Aufwärts- „Nach oben“ (Toute la-haut)

Was kann man zum Neuen Jahr Besseres wünschen, als dass es wieder aufwärts gehen soll. Aber dieses Aufwärts kann so und so verstanden werden. Die einen wünschen sich, dass nach Corona und Energiekrise die Wirtschaft neu angekurbelt wird, die anderen hoffen nach einer Krankheit oder einem Burnout, dass es wieder aufwärts geht und ein Neustart gelingt.

Die französische Sängerin ZAZ, mit bürgerlichem Namen Isabelle Geffroy, beschreibt in Ihrem Lied „Tout la-haut“ einen anderen Aufstieg; ein Aufstieg der Seele, ein Aufstieg zum wahren Selbst jenseits falscher Gewissheiten und Sicherheiten. Jenseits von Schein und nach außen gezeigten unbeschwerten Masken, so der Liedtext, liegt oft ein verletztes und verbranntes Kind. Hinter dem selbstsicheren Ego lauern die versteckten Risse der Kindheit. Der Weg nach oben bedeutet für die Sängerin, das Wahre vom Falschen zu entwirren; dabei ist es wichtig, die Einsamkeit und Ruhe schätzen zu lernen, von den Künstlichkeiten zu lassen, um endlich herauszufinden, warum wir existieren und warum wir uns gegen manches wehren. Sie fordert den Hörer des Liedes auf, diesen Weg nach oben zu nehmen, der im Grunde eher einem Abstieg gleicht, in die Tiefen und versteckten Verletzungen des inneren Kindes, und der verlangt, die Täuschungen und falschen Selbstsicherheiten zu entlarven. (zum Lied: ZAZ – Tout là-haut (Clip officiel) – Bing video)

Die Sängerin ZAZ beschreibt im Grunde einen Heilungsweg, der immer dort beginnt, wo wir anfangen und riskieren in der Gegenwart eines anderen über das zu reden, was uns am meisten verletzt. Die gebrochenen und verletzten Stellen in uns brauchen die meiste Liebe und Barmherzigkeit; denn gerade dort, wo wir keinen Ort und keinen Menschen haben, dem wir uns öffnen können, gibt es eine Neigung in uns, uns selbst zu betrafen und „runter“ zu ziehen. Wer sich nicht willkommen und übersehen fühlt, neigt nicht selten zu einer trotzigen Fassade, welche die Trauer über die Ablehnung und die innere Unsicherheit überspielt und zu einem Leben im falschen Selbst führt.

Das wahre Selbst zu entdecken, ist eine der zentralen Herausforderungen auf jedem spirituellen Weg. Dazu ist unabdingbar den eigenen Wunden zu begegnen. Verletzungen, die jemand verbirgt, können zur Selbstverachtung und zur Überzeugung führen, nichts wert zu sein. Ohne Kommunikation und Offenheit entwickelt sich kein gesundes Zugehörigkeitsgefühl und ohne die unbedingte Liebe von jemanden, der an uns glaubt und will, dass wir leben, entwickelt sich ein psychisches Schuldgefühl, nicht liebenswert zu sein.

Ausnahmslos alle Menschen fühlen sich zuwenig geliebt, können daher nur unzureichend lieben und erscheinen daher auch so wenig liebenswert, behauptet der Philosoph Adorno. Ungeliebten Menschen moralische Forderungen und Imperative zu solidarischer Liebe aufzuerlegen („Du sollst deine Feinde lieben, Migranten aufnehmen, das Klima schützen, Verzichten, Opfer bringen…), verfestigt nur die Kälte und Erstarrung, die ungeliebte Menschen in sich spüren. Menschen, die sich für wertlos erachten, blockieren auch die in ihnen steckenden Potentiale. Forderungen allein geben keine Liebeskraft, sondern machen defensiv.

„Aufwärts“ geht es erst, wenn wir hören und unser Herz dafür öffnen, was kein Mensch sich selber sagen kann: „Du bist geliebt!“, „Du bist geschätzt!“, „Du bist gewollt!“, „Du bist mir wertvoll und teuer!“ Erst die Erfahrung bedingungslos geliebt zu sein, ermöglicht, dass Menschen ihrerseits lieben und solidarisch handeln können. Wer eine solche Zusage erhält und daran glaubt (das kann uns niemand abnehmen), der kann die Schönheit der Welt wieder wahrnehmen und „die Sterne schmecken da oben“, wie es die Sängerin ZAZ in ihrem Chanson poetisch ausdrückt.

Die religiöse Sprache würde sagen: der heilende und bedingungslose Energie- und Lebensstrom göttlicher Güte und Barmherzigkeit, der allen Menschen gilt, also inklusiv ist, verwandelt unsere Wunden, wenn wir die Tür unseres Herzens dafür aufschließen. Dadurch eröffnet sich der tiefere Sinn unserer Existenz und das, was hineinströmt, drängt geradezu, überzufließen zu unseren Mitmenschen. Denn Verantwortung und solidarisches Handeln lässt sich nicht von außen verordnen, sondern erwächst unmittelbar aus einer Beziehung, die als Geschenk und Gnade erlebt wird.

Gustav Schädlich-Buter