz, das nicht gleichgültig zusieht, wie Menschen exkludiert oder misshandelt werden. Gerade die Gleichgültigkeit ist Zeichen eines verschlossenen, tauben, fühllosen Herzens wie wir es sehen angesichts der ertrinkenden Migranten im Mittelmeer. Wer sich um andere kümmert und sorgt, entgrenzt sein Herz, überschreitet/transzendiert sich selbst und öffnet sich der Kraft verwandelnder Liebe.
Aus einer theologischen Perspektive gehören Leid, Schuld, Scheitern und Ungerechtigkeit zentral zum menschlichen Leben, das oft nicht nach unseren Vorstellungen läuft. Nicht umsonst ist das Kreuz zentrales Erlösungssymbol der Christen. Das Leiden und Scheitern hat nicht das letzte Wort, sondern ist ein Durchgangsweg zur Auferstehung und zu neuem, verwandeltem Leben; insofern dient der Weg Jesu auch als Modell für menschliche Transformationsprozesse. „Deinen Tod, o Herr, verkünden wir und deine Auferstehung preisen wir“, lautet das Geheimnis des Glaubens. Christliche Hoffnung ist kein blinder Optimismus, sondern eine Gewissheit, die durch die Erfahrung des Kreuzes hindurchgegangen ist. Mitten im Fragmentarischen des eigenen Lebens ahnen manche etwas von einem Ganzen, das allein mit der Kraft des Willens nicht hergestellt werden kann. Heilungsprozesse ereignen sich meist so, dass ein „Anderer“ (G*tt) oder etwas anderes jenseits meines eigenen Wollens und Vermögens, die Bruchstücke meines Lebens zu etwas ganz Neuem, zuweilen mit unendlicher Geduld, zusammenfügt. Schönheit und Hässliches, Verzweiflung und Hoffnung liegen in der menschlichen Seele oft ineinander verschränkt. Sobald ich das eine weglasse, verbanne ich das Andere mit. Wenn ich Schmerz zulasse, öffne ich mich auch für die Schönheit und das Neue, das werden will. Die japanische Kunst des Kintsugi, wo Vasen zerbrochen und dann mit Gold-Leim wieder zusammengesetzt werden, können als Metapher gelesen werden für eine neue Ganzheit, für die Heilung des Gebrochenen und wie aus Bruchstücken eine neue Schönheit entsteht.
Liturgisch lässt sich angesichts der Zerbrechlichkeit und Verwundbarkeit menschlicher Existenz an das Brotbrechen der Eucharistie denken (wie es der Priester und Lyriker Andreas Knapp in seinem Buch „Vom Segen der Zerbrechlichkeit“ herausgearbeitet hat). Der die rituelle Handlung begleitende Satz „Seht zerbrochen für uns…“ erinnert daran, dass sich die Bruchstelle Jesu und unsere eigenen Bruchstellen zu einem Ganzen zusammenfügen. Allerdings nur dort, wo ich bereit bin, die Bruchstellen meines Lebens hinzuhalten, weil glatten und abgerundeten Stellen keine Anknüpfungsmöglichkeit bieten.
Was kann man zum Neuen Jahr Besseres wünschen, als dass es wieder aufwärts gehen soll. Aber dieses Aufwärts kann so und so verstanden werden. Die einen wünschen sich, dass nach Corona und Energiekrise die Wirtschaft neu angekurbelt wird, die anderen hoffen nach einer Krankheit oder einem Burnout, dass es wieder aufwärts geht und ein Neustart gelingt.
Die französische Sängerin ZAZ, mit bürgerlichem Namen Isabelle Geffroy, beschreibt in Ihrem Lied „Tout la-haut“ einen anderen Aufstieg; ein Aufstieg der Seele, ein Aufstieg zum wahren Selbst jenseits falscher Gewissheiten und Sicherheiten. Jenseits von Schein und nach außen gezeigten unbeschwerten Masken, so der Liedtext, liegt oft ein verletztes und verbranntes Kind. Hinter dem selbstsicheren Ego lauern die versteckten Risse der Kindheit. Der Weg nach oben bedeutet für die Sängerin, das Wahre vom Falschen zu entwirren; dabei ist es wichtig, die Einsamkeit und Ruhe schätzen zu lernen, von den Künstlichkeiten zu lassen, um endlich herauszufinden, warum wir existieren und warum wir uns gegen manches wehren. Sie fordert den Hörer des Liedes auf, diesen Weg nach oben zu nehmen, der im Grunde eher einem Abstieg gleicht, in die Tiefen und versteckten Verletzungen des inneren Kindes, und der verlangt, die Täuschungen und falschen Selbstsicherheiten zu entlarven. (zum Lied: ZAZ – Tout là-haut (Clip officiel) – Bing video)
Die Sängerin ZAZ beschreibt im Grunde einen Heilungsweg, der immer dort beginnt, wo wir anfangen und riskieren in der Gegenwart eines anderen über das zu reden, was uns am meisten verletzt. Die gebrochenen und verletzten Stellen in uns brauchen die meiste Liebe und Barmherzigkeit; denn gerade dort, wo wir keinen Ort und keinen Menschen haben, dem wir uns öffnen können, gibt es eine Neigung in uns, uns selbst zu betrafen und „runter“ zu ziehen. Wer sich nicht willkommen und übersehen fühlt, neigt nicht selten zu einer trotzigen Fassade, welche die Trauer über die Ablehnung und die innere Unsicherheit überspielt und zu einem Leben im falschen Selbst führt.
Das wahre Selbst zu entdecken, ist eine der zentralen Herausforderungen auf jedem spirituellen Weg. Dazu ist unabdingbar den eigenen Wunden zu begegnen. Verletzungen, die jemand verbirgt, können zur Selbstverachtung und zur Überzeugung führen, nichts wert zu sein. Ohne Kommunikation und Offenheit entwickelt sich kein gesundes Zugehörigkeitsgefühl und ohne die unbedingte Liebe von jemanden, der an uns glaubt und will, dass wir leben, entwickelt sich ein psychisches Schuldgefühl, nicht liebenswert zu sein.
Ausnahmslos alle Menschen fühlen sich zuwenig geliebt, können daher nur unzureichend lieben und erscheinen daher auch so wenig liebenswert, behauptet der Philosoph Adorno. Ungeliebten Menschen moralische Forderungen und Imperative zu solidarischer Liebe aufzuerlegen („Du sollst deine Feinde lieben, Migranten aufnehmen, das Klima schützen, Verzichten, Opfer bringen…), verfestigt nur die Kälte und Erstarrung, die ungeliebte Menschen in sich spüren. Menschen, die sich für wertlos erachten, blockieren auch die in ihnen steckenden Potentiale. Forderungen allein geben keine Liebeskraft, sondern machen defensiv.
„Aufwärts“ geht es erst, wenn wir hören und unser Herz dafür öffnen, was kein Mensch sich selber sagen kann: „Du bist geliebt!“, „Du bist geschätzt!“, „Du bist gewollt!“, „Du bist mir wertvoll und teuer!“ Erst die Erfahrung bedingungslos geliebt zu sein, ermöglicht, dass Menschen ihrerseits lieben und solidarisch handeln können. Wer eine solche Zusage erhält und daran glaubt (das kann uns niemand abnehmen), der kann die Schönheit der Welt wieder wahrnehmen und „die Sterne schmecken da oben“, wie es die Sängerin ZAZ in ihrem Chanson poetisch ausdrückt.
Die religiöse Sprache würde sagen: der heilende und bedingungslose Energie- und Lebensstrom göttlicher Güte und Barmherzigkeit, der allen Menschen gilt, also inklusiv ist, verwandelt unsere Wunden, wenn wir die Tür unseres Herzens dafür aufschließen. Dadurch eröffnet sich der tiefere Sinn unserer Existenz und das, was hineinströmt, drängt geradezu, überzufließen zu unseren Mitmenschen. Denn Verantwortung und solidarisches Handeln lässt sich nicht von außen verordnen, sondern erwächst unmittelbar aus einer Beziehung, die als Geschenk und Gnade erlebt wird.
Er wußte nicht, was ihn dazu antrieb, aber er stieg hinunter in den dunklen Raum, dessen Tür sich plötzlich vor ihm auftat; viele Treppen hinunter in ein dunkles Reich, das von keinem Lebewesen bewohnt schien. Auf dem Boden lagen die Scherben eines zerbrochenen bunten Glasfensters.
Etwas in ihm drängte ihn dazu, die bunten, überall zerstreuten Scherben in einer Tasche, die er immer bei sich trug, aufzusammeln. Nur sehr wenig Licht strömte durch das zerbrochene Fenster noch herein, aber zumindest war der Raum nicht ganz dunkel, so dass ein Gang sichtbar wurde, der zu weiteren scheinbar unbewohnten Räume führte. Vorsichtig öffnete der Mann eine halb offenstehende Tür und gerade als er einen Schritt hineinwagen wollte, stieß er an einen lebendigen Körper. Erschrocken zuckte er zusammen, als ein leises Wimmern und Klagen einer ängstlichen Stimme an sein Ohr drang. Kaum sichtbar durch das wenige Licht, erkannte er aber, da seine Augen sich inzwischen an die Dunkelheit gewöhnt hatten, die Gestalt einer Frau, die an einer Säule lehnte. Ihre Haare waren wirr verstrubbelt, aber alles an ihr schien durcheinander; ihr Kleid war zerrissen und sie hatte keine Schuhe an den Füßen. „Wer bist du“, fragte der Mann , und: „Wie kommst du hier her?“ „Was ist das überhaupt für ein Kellerraum, in dem wir sind?“. Die Frau schaute ihn mit aufgerissenen Augen an und sagte lange kein Wort. Dann, als müsste sie erst wieder die verloren gegangenen Worte ihrer Sprache zusammensetzen, öffnete sie den Mund und würgte einige unverständliche Laute hervor, die wie „kraks“ oder „crux“ klangen. Der Mann nahm sie -ohne weiter mit Fragen zu bedrängen- beim Arm und half ihr auf, sie konnte kaum laufen, war sehr geschwächt, konnte sich kaum aufrechthalten, aber mit seiner Hilfe schaffte sie es bis zum Hauptraum, wo durch das zerschlagene Fenster gedämpftes Licht hereinfiel. Der Mann zog seine Jacke aus, legte sie auf den Boden und half der Frau, sich darauf nieder zu lassen. Die Frau legte sich darauf und schlief nach kurzer Zeit ein. Der Mann saß bei ihr und von Müdigkeit übermannt, schlief auch er ein. Im Traum sah er die Frau erneut; sie stand ihm jetzt gegenüber, sie hatte ihre Sprache wieder gefunden und redete klar und deutlich folgenden Satz an den Mann gerichtet: „Wir sind hier im Reich der verlorenen Träume. Aber was suchst Du hier? Warum bist du denn hier her gekommen?“
Der Mann schaute mit seinem Gesicht etwas unwissend und
verloren zur Erde und gerade als er ihr sagen wollte „Ich weiß es nicht“, sagte
er: „Jetzt fällt es mir ein, warum ich hier bin. Jemand, den ich nicht kenne,
hat mich beauftragt, deine Träume zu suchen.“
Daraufhin erstarrte die Frau und sie stieß ihre Antwort
bitter und trotzig aus ihrem halbverschlossenen Mund heraus: “Ich hatte nie
Träume!“ Der Mann schaute sie lange freundlich an ohne etwas zu sagen und legte
dann den Arm um sie. Die Frau begann zu schluchzen, über ihre Wangen rollten
Tränen, die schließlich zu einem Tränenstrom anschwollen. Als sie aus den
Tränenfluten wieder auftauchte, waren ihre Augen hellstrahlend voller Licht, in
dem Leid und Kraft sich zu vereinen schienen. „Ja“, sagte sie, „ich hatte
Träume, große Träume, Lebensträume, Liebesträume.“ Und es schien, als sie so
redete, dass sich ihre Gestalt in die eines Engels verwandelte. Und ihre Stimme
klang wie eine hellklingende Glocke, die
all die verlorenen Träume sammeln und herbeirufen wollte. Und sie sprach:
Ich träumte von einer Hand, die mich niemals fallen lässt
und mich hält, wenn ich Angst habe, dass alles umsonst und wertlos ist, was ich
bin und was ich tue.
Ich träumte von einem Menschen, den ich so lieben würde,
dass nicht einmal der Tod etwas anhaben konnte.
Ich träumte von einer neuen Sprache, die alle Dinge so
zärtlich benannte, dass auch noch das gröbste Ding durchsichtig werden konnte.
Und die wichtigsten Worte in dieser Sprache waren DU und JA.
Ich träumte von einem Schiff, mit dem ich unendlich weit
aufs Herzmeer hinaussegeln konnte und über mir nur der Sternenhimmel und der,
der ihn geschaffen hat. Ich wollte Sternenbrücken bauen zum Freiheitsklang, zum
Kinderherz.
Ich träumte von Blumen,- zart und fein, groß und stark-, bewegt
vom sanftem Wind im Atemgarten.
Ich träumte von Lichtwellen, die mich durchströmten und die
wie ein unauslöschlicher Lichtschimmer
blieben, wenn ich die Schatten der Nacht durchschritt.
Ich träumte von einem Tanz durch die Dunkelheit wie eine
Blinde geführt von Erlösungston zu Erlösungston, Musik aus Verheißungsklängen
aus dem Nichts, die alles zu bedeuten schienen.
Ich träumte von einer Wurzelwohnung, die mich vertrauensvoll
wärmt und birgt, in der ich bedingungslos sein konnte. Ich träumte von einer
Höhle, in der alle Seelennarben zuheilen und im Verborgenen neues Leben
heranwächst.
Abstieg ist Aufstieg, Acryl auf Leinwand (Ausschnitt)
Und die Frau rief noch viele, viele andere Träume herbei und als sie geendet hatte, nahm der Mann seine Umhängetasche von der Schulter. Er holte die zerbrochenen bunten Teile des Glasfensters heraus, die er gesammelt hatte und setzte die Bruchstücke zu einem bunten Mosaik zusammen. „Für dich“, sagte er zu der Frau, „deine Träume“, verlier sie nicht und lass sie dir nicht zerbrechen.
Kurz darauf erwachte ein Mann, der bei einer Wanderung auf einer Wiese sich etwas ausruhen wollte und dabei eingeschlafen war. Als er nach Hause kam, erzählte er seiner Frau: Ich hatte heute einen merkwürdigen Traum, und es war ganz eigenartig und das ist mir noch nie geschehen, dass ich im Traum noch einmal träumte. Ist doch verrückt, was man nicht alles für komische Sachen träumt.
In der letzten Phase unserer Ausbildung zur Seelsorge hatten wir einen Kurs mit Pater Josef Sudbrack, einem Jesuiten, der ein anerkannter Fachmann für Spiritualität und Mystik war. Neulich fiel mir Pater Sudbrack, der inzwischen verstorben ist, wieder ein, aufgrund eines kurzen Gesprächs, das ich mit ihm hatte. Pater Sudbrack war kriegsverwundet und ihm musste deshalb als 19 Jährigem 1944 ein Bein amputiert werden. Und so kamen wir auf den Krieg zu sprechen und ich fragte ihn, wie er das alles seelisch heil überstanden hat. Er sagte, dass all die schlimmen Erfahrungen, auch der Verlust seines Beines, ihn nicht wirklich aus der Bahn geworfen haben, denn er habe eine so gute und behütete Kindheit in Trier bei seiner Eltern, die eine Bäckerei hatten, erlebt, dass selbst das Schreckliche des Krieges diese Basis nicht zu zerstören vermochte. Das beeindruckte mich damals sehr. Glücklich also, wer eine so gute Basis für sein Leben bekommen hat, ein Urvertrauen, das wie ein Haus der Persönlichkeit stabil steht, dass es allen Stürmen des Lebens trotzen kann und selbst wenn es die im Leben unvermeidlichen Risse gibt nicht einstürzt. Das Wort Vertrauen reißt viele Themen an: Urvertrauen, Selbstvertrauen, Gottvertrauen…Wer schenkte mir Vertrauen und wem vertraue ich?
Ohne konkrete Personen zu nennen, würde ich auf die letzte
Frage antworten:
Vertrauen schenke ich der Person, die mich annimmt wie ich
bin mit meinen Stärken und meinen Schwächen, die mir meine Fehler verzeiht und
mich in keine Schublade einsperrt, die es ehrlich mit mir meint sowohl was Lob
als auch was Kritik betrifft, und die mich nicht für irgendwelche Zwecke
missbraucht statt mich um meiner selbst willen gern zu haben; und sie müßte „da“
ist, wenn ich in Not und Hilfe brauche.
Die Entwicklungspsychologen weisen uns daraufhin, das
Vertrauen nicht angeboren ist, sondern sich entwickeln und entfalten muss,
vorallem durch verlässliche und verbindliche Beziehungen; Vertrauen baut sich auf über Blickkontakt, Sprache,
Dialog, und über Einfühlung, in das, was
ein Baby oder Kleinkind an Nahrung und Schutz braucht. Wem Vertrauen geschenkt
wird, der kann zu einem vertrauenswürdigen Menschen heranwachsen und später
selbst Vertrauen wagen. Wer als Kind ständig kritisiert, bevormundet,
besserwisserisch abgekanzelt, überängstlich beschützt, mit ambivalenten
Botschaften gefüttert, oder ausschließlich nach seiner Leistung in der Schule
beurteilt wurde, der kann im Leben als Erwachsener nur schwer ein Vertrauen in
sich selbst entwickeln und auch Krisen schwerer bestehen. Menschen ohne
vertrauensvolle Beziehungen werden nicht selten über kurz oder lang krank an
Leib und Seele. Heilung liegt im geschenkten Vertrauen anderer Personen.
Vertrauen ist also zunächst ein Geschenk, durch das ich mich selbst als
liebenswert erleben kann, und das ich mir nicht selbst geben kann.
Beschützt und getragen
Wer vertrauensvolle Beziehungen erlebt, bekommt Vertrauen in
sich selbst und die eigenen Fähigkeiten, bekommt Selbstwert, es wächst im Kind die Lust, in die Welt“ hinaus zu gehen und
seine Talente zu erproben. Vertrauen scheint so elementar wie die Luft zum
Atmen. Dort, wo es fehlt, auch in Arbeitskontexten, wo es keinen
Vertrauensvorschuss mehr gibt, der Spielräume schenkt, herrscht früher oder
später eine Atmosphäre der Kontrolle, Überwachung und Angst. Auch in
Partnerschaften führt mangelndes Vertrauen zu Eifersucht, und Mißtrauen. Jeder
Vertrauensvorschuss birgt natürlich auch das Wagnis in sich, enttäuscht zu
werden, wobei ja niemand seinen Verstand völlig ausschalten muss, um allzu naiv
und vertrauensselig ins offene Messer zu laufen.
Doch jede wichtige Entscheidung braucht Vertrauen, ob bei
der Berufs- oder Partnerwahl. Eine absolute Sicherheit gibt es nicht, was uns
gerade die Pandemie überdeutlich vor Augen führt. Aber schon vor Corona
stellten sich viele Menschen die Frage: Ist diese Welt vertrauenswürdig?
Überall auf der Welt Fake News, Korruption, Ungerechtigkeit und Machtmißbrauch.
Wem kann ich noch wirklich vertrauen? Angst und Unsicherheit haben sich
besonders in unsere Wohlstandsgesellschaften eingeschlichen und sich mit der
Coronapandemie verstärkt. Viele Menschen erleben einen Kontrollverlust, sind
vom bekannten Weg in ein für nicht wenige äußerst bedrohliche erlebtes unbekanntes Gelände
abgesetzt worden; die Institutionen, die Sicherheit geben sollen, Politik und
Kirche zum Beispiel, scheinen sich auch nur mühsam im Nebel vorantasten zu
können.
Was ist jetzt mit dem Vertrauen? Wie können wir es
zurückgewinnen, zumindest soweit, dass uns die Ängste und Unsicherheiten des
Lebens angesichts der Pandemie nicht verschlucken?
Vielleicht hilft uns schon die Einsicht etwas weiter,
dass es sowieso eine Illusion ist, an eine absolute Sicherheit zu glauben. Wer
hätte nicht schon im eigenen Leben erlebt, dass Pläne durchkreuzt wurden (wer
wüßte dies nicht besser als viele, die in der Pfennigparade leben und arbeiten),
dass es Überraschungen gab, die uns einen Strich durch die Rechnung gemacht
haben, dass die letzte Etappe zum Berggipfel durch einen unvorhersehbaren
Wettereinbruch verhindert wurde, oder wie neulich der Weltumsegler Boris
Herrmann kurz vor dem Ziel, in das er als Sieger hätte einlaufen können, mit
einem „blöden“, unbeleuchteten Fischkutter zusammenprallte.
Manches im Leben braucht wohl den Abstand im Humor,
gewiss manchmal mag es Galgenhumor sein. So sagte schon Benjamin Franklin,
einer der Gründerväter der Vereinigten Staaten, zu unserem tief verankerten Bedürfnis
nach Sicherheit etwas augenzwinkernd: „Nichts in dieser Welt ist sicher,
außer dem Tod und den Steuern.“ Auch so manche gelassene und lange
gewachsene Lebensweisheit, kann uns wieder auf den Boden des Vertrauens
bringen, wie es der kölsche Glaubenssatz zum Ausdruck bringt: “Et kütt, wie
et kütt! Et hätt noch emmer joot jejange! Wat fott es, es fott! Et bliev nix,
wie et wor! Wat wells de maache!“ Übersetzt: Es kommt wie es kommt, – damit
begegneten die Rheinländer sowohl den durchziehenden Heeren wie auch dem
Rheinhochwasser; und mit „es ist noch immer gut gegangen“, wollten sie sagen,
dass wir uns nicht in einem rabenschwarzen Pessimismus und den damit
verbundenen zerstörerischen Kräften überlassen sollten. Warum also nicht
einwenig nach all den sicher wichtigen und notwendigen Anstrengungen einwenig
kluge Schicksalsergebenheit und ein positiver Fatalismus, der eingesteht, dass
wir nicht alles in der Hand und unter Kontrolle haben können(vgl. dazu
ausführlicher das kluge Buch „Lob des Fatalismus“, vom SZ Journalisten Matthias
Dobrinski, dem ich wichtige Anregungen verdanke und das ich als Lektüre sehr
empfehlen kann). Oder wer es etwas religiöser haben will, dem mag die Einsicht
und Bitte des amerikanischen Theologen Reinhold Niebuhr ans Herz gelegt werden:
„Gott, gib mir die Gelassenheit, Dinge hinzunehmen, die ich nicht ändern
kann, den Mut, die Dinge zu ändern, die ich ändern kann, und die Weisheit, das
eine vom anderen zu unterscheiden.“
Sicher sind es, um auf Pater Sudbrack zurück zu kommen, auch
ganz konkrete Menschen, die Vertrauen und Ruhe ausstrahlen in dieser unsicheren
Zeit und uns zumindest für Momente mit hineinnehmen in dieses Urvertrauen, dass
die Welt schon gut und vertrauenswürdig ist, wie es uns Genesis in der
Schöpfungsgeschichte verspricht.
Und nicht zuletzt kann auch ein liebevoll zubereitetes
Mittag- oder Abendessen und ein Strauß Blumen auf dem Tisch diesen Glauben
stärken (trotz Fastenzeit).
Kreativität gedeiht nicht mit Sicherheit, sondern mit Fragen. Das Wachstum keimt nicht in Zeltwohnungen, sondern im Umbruch. Doch die Verführung ist immer eher Sicherheit als Wagnis, sofortiges Wissen statt absichtliches Warten.
Sue Monk Kidd, When the Heart Waits: Spiritual Direction for Life’s Sacred Questions (HarperSanFrancisco: 1990), 25.
Angeschaut werden – ein menschliches Grundbedürfnis
Regarde moi – Schau mich an!, heißt es in einem Lied des Rappers Lomepal. Die Augen des anderen sind der Spiegel, der mir sagt, dass es mich gibt und dass es gut ist, dass es mich gibt. Jeder Mensch scheint ein tiefes Bedürfnis in sich zu tragen, gesehen zu werden, liebevoll und respektvoll angeschaut zu werden. Der jüdische Philosoph Martin Buber sprach davon , dass jeder Mensch danach Ausschau halte, dass ihm das Ja des Seindürfens zugesprochen werde; das geschieht in der Regel zunächst über die liebenden und vertrauensstiftenden Blicke, welche Mutter und Vater dem Baby schenken; das kleine Menschenwesen erlebt Resonanz und fühlt sich in seinem eigenen Sein bestätigt.
Wichtige emotionale Botschaften werden über Blicke und Mimik transportiert, deren Ausbleiben für die Kinder fatale Folgen haben kann. (Im Moment laufen sogar Untersuchungen über die möglichen Auswirkungen auf Babys, wenn Mütter und Väter statt den Blickkontakt mit ihrem Baby zu suchen ihre Aufmerksamkeit auf ihr Smartphone richten.)
Übersehen-werden macht krank oder aggressiv
Wer nicht beachtet und übersehen
wird, erlebt eine tiefe Kränkung; manche reagieren dann
als Jugendliche oder im Erwachsenenleben depressiv und trauen sich nichts zu; andere reagieren gewalttätig,
indem sie ihre Wut im Außen abreagieren
Der australische Psychologe Marc Dadds fand in
Versuchsreihen mit schwer gestörten Jugendlichen,
die als brutal, kalt und gefühllos auffällig geworden waren, heraus, dass
jene erstmals in ihrem Leben Empathie entwickelten, nachdem die Eltern in
mehreren Sitzungen mit warmer Stimme sagten: „Ich hab dich lieb!“ und
ihnen dabei in die Augen schauten. Nach mehreren Monaten waren diese
Jugendlichen erstmals in der Lage Emotionen im Gesicht ihres Gegenübers zu
erkennen..(vgl. dazu auch die Bücher über Spiegelneuronen, z.B. von J. Bauer).
(vgl dazu: J. Röser, Das Gewissen der Augen, in CIG, Nr.50, 2012, S.564)
Es gibt auch Familienschicksale von Verfolgung , Vertreibung, Außenseitertum, in denen Menschen und Menschengruppen übersehen oder schief angeschaut wurden und die in den Folgegenerationen unbewußt weiterwirken .
Mauritius Wilde berichtet von einer jungen Frau mit
einer sehr schwierigen Kindheit und Jugend, in der sie sehr oft übersehen und
nicht beachtet wurde. Immer wenn sie heute an dieser frühen Wunde des Übersehenwerdens leidet, geht sie zu einem Freund,
der sie kurz anschaut. Schon ein kurzer Blick und Moment des Angeschaut-werdens
sei für sie sehr heilsam geworden. Aber sie musste sich zuvor dieses Bedürfnis eingestehen.(vgl.
Mauritius Wilde, Respekt, Die Kunst der gegenseitigen Wertschätzung,
Münsterschwarzach2009, 2. Aufl. 2010, S.23)
In unserer Gesellschaft, in der Aufmerksamkeit ein
hohes Gut geworden ist, werden diejenigen, die in diesem Spiel um Beachtung
nicht mitmischen können oder wollen, auch leicht übersehen.
„Augenblicke“ können niederdrücken oder aufbauen
Wie Menschen angeschaut werden, kann sie aufbauen oder
niederdrücken, lebendig machen oder zerstören. So fordern Philippe Pozzo die
Borgo, – nach einem Gleitschirmunfall querschnittgelähmt- und sein Pfleger
Abdel Sellou (deren Geschichte vielen durch die autobiografisch Verfilmung
„Ziemlich beste Freunde“ bekannt wurde) in mehreren Interviews: „Wir,
die kaputten Typen (..), wir wollen nicht euer Mitleid, sondern mit anderen
Augen angesehen werden, mit einem Blick, der uns als ganzen Menschen wahrnimmt.
Wir sehen uns nach einem Lächeln, einem Austausch, der uns stärkt, weil er uns
sagt, dass es uns gibt und dass wir wertvoll sind.“ (Di Borgo,
Jean Vanier, Cherisey Laurent, Ziemlich verletzlich, ziemlich stark-Wege zu
einer solidarischen Gesellschaft, München 2012, S.9)
Schauen mit offenem Herzen, Aquarell
Angeschaut-werden- eine religiöse Grundsehnsucht
Schau mich an!,
denn ich kann mich ja selbst nicht sehen. In dieser Bitte findet auch eine zutiefst religiöse Sehnsucht ihren Ausdruck; viele Psalmen (Gebete) der
Bibel sind ja vor circa 3000 Jahren entstanden als es noch keine Spiegel gab
und die Menschen sich selbst nur äußerst selten sehen konnten, höchstens in einer Pfütze oder in einem Teich. Deshalb
richteten sie ihre Sehnsucht beachtet zu werden, nach „oben“, auf Gott, der sie
wie eine Mutter im Blick hat, auf sie schaut und sie eben nicht übersieht.(Psalm
139, Psalm32…) Gerade in der Not und Einsamkeit wird dieses Bedürfnis angeschaut,
beachtet und begleitet zu werden auch heute bei Menschen wach.
Die Bedeutung des Sehens und Gesehen-werdens wurde
auch symbolisch in vielen Kirchen als Auge
Gottes zum Ausdruck gebracht. Doch leider assoziieren – gerade ältere
Menschen- im Laufe einer teils unrühmlichen Kirchengeschichte und Pastoral,
damit nur den „Buchhalter- und Überwachergott“, der alles sieht, beobachtet,
aufschreibt und mit entsprechenden Strafen belegt. Der tiefere Sinn wurde damit
natürlich gründlich verfehlt. Gemeint war es anders, nämlich so, dass
wir unter den Augen des liebevollen, göttlichen Betrachterszum Frieden in uns finden (so ähnlich
sagt es der mittelalterliche Mystiker Bernhard von Clairvaux)und uns darin geborgen wissen.
Authentische Religion führt zum Glauben, dass es einen Bereich gibt, in dem wir
immer schon als wertvoll gesehen und anerkannt sind: von Gott.
Anschauen statt übersehen- eine urchristliche Grundpraxis
Zu einer urchristlichen
Praxis gehört es, gerade Menschen zu beachten, die gerne übersehen werden.
Jesus hat immer wieder seinen Blick auf all jene gerichtet, die am Rande der
Gesellschaft keine Beachtung fanden. Dies kann uns durchaus als Modell dienen,
einander freundlich anzuschauen. So nimmt ein ehrlich gemeinter freundlicher
Blick auch die Scham in seinem Körper und seinen Lebensäußerungen ungenügend zu
sein oder komisch auf andere zu wirken. Ein freundlicher Blick kann jemand Ansehen
schenken, aus seinem Versteck locken, und das Vertrauen aufbauen, an sich
selbst zu glauben.
Fragen zu Nachdenken:
Von wem fühle ich mich gesehen und beachtet?
Von wem übersehen?
Welche Rolle spielt Beachtung in meinem Leben?
Wen sehe ich gerne?
Will ich gerne gesehen werden oder ist es mir unangenehm?
Feste Rituale haben sich im Coronajahr 2020 verändert: Begrüßungsrituale wie das Händeschütteln wurde durch einen Ellbogencheck ersetzt oder durch eine Berührung mit der Fußspitze, keine Umarmung, kein Kuss……auch in den Kirchen musste der Friedensgruß und das gemeinsame Singen untersagt werden und manche Pfarrer teilten hinter einer Plexiglasscheibe die Kommunion aus.
Corona hat uns allen deutlich gemacht, was Nähe für Menschen bedeutet und was uns abgeht, wenn Kontakt, Nähe, Berührung und Gemeinschaft fehlt. Auch wenn die meisten wohl rational einsehen, dass Kontaktreduzierung zum Wohle unserer Gesundheit ist, läuft es unserer tief verankerten Sehnsucht nach Nähe und Gemeinschaft zuwider; denn jeder Mensch braucht wenigstens einen anderen zum Gernhaben. Einsamkeit ist auch bei uns in Deutschland, wo ein Fünftel der Menschen allein leben, ein viel zu wenig erkanntes und berücksichtigtes Problem. In einem Vortrag der Sterbeforscherin Kübler Ross, den ich Ende der 80er Jahre besuchte, sprach sie davon, dass nicht nur Kinder, sondern auch die älteren Menschen „verknutscht“ werden wollen.
Bitte verstehen Sie mich nicht falsch, ich halte die
Kontaktreduzierungsmaßnahmen der Bundesregierung für richtig und angemessen.
Aber Corona kann uns dazu anregen über Nähe, Kontakt und Berührung einmal
vertieft nachzudenken. Hierzu einige Impulse
Das Wort Kontakt kommt vom lateinischen Wort tangere,
was „berühren“ bedeutet. In der
Elektrotechnik ist der Kontakt der Berührungspunkt, um eine Stromverbindung
herzustellen; im zwischenmenschlichen Bereich bedeutet es, eine Verbindung mit
jemanden aufzunehmen; allerdings sagt das deutsche Wörterbuch auch, dass die
Berührung zu einer Ansteckung führen kann. Wer jedoch keinen Kontakt
herstellen kann, verliert den Anschluss und wird abgehängt. Intakt
jedoch ist, sagt das Wörterbuch, wer oder was nicht beschädigt, unversehrt und
unberührt geblieben ist.
Taktvoll verhält sich jemand, der ein Feingefühl
dafür hat, welche Nähe zu einem Gegenüber angemessen ist und in der jeweiligen
Situation guttut. Das kann schon bei der Frage beginnen, ob es stimmig ist, einen
Kollegen/Kollegin zu „duzen“. Taktvolle Menschen jedenfalls achten die
physische, seelische und spirituelle Integrität des anderen Menschen.
Diese kann auf verschiedenen Ebenen verletzt werden: herabsetzende und demütigende Worte, grenzüberschreitende physische Berührungen oder geistige Manipulationen wie es besonders im Bereich des spirituellen Missbrauchs geschieht. Nähe und Freundschaft herzustellen über Berührung, geschieht taktvoll dann, wenn sie die Grenzen des anderen respektiert und keine strategischen und manipulativen Nebenabsichten verfolgt.
Zudem können Berührungen innerlich und ganz äußerlich
sein. Ehemalige Komapatienten haben mir erzählt, dass sie genau gespürt
haben, obwohl sie ja scheinbar bewusstlos dalagen, in welcher Haltung sie
gepflegt und gewaschen wurden; sie nahmen vollständig wahr, ob der Pfleger oder
die Krankenschwester ihnen zugewandt war oder ob sie nur wie ein Objekt
behandelt wurden und dabei eine personale Zuwendung völlig fehlte. Die Haltung
und die Art und Weise wie wir berühren, ist dabei entscheidend, und dies nicht
bloß bei Menschen, sondern auch Dingen gegenüber.
Körperliche Berührung steht immer auch in der Gefahr missverstanden zu werden, und ist für einige Menschen und auch Kulturen wichtiger als für andere. Als ich als Seelsorger auf der Intensivstation eines großen Münchner Uniklinik arbeitete, haben wir – die Seelsorger/innen- unsere Berührungen von Komapatienten, die nicht selten traumatisiert waren, immer angekündigt. „Herr…oder Frau… , ich berühre jetzt ihren Arm (oder ich halte ihre Hand), dass sie spüren, dass jemand da ist und sie nicht allein sind…“. Ich bin überzeugt, dass Berührung heilsam, tröstend und Halt gebend sein kann. Einem Sterbenden die Hand zu halten, kann ihn vielleicht durch dessen Angst geleiten, einem Traurigen über den Rücken streicheln, kann ihn trösten und aufmuntern; aber immer kommt es auf mein Feingefühl an, was im Moment dran ist und die eigene lautere Absicht. Das Verhältnis von Nähe und Distanz zu einem anderen Menschen ist jedenfalls immer wieder neu auszuloten.
Berührt, Acryl auf Leinwand
„Es sind die kleinen Dinge, die uns
brauchen, denn wir hauchen, alle Lebensringe in sie ein. Darum ergreift sie
meine Hände voller Liebe, so als bliebe ohne euch am Ende , ein jedes Ding
allein“, dichtete einst Karlfried Graf Dürckheim, der Begründer der
initiatischen Therapie. Was ich berühre, berührt auch mich. Wer achtlos mit den
Dingen umgeht, geht auch achtlos mit sich selbst um.
Auch unser Lernen geht vielfach über das Be-„greifen“,
und Künstler, die ein Werk aus Holz oder Stein schaffen wollen, müssen ihr
Material berühren, anfassen, begreifen und sich ergreifen lassen. Auch beim
Essen und Kauen berühre ich Nahrungsmittel und schmecke sie, wer sein Essen nur
schnell hinunterwürgt, verliert den Geschmack.
Auch wenn wir im Moment auf physische Berührung weitgehend verzichten müssen, ist es wichtig innerlich berührbar zu bleiben. Gute Worte können unser Herz berühren, auch Dichterworte oder die Musik. Auch die Evangelien stellen uns einen Jesus vor, der berührbar ist und Menschen heilsam berührt. Berührt vom Leid der Menschen, die ihm begegnen, berührt er sie so, dass sie aufatmen können. Schon das macht uns darauf aufmerksam, dass die christliche Religion nicht in erster Linie eine moralische oder asketische Religion ist, sondern eine therapeutische, die der Angstüberwindung dient. (vgl. dazu die Arbeiten von Eugen Biser, und Eugen Drewermann).
Jedenfalls kann uns die zumindest physisch berührungsarme
Coronazeit darüber nachdenken lassen, welche Bedeutung Berührung für uns alle und
für mich ganz persönlich hat. Und so wünsche ich Ihnen, dass 2021 wieder viele heilsame
Berührungen möglich machen wird.
Impuls:
Denken Sie einmal darüber nach, welches Ereignis oder
Erlebnis sie in letzter Zeit wirklich berührt hat.
Nehmen Sie einmal die Dinge des Alltags (Kaffeetasse, den
Teller, Blumenvase…..)ganz bewusst in die Hand.
Immer ein Lichtlein mehr im Kranz, den wir gewunden, dass er leuchte uns so sehr durch die dunklen Stunden.
Zwei und drei und dann vier! Rund um den Kranz welch ein Schimmer, und so leuchten auch wir, und so leuchtet das Zimmer.
Und so leuchtet die Welt langsam der Weihnacht entgegen. Und der in Händen sie hält, weiß um den Segen!
Das Gedicht „Lied im Advent“ stammt von Matthias Claudius, der von 1740 -1815 gelebt hat. Der Dichter ist vielen von uns bekannt durch den Text des Liedes „Der Mond ist aufgegangen“(Abendlied). Das Gedicht „Lied im Advent“ nimmt Bezug auf den Adventskranz, und die vier Kerzen, die nach und nach angezündet werden. Durch das Licht der Kerzen werden nicht nur Räume erhellt, sondern wir selbst. Von diesem sich nach außen und innen ausbreitenden Licht, das schließlich die ganze Welt erleuchtet, geht ein Segen aus, der uns zum Sinn von Weihnachten führt.
Dieses Licht – so die erste Strophe des Gedichtes- will uns in und auch durch die dunklen Stunden leuchten. Wer denkt bei dunklen Stunden nicht gleich an all das Bedrückende, das von Corona ausgeht: Krankheit, Tod, Kontaktsperre, wirtschaftlicher und finanzieller Ruin. Aber auch die anderen Dunkelheiten bleiben: Migration, Flucht, Einsamkeit alter Menschen, die Klimakrise, die Ungerechtigkeit, die kleinen und großen Sorgen von uns allen, der Rucksack, den jede und jeder zu tragen hat, wenn gleich in unterschiedlicher Weise. „Es gibt kein Dach ohne Ach“, sagt ein altes Sprichwort.
Es macht etwas mit uns, wenn wir eine Kerze anzünden: Manche zünden eine Kerze an, um still zu werden, oder wir entzünden eine Kerze für einen Menschen, an den wir besonders denken, weil er einsam ist, oder krank oder in einer Krise steckt, manche zünden eine Kerze an für ihre verstorbenen Angehörigen, wieder andere, um zu beten und das Licht wird zum Zeichen für Gott. Der Kerzenschein beruhigt, wärmt, und vorallem erhellt er die Dunkelheit. Das Licht einer Kerze wird umso stärker wahrgenommen, je dunkler es ist;
Das Licht auf dem Adventskranz ist kein Licht- so deutet es auch das Gedicht an-, dass uns in eine selige, aber weltfremde Sonderstimmung führen will, die mit unserem konkreten Alltag nichts zu tun hat. Für mich ist es ein Hoffnungslicht, das besonders in die Dunkelheiten unseres Lebens hineinleuchtet; ein Hoffnungslicht, das die Nacht unserer Seele und die Nacht der Welt nicht auszulöschen vermag. Wo Licht und Dunkelheit sich begegnen, kommt immer Licht in die Dunkelheit, niemals Dunkelheit ins Licht.“ (Elmar Gruber)
Ein Licht, das allen Kitsch, alle Oberflächlichkeit, auch die Vergänglichkeit der Zeit, der wir an Weihnachten begegnen, überdauert; ein Licht, das in die Zerbrechlichkeit des Lebens heilend hineinströmt, wenn wir unsere Herzenstüren dafür öffnen. „Macht hoch die Tür, die Tor macht weit..“, heißt es in einem bekannten Adventslied. Nach dem Licht Gottes sehnen wir uns umso mehr, je dunkler, betrübter oder gefährdeter die eigene Seele ist. Schon immer waren die dunklen Zeiten die Bewährungsproben für den Glauben und die Hoffnung auf eine rettende Macht.
Für Christen ist dieses Licht in besonderer Weise angezündet mit der Geburt Jesu Christi, ein Licht, das kein Kreuz und keine Macht der Welt auslöschen kann: ewiges Licht, Hoffnungslicht, Liebeslicht, das uns wärmen will in kalten und winterlichen Tagen. Geschenktes Licht, das auch mit dem Auftrag verbunden ist, andere zu wärmen und in die Dunkelheit zu leuchten.
Impuls:
Entzünden Sie eine Kerze (z.B.) des Adventskranzes. Genießen Sie die Stille und das stille, warme Licht. Stellen Sie sich vor, dass es die Liebe von Gott ist, die ihr Herz wärmen will.
Lesen Sie das Gedicht von Matthias Claudius und lassen es auf sich wirken. Was löst es aus?
Vielleicht fällt Ihnen ein jemand ein , dem Sie eine Freude bereiten wollen (mit einem Anruf, einem kleinen Geschenk, einer Karte..)
Einige biblische Stellen zum Licht: Jesaja 60, 1-2, 2.Kor 4,4ff, Jesaja 58,7-10