Glück

Glück

Zurzeit habe ich einen Ohrwurm, es ist ein Lied von der jungen Singer- Songwriterin Lea (bürgerlich Lea- Marie Becker, Jg. 1992) und Max Raabe und seinem Palast Orchester. Es trägt den Titel „Guten Tag liebes Glück“( Bing-Video).

Zum Frühlingsanfang am 20. März wird nun jedes Jahr auf Beschluss der Generalversammlung der Vereinten Nationen im Jahre 2012 der Weltglückstag gefeiert, der vom Staat Bhutan initiiert wurde. Das Himalaya- Königreich Bhutan ist bislang das einzige Land, welches das Glück in seine Verfassung geschrieben hat als „Bruttonationalglück, das wichtiger ist als das Bruttoinlandsprodukt.  Der Wohlstand eines Volkes wird nicht nur anhand von ökonomischen Größen gemessen, sondern orientiert sich an drei Faktoren: (1) eine gute Regierungsführung (2) nachhaltige Entwicklung der Gesellschaft und Wirtschaft (3) Bewahrung kultureller Werte und Umweltschutz. Alle zwei bis drei Jahre werden in Bhutan landesweite Umfragen zur Glücks- und Lebenszufriedenheit erhoben.

Doch wie entsteht eigentlich das individuelle Glück? Wir alle kennen ja einige Redewendungen rund um das Glück wie „Jeder ist seines Glückes Schmied“ oder „Geld allein macht nicht glücklich“, die zeigen, wie unterschiedlich die Glücksvorstellungen von Menschen sind?

Es gibt sicher viele Möglichkeiten, dass so etwas wie Glück in unserem Leben auftaucht. Es kann mich glücklich machen, wenn nach langem tristem Wetter, die Sonne wieder rauskommt; eine zärtliche Berührung oder Umarmung von einem lieben Menschen, ein freundliches Wort, von jemanden, der mich aufbauen will oder tröstet, oder das schmackhafte Essen, das für mich zum Geburtstag gekocht wird, können glücklich machen. Oder das geistige Glück, wenn ein Musikstück mich anspricht und womöglich sogar zu Tränen rührt oder ein Wort in einem Gedicht, das mir ganz nahekommt. Als Kind bedingungslos geliebt zu werden und als Neuankömmling auf dieser Erde sich willkommen fühlen, scheint eine wichtige Grundlage für unser Fähigkeit, glücklich zu sein. Für viele Menschen sind daher vertrauensvolle und tragfähige Beziehungen sehr wichtig.  Manche finden das Glück in Natur- oder Körpererlebnissen wie zum Beispiel im Sport oder im Yoga, und für wieder andere hat Glück etwas damit zu tun, sinnstiftend für andere tätig zu sein, und sich mit seinen Stärken und Talenten in der Gesellschaft einbringen zu können. Auch künstlerisch-kreative Betätigungen können Glück erzeugen und für manche ist die Stille, das Gebet und die Gottesbeziehung ein wichtiger Glücksfaktor. Wer dankbar auf sein Leben (zurück-)schauen kann, vergrößert seine Lebenszufriedenheit und wer das Misslungene und Schlechte vergeben kann, entgiftet die Bitterkeit, welche Glücks- und Lebenszufriedenheit verhindert.

Glückserfahrungen bringen mich dazu, ganz im Augenblick zu sein, in Resonanz mit mir selbst und mit anderen, würde wohl der Soziologe Hartmut Rosa sagen. Mit Dingen, Bildern, Menschen und der Natur in eine mitschwingende Resonanz zu kommen,- das erzeugt Glück. Wenn Mensch und Umwelt, Körper und Seele in Einklang gebracht werden, und sich wechselseitig beeinflussen, entsteht ein Resonanzraum, ein vibrierender Draht zwischen mir und der Welt.  Eine verdinglichte, stumme  und uns entfremdete kalte Welt ermöglicht kein Glückserleben.

Auch die Philosophie hat sich mit dem Thema Glück befasst, so zum Beispiel der Philosoph Aristoteles in der Nikomachischen Ethik. Aristoteles ist in seiner Glücks- und Strebensethik der Auffassung, dass alle Menschen glücklich sein wollen und niemand möchte, dass sein Leben misslingt. Er geht der Frage nach wie man das Glück erreicht. Glück lässt sich- so Aristoteles – nicht direkt anstreben, sondern es stell sich indirekt ein, wenn man dem guten Geist folgt (das griechische Wort für Glück ist ja auch eudaimonia; eu =gut und daimon = der Geist). Dem guten Geist folgen, heißt tugendhaft leben und die vier klassischen Tugenden der Antike, nämlich Klugheit, Gerechtigkeit, Tapferkeit und Maß, im eigenen Leben zu realisieren.

Doch das Streben nach Glück kann auch zu einer Überforderung und zu einem Druck werden, so als wäre ich allein meines Glückes Schmied, und selbst schuld daran, wenn das Glück nicht auf Besuch kommt.  Es gibt im Leben auch Phasen des Unglücklichseins, der Trauer und depressiven Verstimmungen aufgrund von Verlusten, Misslungenem, dem Leid in der Welt oder den Brüchen im eigenen Leben. Bei aller Glückssehnsucht habe ich auch das Recht, einmal unglücklich sein zu dürfen. Nicht selten werden gerade die Menschen depressiv, die sich zwingen, immer gut drauf zu sein und vor anderen glücklich zu wirken.

Auch wenn ich einiges dafür tun kann, ein glückliches Leben zu führen, ist das Glück letztlich doch unverfügbar und lässt sich nicht direkt anstreben. Es sind eher die Momente gelingenden Lebens, bei denen ich mich selbst und mein eigenes Glück gar nicht gesucht habe, aber Sinn erlebe (bei einem selbstlosen Einsatz für andere, für mehr Gerechtigkeit…), die ein stilles Glück aufleuchten lassen.

Impuls zum Nachdenken:

Was ist für Sie Glück?

Wann waren Sie zuletzt glücklich?

Wofür können Sie in ihrem Leben dankbar sein?

Gustav Schädlich-Buter

Impuls zum Nachdenken:

Wann waren Sie zuletzt glücklich?

Wofür können Sie in ihrem Leben dankbar sein?

Gustav Schädlich-Buter

Weihnachten- das Fest der Liebe

Weihnachten- das Fest der Liebe

Was ist Weihnachten? Was bedeutet Weihnachten? Warum feiern wir es seit Jahrhunderten so hartnäckig? Was ist das Wichtigste an Weihnachten und der Weihnachtszeit?

Für die einen ist es heute verbunden mit einem Schlendern über idyllische Weihnachtsmärkte mit Glühwein, Lebkuchen oder Bratwurst, andere sehen darin vorallem den Stress, die entsprechenden und womöglich erwarteten Weihnachtsgeschenke zu besorgen; manche, denen das entsprechende Kleingeld zur Verfügung steht, flüchten daher vor der Stressüberflutung an Weihnachten in die Karibik oder die Malediven. Für die meisten ist es wohl ein schönes Familienfest, bei dem alle zusammenkommen, und in gemütlicher Runde gegessen, getrunken, gesungen und geredet wird. Für wieder andere ist Weihnachten unbedingt mit einem Kirchgang verbunden, und ohne Krippe und „Stille Nacht, heilige Nacht“ ist es kein richtiges Weihnachten.

Womöglich würden bei all den unterschiedlichen Auffassungen über Weihnachten die meisten darin übereinstimmen, dass das Weihnachtsfest vorallem das „Fest der Liebe“ ist, auch wenn es oft genug gerade an Weihnachten zu Streit angesichts der Übererwartungen kommt.

Ein Fest der Liebe, aber was ist damit eigentlich gemeint? Was ist Liebe?

Ist Liebe nicht ein abgegriffenes, missbrauchtes, allzu sentimentales Wort, das in gefühlsduseligen Filmen oder schmalzigen Schlagern vorkommt? Mag sein. Doch ohne Liebe könnte kein Mensch auf Dauer leben, weil Liebe das Grundelexier des Lebens ist. Wer sich geliebt weiß, und wer das Glück hatte, in einem Nest von Liebe und Sicherheit aufzuwachsen, der kann sich in diesem Leben verwurzeln, in seinem Leib ein Zuhause finden und sich mit anderen verbunden fühlen. Der Benediktiner David Steindl-Rast sieht das Verbindende aller Formen der Liebe, – wie die leidenschaftliche Anziehung zwischen Menschen, die Liebe unter Geschwistern ebenso wie die Liebe im Engagement für Andere-, in einem Bewusstsein des Zusammengehörens und der Verbundenheit mit allen und allem.  Liebe ist für Steindl-Rast dieses Ja zum Zusammengehören, ein Ja, das sogar unsere Feinde einschließt. (vgl. Fülle und Nichts, Von innen her zum Leben erwachen, Freiburg im Breisgau 2005)

Die Tragödie besteht nur darin, dass sich die meisten Menschen nicht ausreichend geliebt fühlen und daher auch nicht so richtig lieben können und daher auch nicht so liebenswert sind. Zu viele Menschen fühlen sich nicht geliebt, einsam, unansehnlich und nicht gebraucht; zu viele Menschen fühlen sich nur unter Bedingungen geliebt; geliebt, solange ich funktioniere, meine Leistung bringe, den Erwartungen entspreche…

Vielleicht ist Weihnachten und die Weihnachtsgeschichte mit dem Jesuskind in der Krippe, zunächst einmal die Erinnerung an ein ursprüngliches und bedingungsloses Geliebtsein. Oder so etwas wie es die Schriftstellerin Angelika Krauß in Ihrem Band „Eine Wiege“ (Berlin 2015) ausdrückt: „Es ist wie die Rückkehr zum Glanz der ersten Blicke, zur Freude der Erstbegegnung, eine Art wiedergeschenkte Schönheit des Anfänglichen.“ (13)

Die Philosphin Hannah Arendt spricht von der Natalität oder „Gebürtlichkeit“ (als Gegenbegriff zur Sterblichkeit und dem „Sein zum Tode von Heidegger) und sie meint, dass mit jedem Menschen etwas Neues anfängt und etwas Neues in Bewegung gesetzt werden kann.

Oder christlich ausgedrückt: Gott offenbart und enthüllt seine bedingungslose und überströmende Liebe in diese unsere Welt und Geschichte hinein mit der Geburt von Jesus Christus und setzt damit einen Neuanfang, auch angesichts der ganzen Kakophonie menschlicher Bosheiten und dem Zwang immer wieder einander zu verlezten.

Es ist das göttliche Kind, das unser verletztes, verwundetes und entfremdetes inneres Kind berühren und heilen will, indem es uns ein fragloses Angenommensein ins Ganze der Wirklichkeit hineinnimmt. Und in dieser Begegnung geschieht ein Neuanfang, ein Aufbruch, der sagt, dass wir nicht auf das Vergangene festgelegt sind, dass wir zutiefst geliebt und erkannt sind, dass wir mehr sind als eine Laune der Natur.

Es ist das göttliche Kind, das wir in der Krippe betrachten können, uns dass uns mit offenen Armen in Empfang nehmen will und sagt, dass wir ohne Wenn und aber von Gottes Liebe umfangen sind.

Nicht umsonst sagt der Mystiker Angelus Silesius:

Wird Christus tausendmal zu Bethlehem geboren
und nicht in dir, du bleibst noch ewiglich verloren.“

(vgl. der Cherubinische Wandersmann)

Für den Mystiker ist das Weihnachtsgeschehen daher weit mehr als eine beschauliche Geschichte, sondern er sieht, nach weihnachtlichen Vorbild, eine innere Verbindung zwischen der Menschwerdung Jesu und der inneren Geburt Gottes in der menschlichen Seele. Dadurch wird der Mensch aus seiner Verlorenheit, aus seinen Verstrickungen herausgeführt und letztlich von seinem Gefühl des Ungeliebtseins erlöst.

Wir müssen zudem über ein rein sentimentales Verständnis von Weihnachten als „Warten auf das Jesuskind“ hinausgehen. Es geht um eine sich entäußernde Liebe, die nicht erst mit der Geburt Jesu (dort in verdichteter Form), und seiner Inkarnation, sondern schon am Anfang und als Urgrund der Schöpfung wirkte und weiterwirkt.

Für den Jesuiten und Naturforscher Teilhard de Chardin, ist die Liebe als Energieform die zentrale Kraft schlechthin, für das Fortschreiten der Evolution und das Weiterentwickeln der Schöpfung. (vgl. dazu ausführlicher, Raimund Badelt, Energie Liebe Teilhard de Chardin- ein Mystiker der Evolution, Würzburg 2017)

Und um es noch etwas anders mit den Worten der Dichterin Angelika Krauß zu sagen: „In unserem schnellen Leben, das sich in immer neue, erregende Simulationen zu verlieren droht, erscheint sie (die Liebe, d.V.) wie das letzte eherne Maß. Es muss auch von dort stammen, von wo wir unserer molekularen Zusammensetzung nach herkommen: von weit her in Zeit und Raum, von dort oben. Das hieße, der gleichgültige Kosmos impliziert die Liebeskraft vielleicht ebenso wie die Gravitation.“ (Marion Gees: Die Kindheit, die Liebe und die Form. In : Angela Krauß. Text+ Kritik 208. München 2015)

Schon am Anfang als Gott beschloss, sich in der Schöpfung vor 13,7 Milliarden Jahren beim Urknall zu manifestieren, quasi als erste Inkarnation- man spricht auch vom universalen Christus (vgl. Richard Rohr, Alles trägt den einen Namen – Die Wiederentdeckung des universalen Christus“), waren Materie und Geist schon eins, geschah dieser atemberaubende Aufbruch und die Urexplosion aus einem dunklen Urschoß ins Leben, die bis heute geschieht. Gott stiftet diese Urbeziehung vor aller Ewigkeit und diese Beziehung ist Liebe, die auch heute mit mir und in mir geschieht. Oder wie es in den alten Texten der Liturgie heißt: „Ex utero ante luciferum genui te“ (Ich habe Dich vor dem Lichtgestirn aus dem Ur- Schoß gezeugt. (Psalm 110,3) Vgl. dazu, Bernardin Schellenberger, Im Glanz des göttlichen Lichtes. Orthodoxe Mystik, Geheimnis und Herausforderung München 2014)

Wenn wir diese Tiefendimension von Weihnachten vernachlässigen, so der frühere Trappist Bernardin Schellenberger, und die Weihnachtsbotschaft auf die Geschichte vom Kind im Stall verkürzen, verspielen wir die atemberaubende Vergegenwärtigung des unfassbaren Gottes im Weihnachtsfest.

„Jene Wirklichkeit, die den unermesslichen Kosmos und auch unsere Welt und uns selbst hervorgerufen hat, gibt sich selbst in die Dynamik von Werden und Vergehen, von Geborenwerden und Sterben hinein. Ihr Name bleibt nicht absolut geheimnisvoll und rätselhaft, sondern wir in Jesus Christus ein Mensch wie wir, den man benennen und sich vorstellen kann. Er teilt unser Schicksal bis zum Tod in uns, ja in uns. Mehr noch: Er durchbricht diesen unseren Tod, der der seinige geworden ist und führt uns in die Gegenwart seines unfassbaren ewigen Lichtes, das den Hirten aus der dunklen Nacht über den Feldern von Bethlehem aufgestrahlt ist.“ (Bernardin Schellenberger, Im Glanz des göttlichen Lichtes, S.80)

Gustav Schädlich-Buter

Metamorphose

„Wandlungsprozesse- Heilungsräume- Metamorphosen oder es ist ein „Riss in allen Dingen, aber genauso kommt das Licht hinein“

„Das Christentum ist vorallem eine Religion für Menschen, die einen tiefen Riss in ihrem Leben erlebt haben“ (Thomas Merton)

In der Werbung und in den Medien werden uns vor allem perfekte, gutaussehende, attraktive, leistungsstarke, gesunde und unabhängige/autonome Menschen präsentiert. Models und Bodybuilder, rund um die Uhr arbeitende Manager*innen, Menschen, die sich unabhängig und völlig frei von allen Bindungen zeigen, angstfreie Abenteurer, die niemanden brauchen, Schönheiten, die nur sich selbst feiern,- das sind die modernen und unverwundbaren Held*innen unserer Zeit.

Doch dies ist aber nur die halbe Welt und oft mehr Schein als die Wahrheit. Die Versuchung ist gegeben beim oberflächlichen Blick und Sinneseindruck hängen zu bleiben und nicht dahinter und darunter zu schauen in die Tiefe menschlicher Existenz. 

Das Leben von Philippe Pozzo di Borgo, der bis zu seinem 42. Lebensjahr Geschäftsführer des Champagnerunternehmens Pommery war, dann durch einen Gleitschirmunfall vom Hals ab querschnittgelähmt, ist vielen bekannt durch den Film „Ziemlich beste Freunde“. Er berichtet davon, wie er sich nach Erscheinen seiner Autobiografie vor Mails nicht mehr retten konnte, in denen alles Unglück der Welt auf seinem Bildschirm landete und die Unermesslichkeit der geschilderten Verzweiflung ihn überwältigte. In einem Interview mit Elisabeth von Thadden sagt er:

„Es klafft ein Abgrund zwischen den Anforderungen der Gesellschaft und dem, was sich in den Menschen zuträgt. Sie fühlen sich abgehängt, ausgeschieden, zerstört, beladen, gejagt, sie sind voller Scham und Angst, weil sie nicht leisten können, was man von ihnen verlangt, als Arbeitnehmer, als Familienväter, als Migranten oder Arbeitslose, es sind alle Lebenssituationen dabei, ob mit körperlicher Behinderung oder nicht. […] All diese Mails belegen ein massenhaftes Gefühl des Scheiterns. […] Die Menschen wollen ein sinnvolles Leben führen, sie wollen sich nicht fortgesetzt drängen und hetzen lassen. Jeder weiß oder ahnt doch zumindest, dass die menschliche Existenz zerbrechlich ist. Man glaubt nicht mehr an das Trugbild des ewig jungen und starken schönen Menschen. Die Zerbrechlichkeit muss wieder von den Rändern ins Zentrum rücken.“ (Pozzo di Borgo u. a. 2012, 8f.,

Diese Verwundbarkeit menschlicher Existenz, so Pozzo di Borgo, werde verschleiert durch die vielfältigen Trugbotschaften der Medienkultur mit ihren überzogenen Wünschen und Ansprüchen an Leistung, Effizienz, Schönheit, ewige Jugend, Unverwundbarkeit, sogar Unsterblichkeit. Diese verzerrten nicht nur die Wirklichkeit, sondern führen auch zu einem fraglichen Menschenbild und zu permanenten Angstzuständen. Für Pozzo di Borgo sind elementare Beziehungen statt Gleichgültigkeit für das Glückserleben zentral; wechselseitige Abhängigkeit, ein Geben und Nehmen, das auf freundliche Weise geschieht, sei keine Minderung der Würde, sondern führe zum Glück.“ (in Vogt, Schädlich-Buter, Spiritualität und Verantwortung, S.89)

Menschen mit einer Behinderung oder überhaupt Menschen in prekären Lebenssituationen stellen dazu ein Gegenbild dar, sind die Antihelden, die weder unabhängig noch leistungsstark sind, die nicht mit Statussymbolen protzen können, sondern zerrissen daherkommen (vgl. den Helden Zyklus von Baselitz). Menschen mit einer Behinderung sind so wichtig für unsere Gesellschaft, weil sie den zerbrechlichen und verwundbaren Teil menschlicher Existenz sichtbar machen, weil sie die Endlichkeit und Bruchstückhaftigkeit menschlicher Existenz bezeugen durch ihre bloße Anwesenheit, weil sie den Gläubigen sagen, was Gnade ist und was es mit der Sehnsucht auf sich hat  jenseits aller Leistung geliebt und angenommen zu werden, und,  weil gerade die schwerstbehinderten Menschen,  uns die Angewiesenheit, Bedürftigkeit und Nacktheit unserer Existenz deutlich machen können, die jene durch nichts kompensieren können. Der Körper des behinderten Menschen ist der Ort für die bedingungslose Zuwendung eines Gottes, der bedingungslos liebt.

Menschen mit einer Behinderung sind Zeugen für das Ganze des Menschseins, weil sie den omnipotenten Helden oder Heldin infrage stellen und wie ein Protest wirken gegen die Hybris des gottgleichen Menschen, dessen einziger Bezugspunkt er selbst ist.

Diese Infragestellung menschlicher Allmächtigkeit und Omnipotenz geschah in den letzten Jahren auch durch die weltweiten Krisen, durch Corona, den Ukrainekrieg und zuletzt das schreckliche Erdbeben in der Türkei und Syrien.

„Es ist ein Riss in allen Dingen, aber genauso kommt das Licht hinein!“, heißt es im Lied Anthem von Leonhard Cohen und er will damit sagen, dass die Risse überall vorhanden sind, aber auch, dass aus den Rissen in unserem Leben, aus den Brüchen und Erfahrungen des Scheiterns, Neues und Schönes entstehen kann. (Dies ist der Ansatz einer „Spiritualität von unten“) Ja, dass sogar manchmal Altes, womöglich Überlebtes zerbrechen muss, damit eine neue, bislang noch ungeahnte Gestalt sich offenbaren kann. Der Bruch oder die Niederlagen kann eine Metamorphose einleiten, der über den Weg in die Tiefe eine neue Identität hervorbringt. Oder anders gesagt: das falsche, oberflächliche, egozentrische oder in festgezurrten Vorbahnungen sich bewegende Ego/Ich, wird aufgebrochen. Ein Bruch, ein Riss, der zunächst schmerzt, wehtut, die Orientierung nimmt und in einen Schwellenraum versetzt, der Monate, ja sogar Jahre dauern kann.

Der „Schwellenraum“ (Richad Rohr) ist der Übergangsraum, in dem das Alte nicht mehr gilt und das Neue noch nicht aufgetaucht ist. Bilder und Prototypen für diesen Zustand sind Jona, der im Walfischbauch sitzt oder Hiob im Dreck und im Schmerz seiner ganzen Verluste. Doch in der Tiefe kann etwas wachsen ohne unser Zutun. „Er schläft und steht wieder auf, es wir Nacht und wird Tag, der Samen keimt und wächst, und der Mann weiß nicht wie.“ (Markus 4,26) Und manchmal ist es ein Hoffnungsschimmer, der die Dunkelheit erleuchtet, eine Kraft, die von irgendwoher kommt und sagt, „Jetzt nicht aufgeben!“ und „Am Leben bleiben!“. Meister Eckhart sagt, wenn ich nicht zum Grunde gegangen wäre, also in den Grund meiner Existenz, dann wäre ich zugrunde gegangen. Am Grund meiner Existenz lässt sich das wahre Selbst entdecken, an dessen Tür, inständig und mit viel Geduld der klopft, den Johannes vom Kreuz als den „Ich weiß nicht was“ bezeichnet.

Der „Schwellenraum“ kann zum „Heilungsraum“ werden, der für unterschiedliche Menschen ganz unterschiedlich aussehen kann: manche bekommen durch die Kraft der Natur neuen Antrieb für ihr Leben. So der bekannte Sozialfotograf Sebastiao Salgado, der nach erschütternden Erfahrungen des Genozids in Ruanda den Glauben an die Menschheit verloren hat, und im Pflanzen eines Waldes neue Kraft schöpft. Oder Ingrid Leitner, die Gründerin des CBF (Clubs Behinderter und ihrer Freunde), die mit 15 Jahren an Polio erkrankte, hat ihre Wohnung in eine grüne Oase verwandelt, wodurch sie viel Kraft bekam. (Autobiografie von Ingrid Leitner, Das Leben der Sternentaucherin). Andere entdecken in der Kunst und kreativen Schaffen einen Weg das Leid und die Gebrochenheit zu durchschreiten, finden in der Malerei wie Frieda Kahlo ein Ausdrucksmittel für ihr innerstes Erleben, in der Trauer, Schmerz und unbändige Lebensfreude zugleich auftaucht.  Wieder andere entdecken wie Philippe de Bozo, Chef einer großen Champagnerfirma und nach einem Gleitschirmabsturz vom Hals ab gelähmt- vielen durch den Film „Ziemlich beste Freunde“ bekannt-, die Wichtigkeit von Beziehung zu anderen Menschen, aber auch wie wesentlich die Stille im Leben ist. Helen Keller, die mit zwei Jahren Augenlicht und Gehör verliert, sagt: „Wenn eine Tür des Glücks sich schließ, öffnet sich eine andere, aber oft starren wir so lange auf die geschlossene Tür, dass wir die, die sich uns geöffnet hat nicht sehen. Helen Keller findet eine Aufgabe, die auch Heilungsraum ist, im Engagement für andere blinde Menschen, aber sie setzt sich auch für die Rechte der Schwarzen und die Frauenrechte ein. Wer sich um andere kümmert, trägt auch zu seiner eigenen Heilung und zum eigenen Wohlbefinden bei statt nur um sich selbst zu kreisen. (vgl. frei nach Jesaja 58,10: Wenn es dir dreckig geht, dann mach dich auf und kümmere dich um die Ärmsten, Notleidenden und teile dein Brot mit ihnen, dann wird in Kürze dein Licht wieder aufleuchten).

Es gibt auch verwundete Heiler, manche wie Claude Anshin, der sich vom Killer im Vietnamkrieg und PTB- Störungen, Drogen und Alkohol nach seiner Rückkehr nach Amerika, schließlich zum buddhistischen Mönch wandelt. Er findet über den vietnamesischen Mönch Thich Nhat Hanh zur Meditation, und zur Aufgabe seines Lebens als Friedensaktivist.

Thomas Merton, der durch sein Buch „The Seven Storey Mountain“ (deutsch: Der Berg der sieben Stufen) weltbekannt gewordene Trappistenmönch, erkennt im Laufe seines Lebens, dass echtes spirituelles Leben aus dem Dunkel und aus dem Scheitern wächst, und dass der Weg zu Gott durch die Wüste führt. Nur so könnte man das eingebildete, falsche, kranke und egozentrische Ego überwinden. Eine „Spiritualität von unten“ besagt, dass im „Riss“ und in den Brüchen des Lebens, die Chance liegt, dass sich die Türen der Seele öffnen für das Nahekommen Gottes als einem, der bedingungslos liebt und annimmt. Der „Riss“, wo wir am Ende unserer Kräfte sind und unsere Ohnmacht eingestehen müssen (wie die anonymen Alkoholiker) kann wie eine Öffnung sein, durch welche ein Licht in uns einströmt, dass wir nicht selbst erzeugen können.

„Ein Trauma stellt die Betroffenen vor einen Wendepunkt in ihrem Leben und kann trotz aller Verletzungen, die Möglichkeit bieten, gestärkt aus ihm hervorzugehen. Eine wichtige Voraussetzung dafür ist, dass sich der Einzelne der Realität stellt, anstatt sie zu leugnen oder zu verdrängen, und das Unglück als Teil seines Lebens annimmt. In der Resilienzforschung wird diese Fähigkeit Akzeptanz genannt.“ (Vogt, Schädlich-Buter, Spiritualität und Verantwortung, S.52) In der Kunst könnte man an Joseph Beuys Installation „Zeige deine Wunde“ denken oder an das Bild von Caravaggio „Der ungläubige Thomas“, dem Jesus seine offene Wunde hinhält und die Möglichkeit eröffnet, sie zu berühren. Um in der Akzeptanz des Verlustes, der Trauer um Unwiederbringliches, im Scheitern von Lebensplanungen nicht aufzugeben und Hoffnung zu finden, ist es wichtig durch den Schmerz, das Leiden und die Trauer zu gehen, manchmal auch nur auszuhalten, was mir da widerfährt. Emmy Werner sagt zu resilienten Menschen „vulnerable but invincible“, und meint, dass es sich bei diesen Menschen nicht um unverwundbare Helden/Held*innen handelt, sondern nur, dass sie sich durch die Lebenskrisen nicht unterkriegen lassen und dadurch ein psychisches Immunsystem entwickeln. Für die Reifung durch eine Krise gibt es kein Rezept, aber wer es wagt, sich mit seinen Lebenswunden anderen Menschen oder Gott zu öffnen und anzuvertrauen, für den entspringt nicht selten eine Quelle der Hoffnung.

Biblisch könnte man an dieser Stelle an das Paulus Wort denken: „Wenn ich schwach bin, dann bin ich stark“ (2 Kor 12,10) Es gilt im Prozess der Verarbeitung auch die dunklen Gefühle (auch Suizidgedanken), die offenen und ungelösten Fragen, die mit der Lebenskrise einhergehende Verunsicherung und Verzweiflung, die Frage nach dem Sinn dessen, was mir das Leben zugemutet und auferlegt hat, die Leere, in der sich kein Gott zeigen will (vgl. das Gedicht von Jean Paul „Siebenkäs“),….zu stellen. Das Leid bleibt unerlöst, wenn es keinen Ausdruck findet. Wer sich verletztlich zeigt, eröffnet Reifungsprozesse.

Wer durch eine Lebenskrise hindurch gegangen ist, hat sich verwandelt (das bestätigen nicht nur die Ergebnisse der Traumaforschung, sondern auch die Berichte von Nahtoderfahrungen wie sie der Philosophieprofessor Godehard Bruntrüp S.J. eindrucksvoll beschreibt). Menschen, die durch Leid und Krisen gegangen sind, werden wie auch Forschungen zeigen, empathischer, liebesfähiger, entwickeln eine neue Wertehierarchie; sinnerfüllte Beziehungen sind wichtiger als Erfolg im Beruf; das eigene Ich öffnet sich stärker für den anderen, erlebt mehr Verbundenheit, kreist weniger um sich selbst, wird sehender für die Not des Anderen und lebt von einem inneren gottnahen Zentrum her, das frei ist von außen auferlegten Bedingungen und Strukturen des Funktionierens und Wertgeschätzseins in Welt und Gesellschaft. Die spirituelle Sprache spricht hier vom wahren Selbst.

Der Franziskaner Richard Rohr schreibt: „Unser falsches Selbst, das wir auch unser „kleines Selbst“ nennen könnten, ist unsere Startrampe: unser Körperbild, unser Job, unsere Ausbildung, unsere Kleidung, unser Geld, unser Auto, unsere sexuelle Identität, unser Erfolg und so weiter. Dies sind die Insignien des Egos, die wir alle benutzen, um uns durch einen gewöhnlichen Tag zu bringen. Sie sind eine schöne Plattform, auf der man stehen kann, aber sie sind weitgehend eine Projektion unseres Selbstbildes und unserer Anhaftung daran. Keiner von ihnen wird von Dauer sein! Wenn wir in der Lage sind, über unser falsches Selbst hinauszugehen – zur richtigen Zeit und auf die richtige Weise – wird es sich genauso anfühlen, als hätten wir nichts verloren. In der Tat wird es sich wie Freiheit und Befreiung anfühlen. Wenn wir mit dem Ganzen verbunden sind, müssen wir den bloßen Teil nicht mehr schützen oder verteidigen. Wir sind jetzt mit etwas Unerschöpflichem verbunden. Unser falsches Selbst nicht zur richtigen Zeit und auf die richtige Weise loszulassen, ist genau das, was es bedeutet, festzustecken, gefangen und süchtig nach uns selbst zu sein.

Und James Finley, einst Novize bei Thomas Merton, später Traumatherapeut, reflektiert Merton`s Lehre über das Wahre Selbst und das separate (oder falsche) Selbst:

Unser wahres Selbst ist ein Selbst in Gemeinschaft. Es ist ein Selbst, das in Gottes ewiger Liebe besteht. Ebenso ist das falsche Selbst das Selbst, das außerhalb dieser geschaffenen bestehenden Gemeinschaft mit Gott steht, die unsere Identität bildet…..In unserem Eifer, die Vermieter unseres eigenen Seins zu werden, klammern wir uns an jede Errungenschaft als eine Art Bestätigung unserer selbsternannten Realität. Wir werden zum Zentrum und Gott zieht sich irgendwie an einen unsichtbaren Rand zurück. Andere werden in dem Maße real, in dem sie zu bedeutenden anderen für die Pläne unseres eigenen Egos werden. Und in diesem Prozess stirbt das GANZE Gott in uns und das sterile Nichts unserer Wünsche wird zu unserem Gott. Merton macht deutlich, dass die selbsternannte Autonomie des falschen Selbst nur eine Illusion ist…“ (vgl. Homepage des CAC, Center für action and contemplation)

Der Prophet Ezechiel spricht davon, dass G*tt das Herz von Stein aus unserer Brust nimmt und uns ein neues lebendiges Herz schenkt. (Ez 11, 19.20) Ein Herz, das barmherzig ist und nachsichtig gegenüber Fehlern und Schuld ist, und das sich solidarisch an die Seite der Menschen stellt, die an den Rand gedrängt werden und Ungerechtigkeit erleiden.  Ein Herz, das nicht gleichgültig zusieht, wie Menschen exkludiert oder misshandelt werden. Gerade die Gleichgültigkeit ist Zeichen eines verschlossenen, tauben, fühllosen Herzens wie wir es sehen angesichts der ertrinkenden Migranten im Mittelmeer.  Wer sich um andere kümmert und sorgt, entgrenzt sein Herz, überschreitet/transzendiert sich selbst und öffnet sich der Kraft verwandelnder Liebe.

Aus einer theologischen Perspektive gehören Leid, Schuld, Scheitern und Ungerechtigkeit zentral zum menschlichen Leben, das oft nicht nach unseren Vorstellungen läuft. Nicht umsonst ist das Kreuz zentrales Erlösungssymbol der Christen. Das Leiden und Scheitern hat nicht das letzte Wort, sondern ist ein Durchgangsweg zur Auferstehung und zu neuem, verwandeltem Leben; insofern dient der Weg Jesu auch als Modell für menschliche Transformationsprozesse.

 „Deinen Tod, o Herr, verkünden wir und deine Auferstehung preisen wir“, lautet das Geheimnis des Glaubens. Christliche Hoffnung ist kein blinder Optimismus, sondern eine Gewissheit, die durch die Erfahrung des Kreuzes hindurchgegangen ist. Mitten im Fragmentarischen des eigenen Lebens ahnen manche etwas von einem Ganzen, das allein mit der Kraft des Willens nicht hergestellt werden kann. Heilungsprozesse ereignen sich meist so, dass  ein „Anderer“ (G*tt) oder etwas anderes jenseits meines eigenen Wollens und Vermögens, die Bruchstücke meines Lebens zu etwas ganz Neuem, zuweilen mit unendlicher Geduld, zusammenfügt.  Schönheit und Hässliches, Verzweiflung und Hoffnung liegen in der menschlichen Seele oft ineinander verschränkt. Sobald ich das eine weglasse, verbanne ich das Andere mit. Wenn ich Schmerz zulasse, öffne ich mich auch für die Schönheit und das Neue, das werden will.  Die japanische Kunst des Kintsugi, wo Vasen zerbrochen und dann mit Gold-Leim wieder zusammengesetzt werden, können als Metapher gelesen werden für eine neue Ganzheit, für die Heilung des Gebrochenen und wie aus Bruchstücken eine neue Schönheit entsteht.

Liturgisch lässt sich angesichts der Zerbrechlichkeit und Verwundbarkeit menschlicher Existenz an das Brotbrechen der Eucharistie denken (wie es der Priester und Lyriker Andreas Knapp in seinem Buch „Vom Segen der Zerbrechlichkeit“ herausgearbeitet hat). Der die rituelle Handlung begleitende Satz „Seht zerbrochen für uns…“ erinnert daran, dass sich die Bruchstelle Jesu und unsere eigenen Bruchstellen zu einem Ganzen zusammenfügen. Allerdings nur dort, wo ich bereit bin, die Bruchstellen meines Lebens hinzuhalten, weil glatten und abgerundeten Stellen keine Anknüpfungsmöglichkeit bieten.

Gustav Schädlich-Buter, März 2023

Aufwärts- „Nach oben“ (Toute la-haut)

Was kann man zum Neuen Jahr Besseres wünschen, als dass es wieder aufwärts gehen soll. Aber dieses Aufwärts kann so und so verstanden werden. Die einen wünschen sich, dass nach Corona und Energiekrise die Wirtschaft neu angekurbelt wird, die anderen hoffen nach einer Krankheit oder einem Burnout, dass es wieder aufwärts geht und ein Neustart gelingt.

Die französische Sängerin ZAZ, mit bürgerlichem Namen Isabelle Geffroy, beschreibt in Ihrem Lied „Tout la-haut“ einen anderen Aufstieg; ein Aufstieg der Seele, ein Aufstieg zum wahren Selbst jenseits falscher Gewissheiten und Sicherheiten. Jenseits von Schein und nach außen gezeigten unbeschwerten Masken, so der Liedtext, liegt oft ein verletztes und verbranntes Kind. Hinter dem selbstsicheren Ego lauern die versteckten Risse der Kindheit. Der Weg nach oben bedeutet für die Sängerin, das Wahre vom Falschen zu entwirren; dabei ist es wichtig, die Einsamkeit und Ruhe schätzen zu lernen, von den Künstlichkeiten zu lassen, um endlich herauszufinden, warum wir existieren und warum wir uns gegen manches wehren. Sie fordert den Hörer des Liedes auf, diesen Weg nach oben zu nehmen, der im Grunde eher einem Abstieg gleicht, in die Tiefen und versteckten Verletzungen des inneren Kindes, und der verlangt, die Täuschungen und falschen Selbstsicherheiten zu entlarven. (zum Lied: ZAZ – Tout là-haut (Clip officiel) – Bing video)

Die Sängerin ZAZ beschreibt im Grunde einen Heilungsweg, der immer dort beginnt, wo wir anfangen und riskieren in der Gegenwart eines anderen über das zu reden, was uns am meisten verletzt. Die gebrochenen und verletzten Stellen in uns brauchen die meiste Liebe und Barmherzigkeit; denn gerade dort, wo wir keinen Ort und keinen Menschen haben, dem wir uns öffnen können, gibt es eine Neigung in uns, uns selbst zu betrafen und „runter“ zu ziehen. Wer sich nicht willkommen und übersehen fühlt, neigt nicht selten zu einer trotzigen Fassade, welche die Trauer über die Ablehnung und die innere Unsicherheit überspielt und zu einem Leben im falschen Selbst führt.

Das wahre Selbst zu entdecken, ist eine der zentralen Herausforderungen auf jedem spirituellen Weg. Dazu ist unabdingbar den eigenen Wunden zu begegnen. Verletzungen, die jemand verbirgt, können zur Selbstverachtung und zur Überzeugung führen, nichts wert zu sein. Ohne Kommunikation und Offenheit entwickelt sich kein gesundes Zugehörigkeitsgefühl und ohne die unbedingte Liebe von jemanden, der an uns glaubt und will, dass wir leben, entwickelt sich ein psychisches Schuldgefühl, nicht liebenswert zu sein.

Ausnahmslos alle Menschen fühlen sich zuwenig geliebt, können daher nur unzureichend lieben und erscheinen daher auch so wenig liebenswert, behauptet der Philosoph Adorno. Ungeliebten Menschen moralische Forderungen und Imperative zu solidarischer Liebe aufzuerlegen („Du sollst deine Feinde lieben, Migranten aufnehmen, das Klima schützen, Verzichten, Opfer bringen…), verfestigt nur die Kälte und Erstarrung, die ungeliebte Menschen in sich spüren. Menschen, die sich für wertlos erachten, blockieren auch die in ihnen steckenden Potentiale. Forderungen allein geben keine Liebeskraft, sondern machen defensiv.

„Aufwärts“ geht es erst, wenn wir hören und unser Herz dafür öffnen, was kein Mensch sich selber sagen kann: „Du bist geliebt!“, „Du bist geschätzt!“, „Du bist gewollt!“, „Du bist mir wertvoll und teuer!“ Erst die Erfahrung bedingungslos geliebt zu sein, ermöglicht, dass Menschen ihrerseits lieben und solidarisch handeln können. Wer eine solche Zusage erhält und daran glaubt (das kann uns niemand abnehmen), der kann die Schönheit der Welt wieder wahrnehmen und „die Sterne schmecken da oben“, wie es die Sängerin ZAZ in ihrem Chanson poetisch ausdrückt.

Die religiöse Sprache würde sagen: der heilende und bedingungslose Energie- und Lebensstrom göttlicher Güte und Barmherzigkeit, der allen Menschen gilt, also inklusiv ist, verwandelt unsere Wunden, wenn wir die Tür unseres Herzens dafür aufschließen. Dadurch eröffnet sich der tiefere Sinn unserer Existenz und das, was hineinströmt, drängt geradezu, überzufließen zu unseren Mitmenschen. Denn Verantwortung und solidarisches Handeln lässt sich nicht von außen verordnen, sondern erwächst unmittelbar aus einer Beziehung, die als Geschenk und Gnade erlebt wird.

Gustav Schädlich-Buter

Das menschliche Herz und seine Bedeutung

Das Herz ist das zentrale Organ des Menschen, weil es ununterbrochen pulsiert -bis zu 100.000-mal am Tag- und dabei Blut in die Adern pumpt und den ganzen Leib mit lebenswichtigen Elementen versorgt; sobald das Herz zu schlagen aufhört, können Kreislauf und Stoffwechseln nicht mehr stattfinden (etwas vereinfacht erklärt). Ohne das Herz – unsere Blutpumpe, ein ca. 300 Gramm leichter Hohlmuskel – kann niemand leben.

Auch die Signale des Herzens können uns etwas sagen über unseren Lebensstil, unsere Beziehungen, oder die Belastungen unseres Lebens, je nachdem, ob es sich um eine Herz-Rhythmus-Störung, Bluthochdruck, Vorhofflimmern oder gar ein Herzinfarkt handelt. (zu den psychosomatischen Zusammenhängen von Herzerkrankungen, vgl. z.B.: M. Ermann, Herz und Seele, Psychosomatik am Beispiel des Herzens (Lindauer Beiträge zur Psychotherapie und Psychosomatik, Kohlhammerverlag 2005=

Das Herz, Acryl auf Leinwand

Das menschliche Herz, das als Organ im Inneren des Leibes verborgen liegt, gilt als ein Sinnbild für die Liebe, die nach einem sichtbaren Ausdruck verlangt: die Tasse mit dem Herzsymbol, der herzförmige Schmuckanhänger, das Herzmotiv auf dem Bettbezug, dem Geburtstagskuchen oder dem Verpackungspapier, oder auf dem Grabstein, um nur einige Beispiele zu nennen. Manche ritzen ein Herz in den Baum und schreiben ihre Namen darunter, um ihrer Liebe einen für alle sichtbaren Ausdruck zu geben. Ältere Menschen kennen noch die Herz- Jesu Andachtsbilder, bei welchen Jesus mit einem brennenden herzen dargestellt wird.

Auch in der Symbolsprache spielt das menschliche Herz eine zentrale Rolle: So tut es uns gut, wenn wir jemanden unser Herz öffnen und ausschütten können; unser Herz hüpft vor Freude, wenn wir einen geliebten Menschen wiedersehen und wir haben ein gebrochenes Herz, wenn eine Beziehung in die Brüche geht; sobald eine Beziehung gestört ist, verhärtet sich unser Herz. Bei einem Schrecken rutscht uns das Herz in die Hose. Gott sei Dank gibt es Menschen, die ihr Herz am rechten Fleck haben; und großherzige Menschen schauen über unsere Fehler und Schwächen hinweg. Manchmal muss ich meinem Herzen einen Stoß geben, um zu einer Entscheidung zu kommen oder über meinen Schatten zu springen. Wo Menschen herzensträge werden, verpanzern sie sich und verlieren ihre Fähigkeit zum Mitgefühl und Mitleid. Aber das Herz kann auch eine Mördergrube sein, aus der Verleumdung, Hass und Lästerung emporsteigen. Viele weitere Beispiele für eine Symbolsprache des Herzens ließen sich finden, die immer auszudrücken versucht, wie es um uns steht.

In der Geistesgeschichte hat sich eine Philosophie des Herzens entwickelt. Für Aristoteles gilt das Herz als Träger der Seele, ein Zentralorgan der Lebenswärme und des wahrnehmenden sowie denkenden Vermögens (Aristoteles, »De anima«, II.1,412a2-3). Pascal sagt: „Das Herz hat seine Gründe, die die Vernunft nicht kennt … Ich behaupte, dass das Herz das umfassendste Wesen ist.“ Augustinus spricht davon, dass unser Herz so lange unruhig ist, bis es in Gott ruht. Und für Romano Guardini ist das Herz ein vermittelndes Organ zwischen Geist, Leib und Seele. (vgl. dazu Otto Betz, Der Leib als sichtbare Seele, Stuttgart 1991, S.74f)

Auch die Dichter bedienen sich einer Sprache des Herzens, die wärmer ist als die des kühl analysierenden Verstandes und genährt wird durch die Erfahrungen von Verletzlichkeit und Intimität. Für den romantischen Dichter Novalis ist das Herz nicht nur der „Schlüssel der Welt und des Lebens“, sondern ein „religiöses Organ“, das über die Begrenzungen des Ich hinausreicht und Einfallstor für die göttliche Wirklichkeit ist, nicht selten vermittelt durch die menschliche Liebe. (vgl. Otto Betz, a.a.O., S.77 f.) Alle religiösen Erfahrungen und Offenbarungen scheinen im Hoheitsgebiet des Herzens zu geschehen. Solange der menschliche Verstand nicht im Herzen verankert ist, werden wir immer in Gegensätzen denken, wodurch ein ganzheitliches und mitfühlendes Sehen der Welt verhindert wird. Daher lehren und üben die orthodoxen Mönche das sogenannte „Herzensgebet“. (vgl. Andreas Ebert, Peter Musto, Praxis des Herzensgebetes, München 2013)

Auch die Bibel gebraucht viele Herzmetaphern, zumal das Herz im alten Israel identisch ist mit der menschlichen Person. Gott schreibt uns zum Beispiel seine Weisung ins Herz (Jer 31,33) und er gibt uns ein Herz aus Fleisch und Blut statt dem versteinerten Herzen, das empfindungslos ist (Ez 11,19) Und der junge König Salomo bittet Gott für seine Regentschaft, um ein „hörendes Herz“. (1 Kön 3,9)

Jesus selbst preist jene selig, die ein „reines Herz“ (Mt 5,8) haben, denn sie werden Gott schauen. Ein Herz, das Erbarmen übt mit den Trauernden, Niedergedrückten, Zurückgesetzten und zu kurz Gekommenen, wird rein. Ein reines Herz ist eben nicht unberührbar, sondern lässt sich vom Leid und den Nöten der Menschen anrühren. Ein Herz, das eben noch nicht mit allen Wassern gewaschen und abgebrüht ist. Ein reines Herz sieht die Welt mit den mitleidenden Augen Gottes.

Zum Schluss dieser kleinen Abhandlung zum Herzen, soll eine Geschichte von Rainer Maria Rilke stehen aus der Zeit seines Pariser Aufenthaltes. Sie zeigt, dass dort, wo wir einander etwas von Herzen und aus einer aufmerksamen Liebe heraus schenken, da schenken wir einander etwas, das mit dem ewigen Leben zu tun hat:

Gemeinsam mit einer jungen Französin kam er um die Mittagszeit an einem Platz vorbei, an dem eine Bettlerin saß, die um Geld anhielt. Ohne zu irgendeinem Geber je aufzusehen, ohne ein anderes Zeichen des Bittens oder Dankens zu äußern als nur immer die Hand auszustrecken, saß die Frau stets am gleichen Ort. Rilke gab nie etwas, seine Begleiterin gab häufig ein Geldstück. Eines Tages fragte die Französin verwundert nach dem Grund, warum er nichts gebe, und Rilke gab ihr zur Antwort: „Wir müssen ihrem Herzen schenken, nicht ihrer Hand.“ Wenige Tage später brachte Rilke eine eben aufgeblühte weiße Rose mit, legte sie in die offene, abgezehrte Hand der Bettlerin und wollte weitergehen.

Da geschah das Unerwartete: Die Bettlerin blickte auf, sah den Geber, erhob sich mühsam von der Erde, tastete nach der Hand des fremden Mannes, küsste sie und ging mit der Rose davon. Eine Woche lang war die Alte verschwunden, der Platz, an dem sie vorher gebettelt hatte, blieb leer. Vergeblich suchte die Begleiterin Rilkes eine Antwort darauf, wer wohl jetzt der Alten ein Almosen gebe. Nach acht Tagen saß plötzlich die Bettlerin wieder wie früher am gewohnten Platz. Sie war stumm wie damals, wiederum nur ihre Bedürftigkeit zeigend durch die ausgestreckte Hand. „Aber wovon hat sie denn all die Tage, da sie nichts erhielt, nur gelebt?“, frage die Französin. Rilke antwortete: „Von der Rose . . .“

Kontemplatives Bewusstsein

Kontemplatives Bewusstsein

Nicht selten besuchen Menschen auf ihren Urlaubsreisen Kirchen und Gotteshäuser, auch solche, die sich nicht besonders kirchlich oder konfessionell religiös verstehen. Wer das einmal beobachtet, sieht, dass sich etwas an ihnen verändert, es scheint als würden sie in einen Raum oder eine Aura der spontanen Kontemplation eintreten. Wer im Wörterbuch nachschaut, findet als Übersetzung für Kontemplation folgendes: eine Art Konzentration, ein tiefes Nachdenken, eine geistige Anschauung, ein Blick nach etwas, der anders ist als das normale Sehen. Es ist, als ob die Ausstrahlung eines Raumes die Menschen ergreifen würde; vielleicht nur wenige Momente oder Sekunden scheint etwas auf sie einzuwirken, was sie sonst aus ihrem Alltag nicht kennen. Eine stille Aufmerksamkeit und Nachdenklichkeit erfasst sie, wie sie die Skulptur von Rodin „der Denker“ womöglich zum Ausdruck bringt. Für Momente taucht der kontemplative Weg des Lebens in uns auf. Momente der spontanen spirituellen Erfahrung kennen wir auch aus anderen Zusammenhängen wie beim Anblick zweckfrei spielender Kinder, oder einer spontan in unserem Herzen auftauchenden Liebe.

Damit solche Momente mehr sind als rasch vergängliche Augenblicksaufnahmen, und eine deutliche Spur in unserer Seele hinterlassen, ist es wichtig, diese Wahrnehmungen zu gewichten und als Erinnerungsschatz zu bewahren, denn in ihnen taucht die dem Leben innewohnende Heiligkeit des Lebens auf. 

Gerade die Natur ist eine Arena, in der ein kontemplatives Bewusstsein spontan in uns erwachen kann. Ich erinnere mich noch sehr deutlich, obwohl es schon viele Jahre her ist, an eine Übernachtung im Freien in der Nähe des Sees Genezareth in Israel. Ich lag am Boden, schaute zum Sternenhimmel und spürte wie ein leichter warmer Wind, das hohe Gras sanft hin und her wiegte und war dabei ganz ergriffen und umgriffen von etwas, das sich weiterer Beschreibung entzieht. Oder im Gras liegen und die dahintreibenden Wolken beobachten, völlig entspannt und zweckfrei da sein; wenigstens für eine kurze Zeit aussteigen aus dem Druck und den Anforderungen des Alltags- und Berufslebens.

Wir können dem Geschenk oder der Gnade solcher Erfahrungen den Zugang bereiten, indem wir unsere Sinne trainieren: das Hören der Regentropfen, die auf das Dach fallen, die langsam herunterfallende Schneeflocke im Winter, das Schmecken des Duftes einer Blume oder das Berühren der Rundungen eines Steines.

Auch die menschliche Intimität, -weit mehr  als bloße Sexualität- , ist ein möglicher Ort für ein spontanes Erwachen der Kontemplation, die mich über mich und mein Ego hinausführt. Richard Rohr schreibt dazu: „Intimität könnte als unsere Fähigkeit zu Nähe und Zärtlichkeit gegenüber den Dingen beschrieben werden. Es wird oft in Momenten der riskanten Selbstoffenbarung enthüllt. Die Intimität lässt sich selbst heraus und lässt den anderen herein. Es macht alle Liebe möglich, und doch offenbart es auch unsere völlige Unfähigkeit, zurückzulieben, wie es der andere verdient. Keiner von uns kann dorthin gehen, ohne unsere Mauern fallen zu lassen, unser tieferes Selbst einem anderen gegenüber zu manifestieren und den Fluss geschehen zu lassen.“

Und sogar in der Einsamkeit, dort, wo ich wirklich allein bin, wohl auch irgendwann in der Situation des eigenen Sterbens, kann ich etwas entdecken von der Heiligkeit, die in unserer Existenz und Wirklichkeit verborgen liegt.

Auch die Kunstbetrachtung kann solch spontanes kontemplatives Bewusstsein erwecken, aber meist jenseits wichtigtuerischer Kunstführer, die meist nur bildungsbürgerliche Reflexe der Betrachter bedienen und den kontemplativen Weg über die Kunst eher versperren als eröffnen. (vgl. dazu ausführlicher: Pfr. Rainer Hepler, „Rituale verlassen und Gott in der Kunst suchen“, seit 1997 in der Kunstpastoral im Erzbistum München und Freising tätig; Medienseite (erzbistum-muenchen.de))

Auch im Gebet, im absichtslosen und zweckfreien Sitzen in Gottes Gegenwart, kann die tiefe Erfahrung auftauchen, von Gott umfassend geliebt zu werden mit all unseren Schwächen und Versagen, mit unserer Zerbrechlichkeit und Unvollkommenheit.

Aber auch die Leidenserfahrungen unseres Lebens, die Härten und Schwierigkeiten, denen wir im Leben begegnen, können zum Weg werden, der unsere Herzen öffnet, gerade wenn alles verloren und umsonst scheint. Leonhard Cohen drückt es in seinem Lied „Anthem“ so aus: „There is a crack, a crack in everything, that`s how the light gets in.“ (es ist ein Riss (Sprung) in allen Dingen, aber auf diese Weise, kann das Licht eindringen.  Vgl.  CD Cohen, The Future, Columbia 1992 Sony Music)

Risse, Acryl auf Leinwand

Und schließlich, darauf weist James Finley (früherer Schüler von Thomas Merton und heute Lehrer im Center for action and contemplation, dem ich wertvolle Anregungen für diesen Text verdanke) hin, dass im Heilungsprozess selbst eine kontemplative Begegnung mit der Tiefe unseres Selbst geschieht. Denn Heilung sei immer mehr als nur die Überwindung von Symptomen oder sonstiger Schwierigkeiten, echte Heilung beruhe auf einer Begegnung in der Tiefe, in der wir in Kontakt mit der Tiefe unseres Selbst gelangen, die uns bislang verborgen gewesen ist.

So wünsche ich Ihnen und mir gerade in der Urlaubszeit viele heilsame und erneuernde Erfahrungen, die uns in die Tiefe unserer Existenz führen oder zu dem, -wie es Goethe ausdrückt-, was die Welt im Innersten zusammenhält.

Pfingsten- Grenzen überwinden

Pfingsten- ein Geist, der Grenzen überwindet

Wer hat nicht noch die Fernsehbilder im Kopf, wo der russische Präsident Putin und die Staatschefs der westlichen Welt durch einen schier endlos langen weißen Tisch voneinander getrennt sich gegenübersitzen. Kein Funke der Verständigung scheint überzuspringen, es gibt kein wirkliches Aufeinander zu in den Gesprächen, die Kommunikation ist blockiert und die Positionen verhärtet.

Dieses Bild vom langen weißen Tisch des Unverständnisses ist ein eindrückliches Gegenbild zu dem, was das Pfingstfest zum Ausdruck bringen möchte. In der Apostelgeschichte erzählt der Evangelist Lukas von einem Sprachwunder (vgl. Apg. 2,1f.) Mit Hilfe von Gottes Geist geschieht das Wunder, dass wildfremde Menschen unterschiedlicher Völker und Nationen sich verstehen, gerade so, als würden die anderen in ihrer Muttersprache reden; „Muttersprache“– das ist die vertraute Sprache, die vom Herzen kommt und zu Herzen geht. Muttersprache ist die Sprache, die das Herz erwärmt und die uns an einen Anfang erinnert, in dem noch alles voller Verheißungen war.  Menschen, die von diesem guten Geist entflammt sind (daher das Bild mit den „Feuerzungen“) sprechen eine Sprache, die Trennendes an Religion, Kultur, Charakter oder politischen Positionen überwindet.  Der Funke springt über, Begeisterung flammt auf, so dass unterschiedlichste Menschen zusammenkommen. Der gute Geist lockt Menschen heraus aus ihren Verkapselungen und aus dem Gefängnis ihrer Vorurteile, löst Erstarrungen, lässt geschehen, was nicht machbar ist, sondern der Inspiration bedarf.  Die Sprachverwirrung Babels (Babel=Wirrsal; Genesis 11,9), wo keiner mehr den anderen versteht, wird von Gottes Geist durchdrungen und geklärt.

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Wie oft erleben wir solche Sprachverwirrung im zwischenmenschlichen Bereich: keiner hört mehr richtig zu, man will den anderen gar nicht verstehen, jede und jeder versucht seine eigenen Interessen durchzusetzen und dies in einer kalten und herrschsüchtigen Sprache.

Umgekehrt wirkt Gottes Geist dort, wo wir freundlich, zugewandt, warmherzig und interessiert miteinander reden, aufeinander hören und aufeinander zugehen. Ob Gottes heiliger und heilender Geist in unserem Leben da ist, lässt sich einfach daran erkennen, wie wir miteinander reden und aufeinander hören, ob wir freundlich oder gehässig miteinander umgehen, ob unsere Sprache verletzt oder achtsam auf unser Gegenüber eingeht.

Neben dem Bild des Feuers gehört zu Pfingsten auch das Bild des Windes in Gestalt eines Sturmes. Pfingsten -das ist modern gesagt-, auch das Fest der „frischen Luft“ (das lateinische Wort „spiritus“ meint sowohl Geist wie Atem, der uns begleitet vom Anfang bis zum Ende unseres Lebens), die unsere Lungenflügel durchströmt, damit wir weit werden und nicht ersticken in der Enge unserer Vorstellungen, Vorurteile und festgefahrenen Meinungen; wir brauchen diese frische Luft, damit sich der Horizont weitet und neue Lebenskraft in unsere Seele kommt. 

Wie sehr uns dieser belebende Geist oft genug fehlt, merken wir nicht nur in unseren zwischenmenschlichen Beziehungen, sondern auch in Politik, Gesellschaft und Kirche, wenn Menschen ausgeschlossen und nicht gehört werden, wenn sich Feindbilder in unserem Denken festsetzen und jede und jeder meint, das Recht und die Wahrheit auf seiner Seite zu haben.

Die Bitte um den heiligen Geist, den wir in unserer aktuellen Weltsituation so dringend brauchen, hat kaum einer dringlicher und schöner ausgedrückt als Stephan Langton, Erzbischof von Canterbury, die er um das Jahr 1200 in seiner Pfingstsequenz

„Veni sancte spiritus“ verfasste :

Komm herab, o Heil’ger Geist,
der die finstre Nacht zerreißt,
strahle Licht in diese Welt.

Komm, der alle Armen liebt,
komm, der gute Gaben gibt,
komm, der jedes Herz erhellt.

Höchster Tröster in der Zeit,
Gast, der Herz und Sinn erfreut,
köstlich Labsal in der Not,

In der Unrast schenkst du Ruh,
hauchst in Hitze Kühlung zu,
spendest Trost in Leid und Tod.

Komm, o du glückselig Licht,
fülle Herz und Angesicht,
dring bis auf der Seele Grund.

Ohne dein lebendig Wehn
kann im Menschen nichts bestehn,
kann nichts heil sein noch gesund.

Was befleckt ist, wasche rein,
Dürrem gieße Leben ein,
heile du, wo Krankheit quält.

Wärme du, was kalt und hart,
löse, was in sich erstarrt,
lenke, was den Weg verfehlt.

Gib dem Volk, das dir vertraut,
das auf deine Hilfe baut,
deine Gaben zum Geleit.

Lass es in der Zeit bestehn,
deines Heils Vollendung sehn
und der Freuden Ewigkeit. (Amen. Halleluja. )

(der vollständige Text unter: Komm, Heiliger Geist – Veni, Sancte Spiritus, Pfingstsequenz (rhoener-gebetsschatz.de) 

Menschenwürde und Respekt

Die Menschenwürde und ihr Schutz haben eine universale Bedeutung, die in vielen Verfassungen der Welt festgeschrieben ist. Auch im Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland wurde nach den Grauen des Nationalsozialismus (nach Holocaust und Euthanasieprogrammen…) im Artikel 1 festgelegt: „Die Würde des Menschen ist unantastbar“ und die Aufgabe und Verpflichtung des Staates besteht darin, sie unter allen Umständen zu schützen. Die Menschenwürde ist also der höchste Wert in unserer Verfassung, den es zu schützen und zu verteidigen gilt.

Von der Menschenwürde leiten sich die Menschenrechte ab, worunter zum Beispiel das Recht auf Leben, auf geistige und körperliche Unversehrtheit, Recht auf freie Entfaltung seiner Persönlichkeit und freie  Meinungsäußerung, Glaubens- und Bekenntnisfreiheit, gleiches Recht aller Menschen vor dem Gesetz, Recht auf Selbstbestimmung, Schutz vor Folter und vieler anderer Rechte fallen. (vgl. Grundgesetz mit Grundvertrag Menschenrechtskonvention….20.Aufl., München 1980) Wir sehen heute wie die Menschenwürde wieder angetastet wird durch Krieg, Mißbrauch, aber auch, dass der Schutz der Menschenwürde vor neuen Fragen und Herausforderungen steht wie bei der Embryonenforschung oder der Suizidbeihilfe.

Doch was ist die Menschenwürde überhaupt und wie lässt sie sich inhaltlich bestimmen?

Viele Philosophen haben sich darüber Gedanken gemacht. Sehr einflussreich wurden die Überlegungen von Immanuel Kant (1724-1804), ein Philosoph der Aufklärung.  Dieser sagte, dass die Menschenwürde, ein absoluter innerer Wert, der „über allen Preis erhaben ist“; das heißt, dass die Menschenwürde nicht verrechenbar ist gegen etwas anderes, sie ist unbezahlbar und nicht abhängig von irgendeinem Merkmal wie z.B. einer adeligen Herkunft oder weil ein Mensch ein bestimmtes Amt wie das eines Präsidenten bekleidet. Die Menschenwürde kommt jedem Menschen aufgrund seines Menschseins zu, sie muss nicht erworben werden, sie gilt ohne Ausnahme, bedingungslos und immer ganz (nicht bloß graduell). Jedoch geht für Kant mit der Menschenwürde eine moralische Verpflichtung einher, moralisch zu handeln. Doch bleibt die Menschenwürde auch erhalten, wenn wir nicht moralisch handeln und sittlich gut leben. Also auch ein schlechter oder krimineller Mensch hat diese Menschenwürde, da diese nicht verdient zu werden braucht und ohne Bedingung für jeden Menschen mit seiner Geburt gilt. (vgl. dazu: I. Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, hrsg. von Jens Timmerrmann, Sammlung Philosophie 3, Göttingen (Vandenhoeck § Ruprecht), 2004)

Aus der Menschenwürde leiten sich nicht nur die Menschenrechte ab, sondern auch die Menschenpflichten. Dazu gehört die Pflicht, die Menschenwürde anderer zu respektieren.

Nahezu alle Menschen wünschen sich, respektiert zu werden. Die Wortherkunft von Respekt deutet an, worum es bei diesem Wort geht. Das lateinische Wort für Respekt „respicere“ bedeutet, noch einmal hinschauen, sich umdrehen und genauer hinschauen statt sich auf seine Vorurteile zu verlassen. Viele Menschen gehen an obdachlosen oder behinderten Menschen achtlos vorbei, sie haben ihre Schubladen und eingefleischten Denkmuster, die des Mitleids „von oben herab“ zum Beispiel, oder gar der Verachtung. Doch wenn ich genauer hinschaue, sehe ich womöglich eine unglaubliche Lebensleistung dieser Menschen, die mit Tapferkeit, Mut und Geduld ein schweres Lebensschicksal tragen und ein Leben unter erschwerten Bedingungen führen, das mir womöglich allen Respekt abfordern könnte. Gerade Menschen mit einer Behinderung wollen nicht mitleidig angeschaut werden, sondern respektiert werden, auch in den vielfältigen Potentialen, die in ihnen stecken. So fordert der nach einem Gleitschirmunfall querschnittsgelähmte Philippe Pozzo di Borgo und sein Pfleger Abdel Sellou- deren Geschichte durch den Film „Ziemlich beste Freunde“ bekannt wurde – in einem Interview: „Wir, die kaputten Typen, wir wollen nicht euer Mitleid, sondern mit anderen Augen gesehen werden, mit einem Blick, der uns als ganzen Menschen wahrnimmt. Wir sehnen uns nach einem Lächeln, einem Austausch, der uns stärkt, weil er uns sagt, dass es uns gibt und dass wir wertvoll sind.“ (in: Pozzo di Borgo, Jean Vanier, Cherisey Laurent, „Ziemlich verletzlich, ziemlich stark“, Wege zu einer solidarischen Gesellschaft, München 2012, S.44).

Jemanden anderen Respekt erweisen, bedeutet seine Menschenwürde zum Leuchten zu bringen. Respektlosigkeit kann zwar niemand die Menschenwürde rauben, aber das Gespür und das Erleben für die eigene Menschenwürde verdunkeln.

Mauritius Wilde nennt drei Formen von Respektlosigkeit: die Achtlosigkeit, wenn ich zum Beispiel aus Nachlässigkeit vom Begrüßenden übergangen werde, ist die mildeste Form. Die Missachtung, in der zum Bespiel meine Kompetenz und mein Mitsprachewunsch bei einem wichtigen Thema für die Firma boshaft übergangen wird, ist schon eine stärkere Form der Respektlosigkeit. Und schließlich ist die Verachtung, die dem Gegenüber alles Gute abspricht und dessen Würde leugnet, die schlimmste Form der Respektlosigkeit. (vgl. Mauritius Wilde, Die Kunst der gegenseitigen Wertschätzung, Münsterschwarzach 2.Aufl. 2010, S.12-24)

Alle Formen der erlebten Respektlosigkeit können dazu führen, dass Menschen ihren Selbstrespekt verlieren, und dann zu Opfern oder in der aggressiven Variante zu Tätern werden.

Doch alle Menschen wünschen sich als Person mit einer unbedingten Würde respektiert zu werden. Der Philosoph Kant sagt, dass jeder Mensch nie nur als Mittel zum Zweck gesehen werden darf, sondern ein Zweck und Wert in sich selbst hat. Das bedeutet zum Beispiel, dass ich einen Handwerker nie nur als Mittel für eine Reparatur in meinem Haus sehen sollte, sondern auch als Mensch mit einer Lebensgeschichte und einer von seiner Fachkompetenz unabhängigen Menschenwürde. Diese hat auch die Verkäuferin, die meinen Einkauf an der Kasse einscannt, der Tankwart, der die Scheiben meines Autos säubert… Ein Mensch ist immer mehr als eine mir nützliche Funktion. Der Respekt vor der Würde der anderen Person verlangt nach einem tieferen Sehen. Dies hätte eine tiefgreifende Bedeutung in einer Zeit, in der Menschen oft nur unter der Perspektive gesehen werde: Was bringt mir der oder die Person? Welchen Nutzen habe ich von dieser Person? Der Glaube an die Menschenwürde könnte unser zwischenmenschliches Verhalten, den Blick und das Urteil wie wir einander sehen und anschauen, grundlegend verwandeln.

Religiös betrachtet hat der Mensch seine Würde von Gott, er ist ein „Abbild Gottes“ (Gen1,26), jeder Mensch ist ein Aspekt (lat. aspectus) Gottes und er erhält seine Würde von diesem Angeblicktwerden. Der Mensch hat die prinzipielle Freiheit, diesen Blick zu erwidern (respicere) und damit auch Gott den Respekt zu erweisen. (vgl. dazu Maurtius Wilde, a.a.O.)

Gustav Schädlich-Buter

Hoffnung durch Sinn

„Warum musste mir das passieren?“, fragen wir uns, wenn uns etwas Schlimmes oder Unerwartetes passiert: ein Unfall, der unseren Lebensradius einschränkt, vielleicht sogar dauerhaft, eine Krebserkrankung, die wie aus heiterem Himmel aufgetaucht ist, der Verlust eines lieben Menschen, ein Scheitern in unseren beruflichen Planungen, eine zwischenmenschliche Enttäuschung, ein ungerechter Vorwurf, Mobbing……„Warum musste mir das passieren?“ Oft bekommen wir zunächst keine Antwort auf diese Fragen; der Sinn dessen, was uns da widerfährt, bleibt verschlossen, und wir sitzen im Dunklen mit unserer Leid- und Krisenerfahrung.

Der Psychiater und Neurologe Viktor Frankl (1905-1997), Gründer der Logotherapie, kann uns da wichtige Hilfestellungen geben. Frankl hat selbst in der Zeit des Nationalsozialismus wegen seiner jüdischen Herkunft schlimmste Erfahrungen als KZ-Häftling gemacht; nach seiner Befreiung erfährt er, dass sowohl seine Ehefrau wie seine Eltern in Ausschwitz ermordet wurden. Er ist am Boden zerstört und sagt sich, wenn ich weiterleben will, muss es irgendwie einen verborgenen Sinn geben, dass ich überlebt habe. Das ist der biografische Hintergrund für die Entwicklung seiner Sinntherapie und Existenzanalyse.

Frankl stellt die Frage nach dem Sinn ins Zentrum menschlichen Erlebens. Und er sagt, dass es nicht entscheidend sei, welche Erwartungen wir an das Leben stellen, sondern welche Fragen das Leben uns stellt, auch angesichts von Erlebnissen, die wir uns weder gewünscht noch erwartet haben. Wir könnten daher, statt zu fragen „warum ist mir das passiert“, nach dem „wozu“ fragen. Wozu fordert mich die jetzige Situation heraus? Könnte womöglich, so ließe sich fragen, ein Sinn in diesem Schicksalsschlag liegen, auch wenn er sich im Moment noch nicht erschließt und es auch nicht auf alles eine Sinnantwort gibt. Frankl geht jedoch von einer prinzipiellen Freiheit des Menschen aus, welche es ermöglicht, frei zu den Situationen seines Lebens Stellung zu beziehen statt einfach einem blinden Schicksal ausgeliefert zu sein. Wenn sich die äußere Situation als unabänderlich erweist, bleibt die Möglichkeit, sich selbst zu ändern, seine Einstellungen. Als Seelsorger habe ich tatsächlich schon einige sehr überraschende Antworten von Menschen mit einer Behinderung auf das erhalten, was für sie selbst der Sinn ihrer Behinderung sei und wozu sie gerade durch ihre Behinderung herausgefordert wurden. Frankl spricht in diesem Zusammenhang von der „Trotzmacht des Geistes“. 

Er ermuntert aber alle, sich die Frage nach dem Sinn des Lebens nicht erst angesichts von Krisen und Schicksalsschlägen zu stellen, oder nach dem Verlust von Geld, Macht und Ansehen. Denn er definiert den Menschen als ein sinnsuchendes Wesen, der unglücklich und krank werden kann, wenn sein Leben keinen Sinn eröffnet. Gerade in unseren Wohlstandsgesellschaften, die keinen unmittelbaren Kampf ums physische Überleben mehr erfordern, nehmen diejenigen Depressionen von Menschen zu, die keinen tragenden Sinn mehr in ihrem Leben finden. Daher stellt sich immer wieder neu die Frage, was trägt mein Leben? Mein Eindruck ist, dass es heute immer mehr Menschen und Firmen nicht mehr nur darum geht, viel Geld zu sammeln, sondern dass sie nach einem tieferen Lebensinhalt und Lebenszweck Ausschau halten.

Sinnantworten ergeben sich jedoch nicht einfach, sondern verlangen einen Aufbruch aus dem Vorgegebenen, manchmal auch ein Sprengen der gewohnten und bequemen Blase,  eine äußere und/oder innere Reise. Darauf deutet schon die Sprachwurzel von Sinn, die „reisen“, auf etwas sinnen und den Sinn von etwas erfragen bedeutet (vom indogermanischen `sentno`, was soviel bedeutet, wie eine Richtung nehmen, gehen, empfinden und wahrnehmen). Wer bei dieser Reise, die jede und jeder für sich selbst unternehmen muss, eine stimmige Richtung einschlägt und eine stimmige Antwort findet, bekommt Zuversicht und Hoffnung für sein Leben. Auch wenn das, was Menschen als sinnhaft erleben, sehr unterschiedlich sein mag, braucht es nach Frankl für das Erleben von Sinn das Element der Selbsttranszendenz.  Damit ist die die Hingabe an eine Aufgabe oder Person gemeint.

Sinn wird er-„fahren“, leuchtet auf wie die Strahlen der Sonne, manchmal auch in den Wunden, im Schmerz und der Dunkelheit des Lebens. Sinn kann ich mir letztlich nur schenken lassen, immer wieder neu, Sinnerlebnisse berühren mich in der Tiefe und locken mich über mich hinaus. Sinnerleben hat daher auch viel mit unseren Sinnen zu tun. Sinn ist nicht unabhängig von meiner Lebensgeschichte, nicht unabhängig von meiner Individualität, sondern zutiefst damit verwoben. Sinn ist dort, wo ich mit der tieferen Wirklichkeit meiner selbst übereinstimme. Sinn eint das menschliche Herz, „Sinn ist das, worin unser Herz zur Ruhe kommt.“ (vgl. Augustinus)

Viktor Frankl fand den Sinn seines Lebens darin, anderen zu helfen, den Sinn ihres Lebens zu finden.

Literatur zur Vertiefung:

Viktor Frankl, Trotzdem Ja zum Leben sagen, Ein Psychologe erlebt das Konzentrationslager, erschienen im Köselverlag, München

Viktor Frankl, Über den Sinn des Lebens, Beltzverlag, Weinheim 2021

Viktor E. Frankl, Wer ein Warum zu leben hat , Lebenssinn und Resilienz, Beltzverlag, Weinheim 2017

Gustav Schädlich-Buter

Hoffnung

Die jüdische Dichterin Rose Ausländer hat mehrere Gedichte zum Themenkreis Hoffnung geschrieben, die von ihrer eigenen existentiellen Erfahrung geprägt sind. Eines davon trägt den Titel Hoffnung II. Es lautet: „Wer hofft/ ist jung// Wer könnte atmen/ ohne Hoffnung/dass auch in Zukunft/ Rosen sich öffnen// ein Liebeswort/ die Angst überlebt.“(vgl. Rose Auländer, Im Atemhaus wohnen, Gedichte,Frankfurt am Main 1981, S.43)
Wer könnte atmen ohne Hoffnung? frägt das Gedicht mit Recht. Auch ein lateinisches Sprichwort weist auf den Zusammenhang von Atem und Hoffnung: „Dum spiro, spero“- „Solange ich atme, hoffe ich“; dabei unterscheiden sich die beiden lateinischen Verben nur durch einen Vokal. Die Hoffnung gehört zu den Lebensgrundlagen unseres Menschseins wie der Atem. Hoffnung ist eine Kraft in uns, die sich stärker erweisen kann als Angst, Verzweiflung und Müdigkeit, eine Kraft, die uns Schmerzen, Hunger, Kälte und ausweglose Situation durchstehen lässt, die uns beflügelt und antreibt und den nächsten not-wendenden Schritt tun lässt. Wer hofft, ist auf Zukunft ausgerichtet und nicht mehr ausschließlich verhaftet in belastender Vergangenheit oder auswegloser Gegenwart mit ihren unveränderlichen Fakten. Wer hofft, setzt auf das je Bessere, glaubt daran, dass das Bessere möglich ist, glaubt an Weiterentwicklung, an das Rettende und Wandlung.

Hoffnung bildet den emotionalen Untergrund, aus dem heraus wir leben und handeln können, gerade angesichts der Erfahrung von Scheitern, Brüchigkeit, Krankheit und Tod. Fast jede® kommt im Laufe seines Lebens in Situationen, wo er nur noch müde, verzweifelt und resigniert ist, wo er nicht mehr weiter kann und will. Und plötzlich kann sich in der Mitte der Verzweiflung und Resignation, auf dem Tiefpunkt der Krise ein wundersamer Umschlag ergeben; plötzlich taucht eine Kraft auf, die neuen Mut, Gewissheit und Zuversicht gibt.

Manchmal stellt sich Hoffnung gerade dort ein, wo ich aufhöre verzweifelt gegen etwas anzukämpfen, wo ich in mein Leben, mein Geworden-sein, meine Krankheit annehme; wo ich offen werde für das Leben, für den Tod und in die Möglichkeit meines Sterbens einwillige. Hoffnung in einem schweren Krankheitsprozess bedeutet nicht immer, dass die Krankheit endgültig geheilt wird und ich gesund aus dem Krankenhaus gehe. Hoffnung in meinem Krank-sein bedeutet manchmal eher, dass ich besser mit der Krankheit umgehen kann, dass ich eine Zeit lang ohne Schmerzen sein kann, dass ich mehr bin als mein geschundener, kranker Körper, dass ich noch eine Zeit geschenkt bekommen habe für mich und die Menschen, die ich gern habe; dass ich sehe, was sich durch die Krankheit Neues in mir anbahnt. Die Kraft zu hoffen muss auch geübt werden und kann gelernt werden , sie verlangt die Disziplin auf eine Zukunft zu setzen auch wenn im Moment vieles dagegen steht. (vgl dazu auch: M. Renz, Grenzerfahrung Gott: Spirituelle Erfahrungen in Leid und Krankheit, Freiburg 2006 und L.Kuschnik, Lebensmut in schwerer Krankheit: spirituelle Begleitung bei Krebs, Bielefeld 2010)

Hoffnung hat auch damit zu tun, dass ich eine Ahnung bekomme, dass -was auch immer passiert- mein Leben aufgehoben ist und mir letztlich nichts passieren kann. Insofern steht das „Hoffen-können“ auch mit dem Ur-vertrauen ins Leben in Verbindung.

Hoffnung bekomme ich auch durch andere Menschen: deren Wertschätzung, ein liebenswürdigen Blick, ein gutes Wort, Verläßlichkeit und treue Zuwendung in einer schwierigen Situation, lässt die Kraft der Hoffnung wachsen. Wir alle brauchen eine „Solidarität in der Hoffnung“ (J.B. Metz). Die Hoffnung eines einzelnen trägt meist nicht über den Abgrund von Verzweiflung und Schicksalsschlägen. Wir brauchen einander in solidarischer Hoffnung.

Der hoffende Mensche ist offen für Überraschungen, offen für das Unvorstellbare und in Bewegung setzende (Hoffnung im Unterschied zur konkreten Hoffnungen). Die Überraschung verbindet die Hoffnung mit der Dankbarkeit.(vgl Steindl-Rast, Fülle und Nichts, Freiburg 1999) Der Philosoph Gabriel Marcel versteht Hoffnung als Gnade.(Gabriel Marcel, Philosophie der Hoffnung, Die Überwindung des Nihilismus, München1964)

Hoffnung taucht auch auf, wo wir aus Fremdbestimmung und Anpassung wieder in Kontakt mit unserer ur-eigenen und unverwechselbaren Lebensmelodie kommen, mit dem Bild Gottes in unserer Seele. Die Hoffnung und die Kraft innerer Entfaltung hängen zusammen. Hoffnung ist die Grundlage für Inspiration, Kreativität und Freude. (vgl. V.Kast, Aufbrechen und Vertrauen finden, die kreative Kraft der Hoffnung, Freiburg 2001). Während die Verzweiflung uns in die Isolation treibt („Mir kann ja eh niemand helfen“), stellt uns die Kraft der Hoffnung in vielfältiges Verbundensein hinein.

„Hoffen lernt man dadurch, dass man handelt als sei Rettung möglich“, schreibt Fulbert
Steffensky, auch wenn es im Leben keine Garantie gibt, dass alles gut ausgeht; aber es
gehört zur Würde des Menschen, in Krisen so zu handeln, als gäbe es den guten Ausgang
und die Rettung. Nicht der Erfolg rechtfertigt das Tun eines Menschen, sondern ob es Sinn
ergibt ohne Rücksicht wie es ausgeht. (vgl. Fulbert Steffensky, Feier des Lebens. Spiritualität
im Alltag, Freiburg 2009). „Auf Hoffnung hin, sind wir gerettet“ (Röm 8,24), heißt es in der Bibel.