Lebendigwerden-ein Impuls zu Pfingsten

In dem Dokumentarfilm „Nicht ohne uns“ (Erscheinungsdatum 2017) von Sigrid Klausmann nach einer Idee von Walter Sittler, in dem Kinder und Jugendliche unterschiedlicher Kontinente befragt werden, sagt der 11-jährige Enjo aus der Schweiz: „Ich habe nicht den blassesten Schimmer, wieso ich in die Welt hineingeboren wurde.“

Wer darauf auch später keine Antwort findet, wird sich aller Voraussicht nach in einigen Jahre mit Lärm, Alkohol oder Internet betäuben, phantasielos und ohne Schwung seinen Job herunterreißen, mit Partner oder Partnerin angeödet vor dem Fernseher sitzen und nichts mehr Wesentliches in seinem Leben erwarten.  Resignierte und abgestumpfte Menschen, die sich abgefunden haben mit den kleinen, harmlosen Wünschen und Annehmlichkeiten, und ein sogenanntes „normales“ Leben führen.

Welch trauriges Gegenbild zu der im Frühling aufbrechenden Natur, zur Wurzel- und Grünkraft der Bäume, zum Sprießen und Aufblühen der Gräser und Blumen. Haben wir uns von den Wurzeln des Lebens abgeschnitten und entfernt? Fehlen uns,- besonders uns in der westlichen Wohlstandsgesellschaft-, die Visionen und begeisternde Träume, die über die basalen Absicherungsbedürfnisse hinausgehen? (vgl. Joel 3,1) Leiden nicht viele an Übersättigung, auch durch die vielen jederzeit erhältlichen Information und medialen Inputs?

Jemand verglich Menschen, die im dauerhaften Wohlstand leben mit Zierfischen, welche im gefahrlosen, langweiligen Aquarium, -gefüttert und satt-, ihre langweiligen Runden schwimmen; nur ab und zu erinnern sie sich an die Tiefen und Abenteuer des großen Meeres, in dem sie einst schwammen, und machen dann kurze heftige Bewegungen. 

Tatsächlich, so scheint es mir, sind die Türen der Sehnsucht für viele zugeschlagen und die Antennen für das Göttliche und alles Transzendente von den Häusern abmontiert, auch die Sprache für das Absolute ist verloren gegangen, die Kathedrale des „Heiligen“- besonders jene in der eigenen Seele- bleibt unbewohnt. Nicht wenigen scheint Berieselung und leichte Kost, Kreuzworträtsel und Televisionen von Privatsendern für das eigene Lebensglück zu reichen. Das große, tiefe und gefährliche Meer ist ebenso vergessen wie der unendlich weite Kosmos.

Die eigene Lebendigkeit und Sehnsucht wieder zu entdecken, hängt nach biblischer Auskunft an einer Inspiration (wörtlich „Einhauchung oder Beatmung“), also daran, dass wir neues Leben und Atem eigehaucht bekommen (vgl. die Schöpfungsgeschichte Gen 2,7, Joel 3,1). Daran erinnert auch das Pfingstfest, das wohl unverstandenste christliche Fest vom heiligen und heilenden Geist.  Das lateinische Wort „spiritus“ bedeutet sowohl Geist wie auch Wind und Atem. Es geht um eine neue Beatmung unseres Inneren, unserer Seele, unseres womöglich matt und flach gewordenen Atemstromes. Dort, wo uns der heilige Wind anrührt, atmen wir tief ein und tief aus. Der Heilige Geist, das ist wie der Wind, der uns berührt und uns sanft über die Wangen streichelt, der uns heftig anbläst, dass wir aufwachen und in Bewegung kommen. „Komm Heiliger Geist“, heißt es in der Pfingstsequenzund löse uns aus unserer Starrheit, locke uns heraus aus den Gefängnissen unserer satten Trägheit und sende uns vom Himmel her deinen Weckruf. Weite unsere enge, kleinliche und egoistische Sichtweise, befreie unsere Seele zu Dir hin, zum Schöpfer allen wahren Lebens und zu den Menschen, für die wir verantwortlich sind.

Der Heilige Geist, das ist auch Feuerkraft und Licht, das die Dunkelheit unserer Welt und unserer Seele von innen her erleuchtet; Licht, das hell macht, was finster ist, und uns den Weg zeigt, wenn wir im Dunklen tappen, stolpern, gefallen sind oder an Abgründen uns bewegen. Die Strahlen dieses Lichtes sollen unseren Lebensweg erleuchten, damit wir weiter gehen können, besonders inmitten von Krisen und Umbrüchen, die uns herumbeuteln. Die Strahlen seines Lichtes, das vom Himmel herkommt (und nicht aus unserem Erkenntnisvermögen), soll uns neue Perspektiven eröffnen, uns die verdunkelnde Furcht und Angst nehmen, die uns blind macht für die uns innewohnende geschenkte Liebe, die unbedingt an uns glaubt und will, dass wir sind.

Howard Thurmann, amerikanischer Bürgerrechtsaktivist und Mentor von Dr. Martin Luther King jr. gibt für das Lebendigwerden noch folgende Empfehlung:

Frage nicht, was die Welt braucht, frage dich selbst, was dich lebendig macht …und tue das; (denn) was die Welt braucht, das sind Leute, die lebendig geworden sind.“

Alles, was mich lebendig macht, belebt, inspiriert, ins Fließen bringt, könnte mich also zu meiner ur-eigenen Berufung führen.

Der Benediktiner David-Steindl-Rast hat dazu folgende grundlegende Fragen formuliert, die ich an Sie als Impuls weitergeben möchte:

Impuls:

Was würde ich wirklich gerne tun? Was bereitet mir eine tiefe und nachhaltige Freude?

Was kann ich gut? Wo bin ich gut? (worin drücke ich die Einzigartigkeit und Einmaligkeit meiner Person am besten aus? Was sind meine Talente und Begabungen?)

Welche Gelegenheit gibt mir das Leben gerade jetzt, um das zu tun, was mich mit Freude lebendig macht? Wozu lädt mich das Leben gerade jetzt ein? (um das herauszufinden, müssen wir aber anhalten und mit den Ohren des Herzens horchen und bereit sein, uns überraschen zu lassen)

Gustav Schädlich-Buter

„Spiritualität von unten“

„Wandlungsprozesse- Heilungsräume- Metamorphosen oder es ist ein „Riss in allen Dingen, aber genauso kommt das Licht hinein“ (Leonhard Cohen)

„Das Christentum ist vorallem eine Religion für Menschen, die einen tiefen Riss in ihrem Leben erlebt haben“ (Thomas Merton)

In der Werbung und in den Medien werden uns vor allem perfekte, gutaussehende, attraktive, leistungsstarke, gesunde und unabhängige/autonome Menschen präsentiert. Models und Bodybuilder, rund um die Uhr arbeitende Manager*innen, Menschen, die sich unabhängig und völlig frei von allen Bindungen zeigen, angstfreie Abenteurer, die niemanden brauchen, Schönheiten, die nur sich selbst feiern,- das sind die modernen und unverwundbaren Held*innen unserer Zeit.

Doch dies ist aber nur die halbe Welt und oft mehr Schein als die Wahrheit. Die Versuchung ist gegeben beim oberflächlichen Blick und Sinneseindruck hängen zu bleiben und nicht dahinter und darunter zu schauen in die Tiefe menschlicher Existenz. 

Das Leben von Philippe Pozzo di Borgo, der bis zu seinem 42. Lebensjahr Geschäftsführer des Champagnerunternehmens Pommery war, dann durch einen Gleitschirmunfall vom Hals ab querschnittgelähmt, ist vielen bekannt durch den Film „Ziemlich beste Freunde“. Er berichtet davon, wie er sich nach Erscheinen seiner Autobiografie vor Mails nicht mehr retten konnte, in denen alles Unglück der Welt auf seinem Bildschirm landete und die Unermesslichkeit der geschilderten Verzweiflung ihn überwältigte. In einem Interview mit Elisabeth von Thadden sagt er:

„Es klafft ein Abgrund zwischen den Anforderungen der Gesellschaft und dem, was sich in den Menschen zuträgt. Sie fühlen sich abgehängt, ausgeschieden, zerstört, beladen, gejagt, sie sind voller Scham und Angst, weil sie nicht leisten können, was man von ihnen verlangt, als Arbeitnehmer, als Familienväter, als Migranten oder Arbeitslose, es sind alle Lebenssituationen dabei, ob mit körperlicher Behinderung oder nicht. […] All diese Mails belegen ein massenhaftes Gefühl des Scheiterns. […] Die Menschen wollen ein sinnvolles Leben führen, sie wollen sich nicht fortgesetzt drängen und hetzen lassen. Jeder weiß oder ahnt doch zumindest, dass die menschliche Existenz zerbrechlich ist. Man glaubt nicht mehr an das Trugbild des ewig jungen und starken schönen Menschen. Die Zerbrechlichkeit muss wieder von den Rändern ins Zentrum rücken.“ (Philippe Pozzo di Borgo u. a., Ziemlich verletzlich, ziemlich stark, 2012, 8f.,)

Diese Verwundbarkeit menschlicher Existenz, so Pozzo di Borgo, werde verschleiert durch die vielfältigen Trugbotschaften der Medienkultur mit ihren überzogenen Wünschen und Ansprüchen an Leistung, Effizienz, Schönheit, ewige Jugend, Unverwundbarkeit, sogar Unsterblichkeit. Diese verzerrten nicht nur die Wirklichkeit, sondern führen auch zu einem fraglichen Menschenbild und zu permanenten Angstzuständen. Für Pozzo di Borgo sind elementare Beziehungen statt Gleichgültigkeit für das Glückserleben zentral; wechselseitige Abhängigkeit, ein Geben und Nehmen, das auf freundliche Weise geschieht, sei keine Minderung der Würde, sondern führe zum Glück.“ (vgl. Vogt, Schädlich-Buter, Spiritualität und Verantwortung, S.89)

Menschen mit einer Behinderung oder überhaupt Menschen in prekären Lebenssituationen stellen dazu ein Gegenbild dar, sind die Antihelden, die weder unabhängig noch leistungsstark sind, die nicht mit Statussymbolen protzen können, sondern zerrissen daherkommen (vgl. den Helden Zyklus von Baselitz). Menschen mit einer Behinderung sind so wichtig für unsere Gesellschaft, weil sie den zerbrechlichen und verwundbaren Teil menschlicher Existenz sichtbar machen, weil sie die Endlichkeit und Bruchstückhaftigkeit menschlicher Existenz bezeugen durch ihre bloße Anwesenheit, weil sie den Gläubigen sagen, was Gnade ist und was es mit der Sehnsucht auf sich hat  jenseits aller Leistung geliebt und angenommen zu werden, und,  weil gerade die schwerstbehinderten Menschen,  uns die Angewiesenheit, Bedürftigkeit und Nacktheit unserer Existenz deutlich machen können, die jene durch nichts kompensieren können. Der Körper des behinderten Menschen ist der Ort für die bedingungslose Zuwendung eines Gottes, der bedingungslos liebt.

Menschen mit einer Behinderung sind Zeugen für das Ganze des Menschseins, weil sie den omnipotenten Helden oder Heldin infrage stellen und wie ein Protest wirken gegen die Hybris des gottgleichen Menschen, dessen einziger Bezugspunkt er selbst ist.

„Zerbrochen“, Acryl auf Leinwand

Diese Infragestellung menschlicher Allmächtigkeit und Omnipotenz geschah in den letzten Jahren auch durch die weltweiten Krisen, durch Corona, den Ukrainekrieg und zuletzt das schreckliche Erdbeben in der Türkei und Syrien.

„Es ist ein Riss in allen Dingen, aber genauso kommt das Licht hinein!“, heißt es im Lied Anthem von Leonhard Cohen und er will damit sagen, dass die Risse überall vorhanden sind, aber auch, dass aus den Rissen in unserem Leben, aus den Brüchen und Erfahrungen des Scheiterns, Neues und Schönes entstehen kann. (Dies ist der Ansatz einer „Spiritualität von unten“) Ja, dass sogar manchmal Altes, womöglich Überlebtes zerbrechen muss, damit eine neue, bislang noch ungeahnte Gestalt sich offenbaren kann. Der Bruch oder die Niederlagen kann eine Metamorphose einleiten, der über den Weg in die Tiefe eine neue Identität hervorbringt. Oder anders gesagt: das falsche, oberflächliche, egozentrische oder in festgezurrten Vorbahnungen sich bewegende Ego/Ich, wird aufgebrochen. Ein Bruch, ein Riss, der zunächst schmerzt, wehtut, die Orientierung nimmt und in einen Schwellenraum versetzt, der Monate, ja sogar Jahre dauern kann.

Der „Schwellenraum“ (Richad Rohr) ist der Übergangsraum, in dem das Alte nicht mehr gilt und das Neue noch nicht aufgetaucht ist. Bilder und Prototypen für diesen Zustand sind Jona, der im Walfischbauch sitzt oder Hiob im Dreck und im Schmerz seiner ganzen Verluste. Doch in der Tiefe kann etwas wachsen ohne unser Zutun. „Er schläft und steht wieder auf, es wir Nacht und wird Tag, der Samen keimt und wächst, und der Mann weiß nicht wie.“ (Markus 4,26) Und manchmal ist es ein Hoffnungsschimmer, der die Dunkelheit erleuchtet, eine Kraft, die von irgendwoher kommt und sagt, „Jetzt nicht aufgeben!“ und „Am Leben bleiben!“. Meister Eckhart sagt, wenn ich nicht zugrunde gegangen wäre, also in den Grund meiner Existenz, dann wäre ich zugrunde gegangen. Am Grund meiner Existenz lässt sich das wahre Selbst entdecken, an dessen Tür, inständig und mit viel Geduld der klopft, den Johannes vom Kreuz als den „Ich weiß nicht was“ bezeichnet.

Der „Schwellenraum“ kann zum „Heilungsraum“ werden, der für unterschiedliche Menschen ganz unterschiedlich aussehen kann: manche bekommen durch die Kraft der Natur neuen Antrieb für ihr Leben. So der bekannte Sozialfotograf Sebastiao Salgado, der nach erschütternden Erfahrungen des Genozids in Ruanda den Glauben an die Menschheit verloren hat, und im Pflanzen eines Waldes neue Kraft schöpft. Oder Ingrid Leitner, die Gründerin des CBF (Clubs Behinderter und ihrer Freunde), die mit 15 Jahren an Polio erkrankte, hat ihre Wohnung in eine grüne Oase verwandelt, wodurch sie viel Kraft bekam. (Autobiografie von Ingrid Leitner, Das Leben der Sternentaucherin). Andere entdecken in der Kunst und kreativen Schaffen einen Weg das Leid und die Gebrochenheit zu durchschreiten, finden in der Malerei wie Frieda Kahlo ein Ausdrucksmittel für ihr innerstes Erleben, in der Trauer, Schmerz und unbändige Lebensfreude zugleich auftaucht.  Wieder andere entdecken wie Philippe de Bozo, Chef einer großen Champagnerfirma und nach einem Gleitschirmabsturz vom Hals ab gelähmt- vielen durch den Film „Ziemlich beste Freunde“ bekannt-, die Wichtigkeit von Beziehung zu anderen Menschen, aber auch wie wesentlich die Stille im Leben ist. Helen Keller, die mit zwei Jahren Augenlicht und Gehör verliert, sagt: „Wenn eine Tür des Glücks sich schließ, öffnet sich eine andere, aber oft starren wir so lange auf die geschlossene Tür, dass wir die, die sich uns geöffnet hat nicht sehen. Helen Keller findet eine Aufgabe, die auch Heilungsraum ist, im Engagement für andere blinde Menschen, aber sie setzt sich auch für die Rechte der Schwarzen und die Frauenrechte ein. Wer sich um andere kümmert, trägt auch zu seiner eigenen Heilung und zum eigenen Wohlbefinden bei statt nur um sich selbst zu kreisen. (vgl. frei nach Jesaja 58,10: Wenn es dir dreckig geht, dann mach dich auf und kümmere dich um die Ärmsten, Notleidenden und teile dein Brot mit ihnen, dann wird in Kürze dein Licht wieder aufleuchten).

Es gibt auch verwundete Heiler, manche wie Claude Anshin, der sich vom Killer im Vietnamkrieg und PTB- Störungen, Drogen und Alkohol nach seiner Rückkehr nach Amerika, schließlich zum buddhistischen Mönch wandelt. Er findet über den vietnamesischen Mönch Thich Nhat Hanh zur Meditation, und zu einer neuen Lebensaufgabe und Berufung als Friedensaktivist.

Thomas Merton, der durch sein Buch „The Seven Storey Mountain“ (deutsch: Der Berg der sieben Stufen) weltbekannt gewordene Trappistenmönch, erkennt im Laufe seines Lebens, dass echtes spirituelles Leben aus dem Dunkel und aus dem Scheitern wächst, und dass der Weg zu Gott durch die Wüste führt. Nur so könnte man das eingebildete, falsche, kranke und egozentrische Ego überwinden. Eine „Spiritualität von unten“ besagt, dass im „Riss“ und in den Brüchen des Lebens, die Chance liegt, dass sich die Türen der Seele öffnen für das Nahekommen Gottes als einem, der bedingungslos liebt und annimmt. Der „Riss“, wo wir am Ende unserer Kräfte sind und unsere Ohnmacht eingestehen müssen (wie die anonymen Alkoholiker) kann wie eine Öffnung sein, durch welche ein Licht in uns einströmt, dass wir nicht selbst erzeugen können.

„Ein Trauma stellt die Betroffenen vor einen Wendepunkt in ihrem Leben und kann trotz aller Verletzungen, die Möglichkeit bieten, gestärkt aus ihm hervorzugehen. Eine wichtige Voraussetzung dafür ist, dass sich der Einzelne der Realität stellt, anstatt sie zu leugnen oder zu verdrängen, und das Unglück als Teil seines Lebens annimmt. In der Resilienzforschung wird diese Fähigkeit Akzeptanz genannt.“ (Vogt, Schädlich-Buter, Spiritualität und Verantwortung, S.52) In der Kunst könnte man an Joseph Beuys Installation „Zeige deine Wunde“ denken oder an das Bild von Caravaggio „Der ungläubige Thomas“, dem Jesus seine offene Wunde hinhält und die Möglichkeit eröffnet, sie zu berühren. Um in der Akzeptanz des Verlustes, der Trauer um Unwiederbringliches, im Scheitern von Lebensplanungen nicht aufzugeben und Hoffnung zu finden, ist es wichtig durch den Schmerz, das Leiden und die Trauer zu gehen, manchmal auch nur auszuhalten, was mir da widerfährt. Emmy Werner sagt zu resilienten Menschen „vulnerable but invincible“, und meint, dass es sich bei diesen Menschen nicht um unverwundbare Helden/Held*innen handelt, sondern nur, dass sie sich durch die Lebenskrisen nicht unterkriegen lassen und dadurch ein psychisches Immunsystem entwickeln. Für die Reifung durch eine Krise gibt es kein Rezept, aber wer es wagt, sich mit seinen Lebenswunden anderen Menschen oder Gott zu öffnen und anzuvertrauen, für den entspringt nicht selten eine Quelle der Hoffnung.

Biblisch könnte man an dieser Stelle an das Paulus Wort denken: „Wenn ich schwach bin, dann bin ich stark“ (2 Kor 12,10) Es gilt im Prozess der Verarbeitung auch die dunklen Gefühle (auch Suizidgedanken), die offenen und ungelösten Fragen, die mit der Lebenskrise einhergehende Verunsicherung und Verzweiflung, die Frage nach dem Sinn dessen, was mir das Leben zugemutet und auferlegt hat, die Leere, in der sich kein Gott zeigen will (vgl. das Gedicht von Jean Paul „Siebenkäs“),….zu stellen. Das Leid bleibt unerlöst, wenn es keinen Ausdruck findet. Wer sich verletztlich zeigt, eröffnet Reifungsprozesse.

Wer durch eine Lebenskrise hindurch gegangen ist, hat sich verwandelt (das bestätigen nicht nur die Ergebnisse der Traumaforschung, sondern auch die Berichte von Nahtoderfahrungen wie sie der Philosophieprofessor Godehard Bruntrüp S.J. eindrucksvoll beschreibt). Menschen, die durch Leid und Krisen gegangen sind, werden wie auch Forschungen zeigen, empathischer, liebesfähiger, entwickeln eine neue Wertehierarchie; sinnerfüllte Beziehungen sind wichtiger als Erfolg im Beruf; das eigene Ich öffnet sich stärker für den anderen, erlebt mehr Verbundenheit, kreist weniger um sich selbst, wird sehender für die Not des Anderen und lebt von einem inneren gottnahen Zentrum her, das frei ist von außen auferlegten Bedingungen und Strukturen des Funktionierens und Wertgeschätzseins in Welt und Gesellschaft. Die spirituelle Sprache spricht hier vom wahren Selbst.

Der Franziskaner Richard Rohr schreibt: „Unser falsches Selbst, das wir auch unser „kleines Selbst“ nennen könnten, ist unsere Startrampe: unser Körperbild, unser Job, unsere Ausbildung, unsere Kleidung, unser Geld, unser Auto, unsere sexuelle Identität, unser Erfolg und so weiter. Dies sind die Insignien des Egos, die wir alle benutzen, um uns durch einen gewöhnlichen Tag zu bringen. Sie sind eine schöne Plattform, auf der man stehen kann, aber sie sind weitgehend eine Projektion unseres Selbstbildes und unserer Anhaftung daran. Keiner von ihnen wird von Dauer sein! Wenn wir in der Lage sind, über unser falsches Selbst hinauszugehen – zur richtigen Zeit und auf die richtige Weise – wird es sich genauso anfühlen, als hätten wir nichts verloren. In der Tat wird es sich wie Freiheit und Befreiung anfühlen. Wenn wir mit dem Ganzen verbunden sind, müssen wir den bloßen Teil nicht mehr schützen oder verteidigen. Wir sind jetzt mit etwas Unerschöpflichem verbunden. Unser falsches Selbst nicht zur richtigen Zeit und auf die richtige Weise loszulassen, ist genau das, was es bedeutet, festzustecken, gefangen und süchtig nach uns selbst zu sein.

Und James Finley, einst Novize bei Thomas Merton, später Traumatherapeut, reflektiert Merton`s Lehre über das Wahre Selbst und das separate (oder falsche) Selbst:

Unser wahres Selbst ist ein Selbst in Gemeinschaft. Es ist ein Selbst, das in Gottes ewiger Liebe besteht. Ebenso ist das falsche Selbst das Selbst, das außerhalb dieser geschaffenen bestehenden Gemeinschaft mit Gott steht, die unsere Identität bildet…..In unserem Eifer, die Vermieter unseres eigenen Seins zu werden, klammern wir uns an jede Errungenschaft als eine Art Bestätigung unserer selbsternannten Realität. Wir werden zum Zentrum und Gott zieht sich irgendwie an einen unsichtbaren Rand zurück. Andere werden in dem Maße real, in dem sie zu bedeutenden anderen für die Pläne unseres eigenen Egos werden. Und in diesem Prozess stirbt das GANZE Gott in uns und das sterile Nichts unserer Wünsche wird zu unserem Gott. Merton macht deutlich, dass die selbsternannte Autonomie des falschen Selbst nur eine Illusion ist…“ (vgl. Homepage des CAC, Center für action and contemplation)

Der Prophet Ezechiel spricht davon, dass G*tt das Herz von Stein aus unserer Brust nimmt und uns ein neues lebendiges Herz schenkt. (Ez 11, 19.20) Ein Herz, das barmherzig ist und nachsichtig gegenüber Fehlern und Schuld ist, und das sich solidarisch an die Seite der Menschen stellt, die an den Rand gedrängt werden und Ungerechtigkeit erleiden.  Ein Herz, das nicht gleichgültig zusieht, wie Menschen exkludiert oder misshandelt werden. Gerade die Gleichgültigkeit ist Zeichen eines verschlossenen, tauben, fühllosen Herzens wie wir es sehen angesichts der ertrinkenden Migranten im Mittelmeer.  Wer sich um andere kümmert und sorgt, entgrenzt sein Herz, überschreitet/transzendiert sich selbst und öffnet sich der Kraft verwandelnder Liebe.

Aus einer theologischen Perspektive gehören Leid, Schuld, Scheitern und Ungerechtigkeit zentral zum menschlichen Leben, das oft nicht nach unseren Vorstellungen läuft. Nicht umsonst ist das Kreuz zentrales Erlösungssymbol der Christen. Das Leiden und Scheitern hat nicht das letzte Wort, sondern ist ein Durchgangsweg zur Auferstehung und zu neuem, verwandeltem Leben; insofern dient der Weg Jesu auch als Modell für menschliche Transformationsprozesse. „Deinen Tod, o Herr, verkünden wir und deine Auferstehung preisen wir“, lautet das Geheimnis des Glaubens. Christliche Hoffnung ist kein blinder Optimismus, sondern eine Gewissheit, die durch die Erfahrung des Kreuzes hindurchgegangen ist. Mitten im Fragmentarischen des eigenen Lebens ahnen manche etwas von einem Ganzen, das allein mit der Kraft des Willens nicht hergestellt werden kann. Heilungsprozesse ereignen sich meist so, dass  ein „Anderer“ (G*tt) oder etwas anderes jenseits meines eigenen Wollens und Vermögens, die Bruchstücke meines Lebens zu etwas ganz Neuem, zuweilen mit unendlicher Geduld, zusammenfügt.  Schönheit und Hässliches, Verzweiflung und Hoffnung liegen in der menschlichen Seele oft ineinander verschränkt. Sobald ich das eine weglasse, verbanne ich das Andere mit. Wenn ich Schmerz zulasse, öffne ich mich auch für die Schönheit und das Neue, das werden will.  Die japanische Kunst des Kintsugi, wo Vasen zerbrochen und dann mit Gold-Leim wieder zusammengesetzt werden, können als Metapher gelesen werden für eine neue Ganzheit, für die Heilung des Gebrochenen und wie aus Bruchstücken eine neue Schönheit entsteht.

Liturgisch lässt sich angesichts der Zerbrechlichkeit und Verwundbarkeit menschlicher Existenz an das Brotbrechen der Eucharistie denken (wie es der Priester und Lyriker Andreas Knapp in seinem Buch „Vom Segen der Zerbrechlichkeit“ herausgearbeitet hat). Der die rituelle Handlung begleitende Satz „Seht zerbrochen für uns…“ erinnert daran, dass sich die Bruchstelle Jesu und unsere eigenen Bruchstellen zu einem Ganzen zusammenfügen. Allerdings nur dort, wo ich bereit bin, die Bruchstellen meines Lebens hinzuhalten, weil glatten und abgerundeten Stellen keine Anknüpfungsmöglichkeit bieten.

Gustav Schädlich-Buter, März 2023

Aufwärts- „Nach oben“ (Toute la-haut)

Was kann man zum Neuen Jahr Besseres wünschen, als dass es wieder aufwärts gehen soll. Aber dieses Aufwärts kann so und so verstanden werden. Die einen wünschen sich, dass nach Corona und Energiekrise die Wirtschaft neu angekurbelt wird, die anderen hoffen nach einer Krankheit oder einem Burnout, dass es wieder aufwärts geht und ein Neustart gelingt.

Die französische Sängerin ZAZ, mit bürgerlichem Namen Isabelle Geffroy, beschreibt in Ihrem Lied „Tout la-haut“ einen anderen Aufstieg; ein Aufstieg der Seele, ein Aufstieg zum wahren Selbst jenseits falscher Gewissheiten und Sicherheiten. Jenseits von Schein und nach außen gezeigten unbeschwerten Masken, so der Liedtext, liegt oft ein verletztes und verbranntes Kind. Hinter dem selbstsicheren Ego lauern die versteckten Risse der Kindheit. Der Weg nach oben bedeutet für die Sängerin, das Wahre vom Falschen zu entwirren; dabei ist es wichtig, die Einsamkeit und Ruhe schätzen zu lernen, von den Künstlichkeiten zu lassen, um endlich herauszufinden, warum wir existieren und warum wir uns gegen manches wehren. Sie fordert den Hörer des Liedes auf, diesen Weg nach oben zu nehmen, der im Grunde eher einem Abstieg gleicht, in die Tiefen und versteckten Verletzungen des inneren Kindes, und der verlangt, die Täuschungen und falschen Selbstsicherheiten zu entlarven. (zum Lied: ZAZ – Tout là-haut (Clip officiel) – Bing video)

Die Sängerin ZAZ beschreibt im Grunde einen Heilungsweg, der immer dort beginnt, wo wir anfangen und riskieren in der Gegenwart eines anderen über das zu reden, was uns am meisten verletzt. Die gebrochenen und verletzten Stellen in uns brauchen die meiste Liebe und Barmherzigkeit; denn gerade dort, wo wir keinen Ort und keinen Menschen haben, dem wir uns öffnen können, gibt es eine Neigung in uns, uns selbst zu betrafen und „runter“ zu ziehen. Wer sich nicht willkommen und übersehen fühlt, neigt nicht selten zu einer trotzigen Fassade, welche die Trauer über die Ablehnung und die innere Unsicherheit überspielt und zu einem Leben im falschen Selbst führt.

Das wahre Selbst zu entdecken, ist eine der zentralen Herausforderungen auf jedem spirituellen Weg. Dazu ist unabdingbar den eigenen Wunden zu begegnen. Verletzungen, die jemand verbirgt, können zur Selbstverachtung und zur Überzeugung führen, nichts wert zu sein. Ohne Kommunikation und Offenheit entwickelt sich kein gesundes Zugehörigkeitsgefühl und ohne die unbedingte Liebe von jemanden, der an uns glaubt und will, dass wir leben, entwickelt sich ein psychisches Schuldgefühl, nicht liebenswert zu sein.

Ausnahmslos alle Menschen fühlen sich zuwenig geliebt, können daher nur unzureichend lieben und erscheinen daher auch so wenig liebenswert, behauptet der Philosoph Adorno. Ungeliebten Menschen moralische Forderungen und Imperative zu solidarischer Liebe aufzuerlegen („Du sollst deine Feinde lieben, Migranten aufnehmen, das Klima schützen, Verzichten, Opfer bringen…), verfestigt nur die Kälte und Erstarrung, die ungeliebte Menschen in sich spüren. Menschen, die sich für wertlos erachten, blockieren auch die in ihnen steckenden Potentiale. Forderungen allein geben keine Liebeskraft, sondern machen defensiv.

„Aufwärts“ geht es erst, wenn wir hören und unser Herz dafür öffnen, was kein Mensch sich selber sagen kann: „Du bist geliebt!“, „Du bist geschätzt!“, „Du bist gewollt!“, „Du bist mir wertvoll und teuer!“ Erst die Erfahrung bedingungslos geliebt zu sein, ermöglicht, dass Menschen ihrerseits lieben und solidarisch handeln können. Wer eine solche Zusage erhält und daran glaubt (das kann uns niemand abnehmen), der kann die Schönheit der Welt wieder wahrnehmen und „die Sterne schmecken da oben“, wie es die Sängerin ZAZ in ihrem Chanson poetisch ausdrückt.

Die religiöse Sprache würde sagen: der heilende und bedingungslose Energie- und Lebensstrom göttlicher Güte und Barmherzigkeit, der allen Menschen gilt, also inklusiv ist, verwandelt unsere Wunden, wenn wir die Tür unseres Herzens dafür aufschließen. Dadurch eröffnet sich der tiefere Sinn unserer Existenz und das, was hineinströmt, drängt geradezu, überzufließen zu unseren Mitmenschen. Denn Verantwortung und solidarisches Handeln lässt sich nicht von außen verordnen, sondern erwächst unmittelbar aus einer Beziehung, die als Geschenk und Gnade erlebt wird.

Gustav Schädlich-Buter