Menschenwürde und Respekt

Die Menschenwürde und ihr Schutz haben eine universale Bedeutung, die in vielen Verfassungen der Welt festgeschrieben ist. Auch im Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland wurde nach den Grauen des Nationalsozialismus (nach Holocaust und Euthanasieprogrammen…) im Artikel 1 festgelegt: „Die Würde des Menschen ist unantastbar“ und die Aufgabe und Verpflichtung des Staates besteht darin, sie unter allen Umständen zu schützen. Die Menschenwürde ist also der höchste Wert in unserer Verfassung, den es zu schützen und zu verteidigen gilt.

Von der Menschenwürde leiten sich die Menschenrechte ab, worunter zum Beispiel das Recht auf Leben, auf geistige und körperliche Unversehrtheit, Recht auf freie Entfaltung seiner Persönlichkeit und freie  Meinungsäußerung, Glaubens- und Bekenntnisfreiheit, gleiches Recht aller Menschen vor dem Gesetz, Recht auf Selbstbestimmung, Schutz vor Folter und vieler anderer Rechte fallen. (vgl. Grundgesetz mit Grundvertrag Menschenrechtskonvention….20.Aufl., München 1980) Wir sehen heute wie die Menschenwürde wieder angetastet wird durch Krieg, Mißbrauch, aber auch, dass der Schutz der Menschenwürde vor neuen Fragen und Herausforderungen steht wie bei der Embryonenforschung oder der Suizidbeihilfe.

Doch was ist die Menschenwürde überhaupt und wie lässt sie sich inhaltlich bestimmen?

Viele Philosophen haben sich darüber Gedanken gemacht. Sehr einflussreich wurden die Überlegungen von Immanuel Kant (1724-1804), ein Philosoph der Aufklärung.  Dieser sagte, dass die Menschenwürde, ein absoluter innerer Wert, der „über allen Preis erhaben ist“; das heißt, dass die Menschenwürde nicht verrechenbar ist gegen etwas anderes, sie ist unbezahlbar und nicht abhängig von irgendeinem Merkmal wie z.B. einer adeligen Herkunft oder weil ein Mensch ein bestimmtes Amt wie das eines Präsidenten bekleidet. Die Menschenwürde kommt jedem Menschen aufgrund seines Menschseins zu, sie muss nicht erworben werden, sie gilt ohne Ausnahme, bedingungslos und immer ganz (nicht bloß graduell). Jedoch geht für Kant mit der Menschenwürde eine moralische Verpflichtung einher, moralisch zu handeln. Doch bleibt die Menschenwürde auch erhalten, wenn wir nicht moralisch handeln und sittlich gut leben. Also auch ein schlechter oder krimineller Mensch hat diese Menschenwürde, da diese nicht verdient zu werden braucht und ohne Bedingung für jeden Menschen mit seiner Geburt gilt. (vgl. dazu: I. Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, hrsg. von Jens Timmerrmann, Sammlung Philosophie 3, Göttingen (Vandenhoeck § Ruprecht), 2004)

Aus der Menschenwürde leiten sich nicht nur die Menschenrechte ab, sondern auch die Menschenpflichten. Dazu gehört die Pflicht, die Menschenwürde anderer zu respektieren.

Nahezu alle Menschen wünschen sich, respektiert zu werden. Die Wortherkunft von Respekt deutet an, worum es bei diesem Wort geht. Das lateinische Wort für Respekt „respicere“ bedeutet, noch einmal hinschauen, sich umdrehen und genauer hinschauen statt sich auf seine Vorurteile zu verlassen. Viele Menschen gehen an obdachlosen oder behinderten Menschen achtlos vorbei, sie haben ihre Schubladen und eingefleischten Denkmuster, die des Mitleids „von oben herab“ zum Beispiel, oder gar der Verachtung. Doch wenn ich genauer hinschaue, sehe ich womöglich eine unglaubliche Lebensleistung dieser Menschen, die mit Tapferkeit, Mut und Geduld ein schweres Lebensschicksal tragen und ein Leben unter erschwerten Bedingungen führen, das mir womöglich allen Respekt abfordern könnte. Gerade Menschen mit einer Behinderung wollen nicht mitleidig angeschaut werden, sondern respektiert werden, auch in den vielfältigen Potentialen, die in ihnen stecken. So fordert der nach einem Gleitschirmunfall querschnittsgelähmte Philippe Pozzo di Borgo und sein Pfleger Abdel Sellou- deren Geschichte durch den Film „Ziemlich beste Freunde“ bekannt wurde – in einem Interview: „Wir, die kaputten Typen, wir wollen nicht euer Mitleid, sondern mit anderen Augen gesehen werden, mit einem Blick, der uns als ganzen Menschen wahrnimmt. Wir sehnen uns nach einem Lächeln, einem Austausch, der uns stärkt, weil er uns sagt, dass es uns gibt und dass wir wertvoll sind.“ (in: Pozzo di Borgo, Jean Vanier, Cherisey Laurent, „Ziemlich verletzlich, ziemlich stark“, Wege zu einer solidarischen Gesellschaft, München 2012, S.44).

Jemanden anderen Respekt erweisen, bedeutet seine Menschenwürde zum Leuchten zu bringen. Respektlosigkeit kann zwar niemand die Menschenwürde rauben, aber das Gespür und das Erleben für die eigene Menschenwürde verdunkeln.

Mauritius Wilde nennt drei Formen von Respektlosigkeit: die Achtlosigkeit, wenn ich zum Beispiel aus Nachlässigkeit vom Begrüßenden übergangen werde, ist die mildeste Form. Die Missachtung, in der zum Bespiel meine Kompetenz und mein Mitsprachewunsch bei einem wichtigen Thema für die Firma boshaft übergangen wird, ist schon eine stärkere Form der Respektlosigkeit. Und schließlich ist die Verachtung, die dem Gegenüber alles Gute abspricht und dessen Würde leugnet, die schlimmste Form der Respektlosigkeit. (vgl. Mauritius Wilde, Die Kunst der gegenseitigen Wertschätzung, Münsterschwarzach 2.Aufl. 2010, S.12-24)

Alle Formen der erlebten Respektlosigkeit können dazu führen, dass Menschen ihren Selbstrespekt verlieren, und dann zu Opfern oder in der aggressiven Variante zu Tätern werden.

Doch alle Menschen wünschen sich als Person mit einer unbedingten Würde respektiert zu werden. Der Philosoph Kant sagt, dass jeder Mensch nie nur als Mittel zum Zweck gesehen werden darf, sondern ein Zweck und Wert in sich selbst hat. Das bedeutet zum Beispiel, dass ich einen Handwerker nie nur als Mittel für eine Reparatur in meinem Haus sehen sollte, sondern auch als Mensch mit einer Lebensgeschichte und einer von seiner Fachkompetenz unabhängigen Menschenwürde. Diese hat auch die Verkäuferin, die meinen Einkauf an der Kasse einscannt, der Tankwart, der die Scheiben meines Autos säubert… Ein Mensch ist immer mehr als eine mir nützliche Funktion. Der Respekt vor der Würde der anderen Person verlangt nach einem tieferen Sehen. Dies hätte eine tiefgreifende Bedeutung in einer Zeit, in der Menschen oft nur unter der Perspektive gesehen werde: Was bringt mir der oder die Person? Welchen Nutzen habe ich von dieser Person? Der Glaube an die Menschenwürde könnte unser zwischenmenschliches Verhalten, den Blick und das Urteil wie wir einander sehen und anschauen, grundlegend verwandeln.

Religiös betrachtet hat der Mensch seine Würde von Gott, er ist ein „Abbild Gottes“ (Gen1,26), jeder Mensch ist ein Aspekt (lat. aspectus) Gottes und er erhält seine Würde von diesem Angeblicktwerden. Der Mensch hat die prinzipielle Freiheit, diesen Blick zu erwidern (respicere) und damit auch Gott den Respekt zu erweisen. (vgl. dazu Maurtius Wilde, a.a.O.)

Gustav Schädlich-Buter