Verbundenheit und Mitgefühl

Mit Corona hat niemand gerechnet, alles schien aufwärts zu gehen, zumindest in unseren Breiten, -ein stetig steigender Wohlstand, komplexere Technologien, ein Konsumniveau auf hohem Niveau.. -, Corona hat uns,- völlig unerwartet-, einen Strich durch die Rechnung gemacht, hat Menschenleben gefordert, die Wirtschaft einbrechen lassen; die ärmeren Länder und die ohne regulierenden Staat und funktionierendes Gesundheitssystem wurden teils noch härter getroffen.  Nahezu kein Land blieb von dieser Pandemie völlig verschont, die wie eine biblische Plage daherkam und unseren berechnenden und kontrollierenden Geist teils überforderte und vor große Herausforderungen stellte.

Menschen, die sowieso schon am Rande der Gesellschaft lebten, fühlten sich noch einsamer, noch isolierter und abgeschnittener vom pulsierenden Leben. Ohnmacht, Hilflosigkeit und Angst erfasste auch jene, die sich sonst mit Zerstreuungen, -die auf einen Schlag (von heute auf morgen) nicht mehr möglich waren-, über die eigene Sinnleere hinwegtäuschten.

Auch wenn eine gewisse Einsamkeit zum Menschsein gehört und diese sich in unserer individualisierten Gesellschaft verstärkt hat, wurde in der Coronakrise besonders spürbar, wie sehr wir aufeinander angewiesen sind und welch hoher Wert es ist, miteinander verbunden zu sein. Corona hat neben der egozentrischen Gier bei Hamsterkäufen etc., auch wunderbare Erfahrungen gemeinschaftlichen Lebens aktiviert und unser existentielles Aufeinander- Angewiesenseins weltweit ins Bewusstsein gerückt.

Was bedeutet „Verbundenheit“?

„Verbundenheit“ bedeutet, dass alles Leben mit anderem Leben zusammenhängt oder wie es der Arzt und christliche Theologe Albert Schweitzer (1875-1965), der 1954 den Friedensnobelpreis erhielt, formuliert hat: „Ich bin Leben, das leben will, inmitten von Leben, das leben will.“ In der „Ehrfurcht vor dem Leben“ aus der Erkenntnis einer umfassenden   Verbundenheit mit allem Leben, ja mit dem Sein im Ganzen, dessen Teil der Mensch ist, entdeckte Albert Schweitzer ein Fundament für eine Ethik für alle Kreatur, die alle weltanschaulich-religiösen und kulturellen Unterschiede überbrückt. „Erlebt der Mensch seine Verbundenheit mit allen Wesen, so entspringt daraus die Nötigung zu einem ins Uferlose gehenden Dienen.“ (vgl. DASZ_AS-wissenswert_2017 (albert-schweitzer-heute.de)) Der buddhistische Mönch Thich Nhat Hanh, der sich für einen engagierten Buddhismus einsetzt, benennt diese grundsätzliche Verbundenheit mit „Interbeing“. Diese Verbundenheit bezieht auch die Verbundenheit mit dem Leid anderer Menschen mit ein. Der Zenmeister Bernie Glasman, wurde durch ein tiefgreifendes Erlebnis dieser umfassenden Verbundenheit auch im Leiden und in der Bedürftigkeit, aus der Meditationshalle zur Begegnung und Arbeit mit Menschen am Rande der Gesellschaft und in den Elendsvierteln der Großstädte geführt. „Der rote Faden für mein anhaltendes Engagement ist die Erkenntnis von Leiden und meine Entscheidung etwas dagegen zu tun…Jeder Mensch ist dazu in der Lage, die Stimmen der hungrigen Geister des Universums zu hören. Viele Menschen werden durch ihre Konditionierungen daran gehindert, sie fühlen sich getrennt von anderen und von den Stimmen des Universums…Die Erfahrung der Einheit ist die Wurzel für eine Revolution der Liebe. Liebe zeigt sich im Mitgefühl. Für mich ist Agape Liebe ohne Ego, eine nicht dualistische Form der Liebe.“ (Konstantin Wecker, Bernie Glasman, Es geht ums Tun und nicht ums Siegen, S. 138f.)  Für den großen Arzt Albert Schweitzer muss sich Christsein in tätiger Nächstenliebe bewähren. Und der Theologe Johann Baptist Metz spricht von einer Mystik der offenen Augen.  „Die Mystik des Christentums sei eine ´Mystik der Mitleidenschaft, die sich vom Leid des Anderen anrühren lässt und handelt. „Das Christentum ist kein blinder Seelenzauber“, fasste er 1997 seine Erkenntnis zusammen: „Es lehrt nicht eine Mystik der geschlossenen, sondern eine Mystik der offenen Augen. Im Entdecken, im Sehen von Menschen, die im alltäglichen Gesichtskreis unsichtbar bleiben, beginnt die Sichtbarkeit Gottes, öffnet sich seine Spur.“(vgl. dazu: Nachruf von Matthias Dobrinski, https://www.sueddeutsche.de/kultur/nachruf-auf-den-theologen-johann-baptist-metz-der-mitleidende-1.4707855)

Die Erfahrung tiefer Verbundenheit, welche das Gegenteil von Trennung und Fragmentierung ist, kann heilsam sein, ja heilen und motivieren. Familien und Firmen brauchen Rituale, welche diese Verbundenheit fördern, ans Tageslicht befördern, und sie vermitteln.  Nicht selten erlebe ich auch in den Trauerfeiern hier in der Pfennigparade eine tiefe Verbundenheit der Anwesenden untereinander, aber auch mit dem Verstorbenen. Verbundensein mit dem, was über uns als Person hinausreicht, kann man auch als Seele bezeichnen. Die Verbundenheit mit sich selbst, mit seinen Gefühlen und Gedanken, auch mit seinen Krankheiten und Schwächen und nicht zuletzt mit der Mitwelt, können uns aus Isolation und Vereinsamung befreien.

Spirituelle Meister sind sich einig, dass ein kontemplatives Leben, ein Leben der Verbundenheit ist. „Kontemplation heißt Verbundenheit und aus der Verbundenheit heraus Ja zu sagen zu allem und zu allen Menschen….Aus dieser kontemplativen Erfahrung der Verbundenheit heraus wird unsere Arbeit eine andere  Qualität bekommen, wenn wir anerkennen, dass wir nicht allein sind, sondern angewiesen aufeinander.“ (Anselm Grün, in: Anselm Grün, David Steindl-Rast, im Gespräch mit Johannes Kaup, Das Glauben wir, Spiritualität für unsere Zeit, Münsterschwarzach 2015, S.111). Gegen den Trend einer egozentrischen Selbstverwirklichung gilt es heute wieder neu den Wert von tiefen, lebensfördernden und zweckfreien Beziehungen zu entdecken. Gemeinsam stehen wir vor den Herausforderungen einer Zukunft, die von uns Entschiedenheit, Tapferkeit und Mut verlangt, geleitet von einem Geist der Verbundenheit.

Die Schriftstellerin Carolin Emcke hat vor einiger Zeit auf einen Begriff, der aus dem Hawaianischen stammt, aufmerksam gemacht: „Kipuka“. Kipuka bezeichnet einen Flecken oder Streifen Land, der nach einem Vulkanausbruch von der herunterströmenden Lava verschont geblieben ist. Etwas in der Zerstörung, das unversehrt und heil geblieben ist und von dem aus sich nach der Katastrophe neues leben ausbreiten kann; ein unbedeutendes Stück Land, dass lebensspendend wird. Und sie verweist mit dem Begriff auf das, was für uns in finsteren Zeiten, manchmal erst in der Rückschau, lebensrettend sich erwiesen hat. Ihr Fazit lautet: „Wovon alle berichten, die antiken Mythen, die religiösen Erzählungen, die Zeugnisse von Überlebenden, was allen das Existentiellste war: die Freundschaft, die Hinwendung zu einer anderen Person oder einer Gemeinschaft. Sich um andere zu sorgen, sich für andere zu verausgaben, sich mit anderen zu verbinden, von anderen zu lernen, alles einzusetzen, was man hat, und es zu teilen- das ist das, was ein Flecken Kipuka schafft, eine Zone, die unversehrt bleibt und die am Ende, nach der Katastrophe, heraussticht.“(https://carolin-emcke.de/category/publikationen/kolumne/)

Gustav Schädlich-Buter

Litanei der Loslösung

der bekannte Franziskaner Richard Rohr schreibt über das Herzsutra in seinem Newsletter: Das Herzsutra (manchmal auch das Herz der Vollkommenheit der Weisheit genannt ) wird von vielen als die prägnanteste und tiefgreifendste Zusammenfassung der buddhistischen Lehre angesehen …Es endet mit einem Mantra… Es ist Erleuchtung selbst und Hoffnung selbst in verbaler Form. Es ist die ultimative Befreiung in die Realität.

Hier ist die Sanskrit-Transliteration des Refrains:

Tor Tor pāragate pārasamgate bodhi svāhā!

So wird es ausgesprochen:

Ga-tay, ga-tay, para ga-tay, parasam ga-tay boh-dee svah-ha!

Hier ist die Bedeutung: Vorbei, weg, den ganzen Weg gegangen, die gesamte Gemeinschaft der Wesen ist zum anderen Ufer gegangen, Erleuchtung – so sei es! [2]“ soweit Richard Rohr)

Es geht in diesem Mantra im Grunde um eine freudvolle Botschaft, vergleichbar dem Halleluja der Christen. Es geht um die Befreiung von all unseren Anhaftungen, Verlusten, Niederlagen, Traumatas und unserem Eigensinn. Die vergängliche Natur von allem wird anerkannt und die Kunst der Loslösung von aller Anhaftung bereits in verbaler Form gefeiert. Während kapitalistische Gesellschaften das Besitzen, Anhäufen und Festhalten lehren, den persönlichen Vorteil und den Eigenwillen stärken, lehrt das Herzsutra, einen Exodus aus den falschen und vorübergehenden Anhänglichkeiten in die wahre Freiheit, in welcher das falsche und relative Selbst losgelassen wird. Wir können an die Armut der leeren Hände denken, die nichts mehr festhalten können, die alles losgelassen haben und gerade darin die Hoffnung spüren, dass diese Leere von woandersher wieder gefüllt werden kann. Thomas Merton, der Trappistenmönch schreibt dazu: „Wir hoffen nicht auf das, was wir haben. In Hoffnung zu leben bedeutet daher, in Armut zu leben und nichts zu haben. . . . Hoffnung ist proportional zur Distanzierung.

Richard Rohr schlägt vor eine persönliche Litanei der Loslösung zu schreiben, die ich im folgenden Text versucht habe:

Persönliche Litanei:

Alle Sorgen, Nöte, Druck- Vorbei, weg, ganz weg!

Alles Grübeln, alle Gedanken, alle Zweifel- Vorbei, weg, ganz weg!

Alle Machspiele und Machtkämpfe, alle Rechthaberei- Vorbei, weg, ganz weg!

Alle Macht und Ohnmacht- Vorbei, weg, ganz weg!

Alle Schmerzen, Trauer und Verluste- Vorbei, weg, ganz weg!

Alle Begeisterung und alle Enttäuschung- Vorbei, weg, ganz weg!

Alle Unterwerfung, alle Unterdrückung- Vorbei, weg, ganz weg!

Alle Arroganz und Überheblichkeit- Vorbei, weg, ganz weg!

Alle Selbstsicherheit, alle Unsicherheit- Vorbei, weg, ganz weg!

Alle Strategie und Berechnung- Vorbei, weg, ganz weg!

Alle Urteile und Vorurteile- Vorbei, weg, ganz weg!

Alle Selbstbilder und Bilder von anderen- Vorbei, weg, ganz weg!

Alle Krankheit, Not und Behinderung- Vorbei, weg, ganz weg!

Alle Sorgen, Ängste Absicherungen- Vorbei, weg, ganz weg!

Alle Sorgen um Kinder und Beruf­- Vorbei, weg, ganz weg!

Alles Antreiben und Kontrollieren- Vorbei, weg, ganz weg!

Alle Jahrhunderte vor und nach mir- Vorbei, weg, ganz weg!

Aller Krieg und alle Schlachten vor mir, nach mir, in mir- Vorbei, weg, ganz weg!

Alle Ungerechtigkeit und Ausbeutung- Vorbei, weg, ganz weg!

Aller Rassismus und Nationalismus- Vorbei, weg, ganz weg!

Alles Böse, Zerstörerische, Negative- Vorbei, weg, ganz weg!

Alle guten Taten, auf die ich stolz war- Vorbei, weg, ganz weg!

Alle Neurosen und Traumatas- Vorbei, weg, ganz weg!

Alle Enge, Mutlosigkeit und Lebensverweigerung- Vorbei, weg, ganz weg!

Alle Anbiederung und Anhänglichkeit- Vorbei, weg, ganz weg!

Alle Wünsche und Illusionen- Vorbei, weg, ganz weg!

Alle Gottesbilder, die schönen und erschreckenden- Vorbei, weg, ganz weg!

Alles Streben, alle Gier und Hitzigkeit- Vorbei, weg, ganz weg!

Alle Sucht und alles Getriebensein- Vorbei, weg, ganz weg!

Alle Verluste, Niederlagen und Scheitern- Vorbei, weg, ganz weg!

Alle Siege, Erfolge und Gewinne- Vorbei, weg, ganz weg!

Alle Irrlichter und Nebel- Vorbei, weg, ganz weg!

Alle bellenden Hunde- Vorbei, weg, ganz weg!

Aller Entscheidungsdruck- Vorbei, weg, ganz weg!

Alle Idole und Vorbilder- Vorbei, weg, ganz weg!

Alle Vergleiche- Vorbei, weg, ganz weg!

Alle Erwartungen- Vorbei, weg, ganz weg!

Alle „Götter“- Vorbei, weg, ganz weg!

Traumsucher

Er wußte nicht, was ihn dazu antrieb, aber er stieg hinunter in den dunklen Raum, dessen Tür sich plötzlich vor ihm auftat; viele Treppen hinunter in ein dunkles Reich, das von keinem Lebewesen bewohnt schien. Auf dem Boden lagen die Scherben eines zerbrochenen bunten Glasfensters.

Etwas in ihm drängte ihn dazu, die bunten, überall zerstreuten Scherben in einer Tasche, die er immer bei sich trug, aufzusammeln. Nur sehr wenig Licht strömte durch das zerbrochene Fenster noch herein, aber zumindest war der Raum nicht ganz dunkel, so dass ein Gang sichtbar wurde, der zu weiteren scheinbar unbewohnten Räume führte. Vorsichtig öffnete der Mann eine halb offenstehende Tür und gerade als er einen Schritt hineinwagen wollte, stieß er an einen lebendigen Körper. Erschrocken zuckte er zusammen, als ein leises Wimmern und Klagen einer ängstlichen Stimme an sein Ohr drang. Kaum sichtbar durch das wenige Licht, erkannte er aber, da seine Augen sich inzwischen an die Dunkelheit gewöhnt hatten, die Gestalt einer Frau, die an einer Säule lehnte. Ihre Haare waren wirr verstrubbelt, aber alles an ihr schien durcheinander; ihr Kleid war zerrissen und sie hatte keine Schuhe an den Füßen. „Wer bist du“, fragte der Mann , und: „Wie kommst du hier her?“ „Was ist das überhaupt für ein Kellerraum, in dem wir sind?“. Die Frau schaute ihn mit aufgerissenen Augen an und sagte lange kein Wort. Dann, als müsste sie erst wieder die verloren gegangenen Worte ihrer Sprache zusammensetzen, öffnete sie den Mund und würgte einige unverständliche Laute hervor, die wie „kraks“ oder „crux“ klangen. Der Mann nahm sie -ohne weiter mit Fragen zu bedrängen- beim Arm und half ihr auf, sie konnte kaum laufen, war sehr geschwächt, konnte sich kaum aufrechthalten, aber mit seiner Hilfe schaffte sie es bis zum Hauptraum, wo durch das zerschlagene Fenster gedämpftes Licht hereinfiel. Der Mann zog seine Jacke aus, legte sie auf den Boden und half der Frau, sich darauf nieder zu lassen. Die Frau legte sich darauf und schlief nach kurzer Zeit ein. Der Mann saß bei ihr und von Müdigkeit übermannt, schlief auch er ein. Im Traum sah er die Frau erneut; sie stand ihm jetzt gegenüber, sie hatte ihre Sprache wieder gefunden und redete klar und deutlich folgenden Satz an den Mann gerichtet: „Wir sind hier im Reich der verlorenen Träume. Aber was suchst Du hier?  Warum bist du denn  hier her gekommen?“

Der Mann schaute mit seinem Gesicht etwas unwissend und verloren zur Erde und gerade als er ihr sagen wollte „Ich weiß es nicht“, sagte er: „Jetzt fällt es mir ein, warum ich hier bin. Jemand, den ich nicht kenne, hat mich beauftragt, deine Träume zu suchen.“

Daraufhin erstarrte die Frau und sie stieß ihre Antwort bitter und trotzig aus ihrem halbverschlossenen Mund heraus: “Ich hatte nie Träume!“ Der Mann schaute sie lange freundlich an ohne etwas zu sagen und legte dann den Arm um sie. Die Frau begann zu schluchzen, über ihre Wangen rollten Tränen, die schließlich zu einem Tränenstrom anschwollen. Als sie aus den Tränenfluten wieder auftauchte, waren ihre Augen hellstrahlend voller Licht, in dem Leid und Kraft sich zu vereinen schienen. „Ja“, sagte sie, „ich hatte Träume, große Träume, Lebensträume, Liebesträume.“ Und es schien, als sie so redete, dass sich ihre Gestalt in die eines Engels verwandelte. Und ihre Stimme klang wie eine hellklingende  Glocke, die all die verlorenen Träume sammeln und herbeirufen wollte. Und sie sprach:

Ich träumte von einer Hand, die mich niemals fallen lässt und mich hält, wenn ich Angst habe, dass alles umsonst und wertlos ist, was ich bin und was ich tue.

Ich träumte von einem Menschen, den ich so lieben würde, dass nicht einmal der Tod etwas anhaben konnte.

Ich träumte von einer neuen Sprache, die alle Dinge so zärtlich benannte, dass auch noch das gröbste Ding durchsichtig werden konnte. Und die wichtigsten Worte in dieser Sprache waren DU und JA.

Ich träumte von einem Schiff, mit dem ich unendlich weit aufs Herzmeer hinaussegeln konnte und über mir nur der Sternenhimmel und der, der ihn geschaffen hat. Ich wollte Sternenbrücken bauen zum Freiheitsklang, zum Kinderherz.

Ich träumte von Blumen,- zart und fein, groß und stark-, bewegt vom sanftem Wind im Atemgarten.

Ich träumte von Lichtwellen, die mich durchströmten und die wie ein unauslöschlicher  Lichtschimmer blieben, wenn ich die Schatten der Nacht durchschritt.

Ich träumte von einem Tanz durch die Dunkelheit wie eine Blinde geführt von Erlösungston zu Erlösungston, Musik aus Verheißungsklängen aus dem Nichts, die alles zu bedeuten schienen.

Ich träumte von einer Wurzelwohnung, die mich vertrauensvoll wärmt und birgt, in der ich bedingungslos sein konnte. Ich träumte von einer Höhle, in der alle Seelennarben zuheilen und im Verborgenen neues Leben heranwächst.

Abstieg ist Aufstieg, Acryl auf Leinwand (Ausschnitt)

Und die Frau rief noch viele, viele andere Träume herbei und als sie geendet hatte, nahm der Mann seine Umhängetasche von der Schulter.  Er holte die zerbrochenen bunten Teile des Glasfensters heraus, die er gesammelt hatte und setzte die Bruchstücke zu einem bunten Mosaik zusammen. „Für dich“, sagte er zu der Frau, „deine Träume“, verlier sie nicht und lass sie dir nicht zerbrechen.

Kurz darauf erwachte ein Mann, der bei einer Wanderung auf einer Wiese sich etwas ausruhen wollte und dabei eingeschlafen war. Als er nach Hause kam, erzählte er seiner Frau: Ich hatte heute einen merkwürdigen Traum, und es war ganz eigenartig und das ist mir noch nie geschehen, dass ich im Traum noch einmal träumte.  Ist doch verrückt, was man nicht alles für komische Sachen träumt.

Gustav Schädlich-Buter

schwach und stark

schwach-stark

Wer will nicht stark, erfolgreich, schön, attraktiv, und begehrt sein? „Power haben“- das liegt im Trend des Zeitgeistes.  Schwäche zugeben, das geht eigentlich nicht, in einer Zeit, die „Selbstoptimierung“ und „Gewinnmaximierung“ zu ihren Prioritäten gemacht hat.

Aber, was ist mit all denen, welche das Leben aus der Kurve getragen hat und die jetzt zerbeult daherkommen? Was ist mit denen, die durch die Stürme des Lebens zerzaust wurden und jetzt „abgerissen“ und zerfetzt aussehen? Was ist mit jenen, die durch ihre Lebenskämpfe, ihr Scheitern, ihre Niederlagen oder plötzlich einbrechende Krankheiten geschwächt und zu Boden geworfen wurden? Und was mit all jenen, die auf der Schattenseite des Lebens geboren wurden oder sich in der Mitte der Lebensreise (vgl. Dante, Die göttliche Komödie) sich in einem dunklen Wald verlaufen haben? Und was ist mit den älteren oder kranken Menschen, die nichts mehr „leisten“ können.

Wir brauchen nichts dringender als eine Kultur der Schwäche, fordert Jörg Scheller, Professor für Kunstgeschichte an der Zürcher Hochschule der Künste und er legt in einem lesenswerten Beitrag dar, dass wir in einer Zeit leben, in der es nur noch um Selbstoptimierung und Empowerment geht und selbst formal eingestandene Schwäche nur zur Erfolgsoptimierung dient. Er schreibt:

In der Tat ist es ja, als bestünde die Welt nur noch aus Muskeln. Empowerment! Followerpower! Global Power! Super Power! Student Power! Female Power! Resistance! Resilienz! Rise against! Organisiert euch, optimiert euch, wappnet euch, lernt u kämpfen, setzt euch durch…Ratgeberbücher, die Stärkung des Selbstbewusstseins versprechen. Starke Statements, starker Widerstand, starke Wirtschaft, starke Körper, starke Meinungen, starke Frauen, strong Leadership, gemeinsam sind wir stark….Was in der Kultur der Werte und des Empowerments verloren gegangen ist, ist die gemeinsame Arbeit an einer Kultur des Machtverzichts und der Schwäche…Schwache Schwäche. Schwäche, die schwach genug ist, sich als solche anzuerkennen. Es bedarf eben nicht der Stärke, sich Schwächen einzugestehen. Es bedarf der Schwäche.“ https://www.deutschlandfunk.de/wir-haben-die-macht-1-3-warum-wir-eine-kultur-der-schwaeche.1184.de.html?dram:article_id=492520)

Eine Gesellschaft der Besserwisser, Rechthaber, der Populisten, die wissen, wo es langgeht, der Empörten, die ihr Denken militärisch aufrüsten, und keine abweichenden oder andersdenkenden Meinungen mehr zulassen, scheint sich auch bei uns und weltweit immer mehr auszubreiten.

Macht uns aber umgekehrt nicht gerade die Corona Pandemie deutlich wie verletztlich und schutzbedürftig der Mensch ist, wie fragil menschliches Leben und Planen scheint, wie unsicher sein Wissen; aber auch wie sehr wir alle aufeinander angewiesen sind, wie sehr wir der Solidarität und des Mitgefühls unserer Mitmenschen bedürfen?

Eine echt starke Gemeinschaft (vom Staat bist zur Familie) ist jene, die in besonderer Weise auf die Schwächeren und Bedürftigeren achtet, sich um jene  kümmert und sie mitnimmt statt sie an den Rand zu schieben. „Die Stärke eines Volkes misst sich am Wohl der Schwachen“ – so steht es in der Präambel der schweizerischen Verfassung von 1999.

Nur wer um seine eigenen Schwächen weiß und sie sich auch ein- und zugesteht, wird auch Mitleid und Empathie für jene empfinden, die nicht auf der Siegerstraße zu Hause sind. Geben uns nicht gerade sogenannten Schwachen und Bedürftigen ganz viel und zeigen sie uns nicht eine Welt jenseits der Kategorien Erfolg, Effizienz, Selbstoptimierung und Gewinnsteigerung? Lernen wir durch sie nicht sehr oft sehr viel von dem, was das Leben essentiell ausmacht: Liebe, Zuwendung, Gefühle, Demut, und das Eingeständnis, angewiesen zu sein und Hilfe zu brauchen? Ich für mich kann diese Frage nur bejahen in meinen vielen beschenkenden Begegnungen gerade mit schwerstbehinderten Menschen.

Viele Umkehr und Wandlungsprozesse von sogenannten Heiligen begannen mit einer Erfahrung der Schwäche: der stolze Ritter Ignatius von Loyola, späterer Gründer des Jesuitenordens, erlebt eine tiefgreifende Wandlung seiner Person, als ihm eine Kanonenkugel sein Bein uns seine bisherige Identität zerschmettert; in vielen Stunden der Einsamkeit und Verlassenheit, auch der Verzweiflung, im Hören nach innen wandelt sich sein Leben, in dem ihm keine der alten Freuden mehr Genuss vermitteln und ihm langsam eine neue Lebendigkeit aufblüht.

Oder Franz von Assisi, Sohn eines reichen bürgerlichen Tuchhändlers, selbst ein Lebemann und auf dem Weg über ritterliche Erfolge in den Stand der Adeligen (majores)aufzusteigen (so zumindest der Wunsch des Vaters), erfährt eine tiefgreifende Wandlung seiner Biografie in der Begegnung mit einem Aussätzigen, wahrscheinlich Leprosen, welche die unterste Stufe der hochmittelalterlichen Ständegesellschaft bildeten und wie Tote in einem Begräbnisritual ausgesondert wurden. Indem Franziskus, den Ausgegrenzten umarmt, spürt er, dass der andere Gott aufscheinen lässt, was seinen weiteren Lebensweg entscheidend prägt. In der Schwäche des Anderen entdeckt er auch seine eigene Armut und Bedürftigkeit, die er nicht durch irdische Güter füllen kann. (vgl. dazu Mirjam Schambeck, Nach Gottragen zwischen Dunkel und Licht, Würzburg 2014)

Nicht umsonst beginnen die alten Gebete immer mit dem Ruf: „O Gott komm mir zu Hilfe, o Herr, eile mir zu helfen“- also einem Eingeständnis, ein Hilfsbedürftiger zu sein; einer der angewiesen ist, der nicht mehr aus eigener Kraft sein Leben meistern kann, der sich nicht selbst genügt. Wer betet gibt seine Schwäche zu und bittet die höhere Macht um Hilfe und Beistand. Gehört es nicht zur Größe des Menschen zu bedürfen, Gottes zu bedürfen, um das zu bitten, was ich mir nicht selbst geben kann? Zu bitten, um Erlösung, um Beistand, um Durchhaltekraft in der Not, um Freiheit, um Frieden, um Schutz ….

Gustav Schädlich-Buter

Angst

Angst- ein vielschichtiges Phänomen

Als Seelsorger begegnet mir immer wieder das Thema Angst. Die Angst ist ein extrem vielschichtiges Thema für das ich nur einige Hinweise und Literaturempfehlungen geben kann, die hoffentlich Betroffenen und Begleitenden weiterhelfen.
Angst bewegt viele, jetzt in Zeiten von Corona besonders. Ganz konkrete persönliche Ängste treiben dabei viele Menschen um: die Angst vor Arbeitslosigkeit, um die familiäre Zukunft oder um die Kinder, um die Gesundheit oder ob die Beziehung hält.
Wieder andere quälen die „großen Ängste“: die Angst vor der Zukunft, vor Terrorismus und dem „Fremden“, die oft zu Vorurteilen führt, und schließlich die Angst um das Klima und heute vor Corona.


Aber auch seelische und existentielle Ängste bewegen die Menschen heute stärker denn je, so dass manche Autoren vor einem Jahrhundert der Angst sprechen. Manche haben Angst vor dem inneren Chaos, oder die Angst abgelehnt oder verlassen zu werden, viele haben Angst, ob sie auch genügend geliebt werden, oder die Angst, zu kurz zu kommen, die Angst verletzt oder beschämt zu werden, die Angst, ob sie „richtig“ und normal sind; oder die Angst vor Überforderung, alles nicht mehr zu schaffen. Die Angst vor Alter, Einsamkeit und Sinnleere taucht bei manchen ebenso auf wie die Angst vor Krankheit und Sterbenmüssen. Und die Angst vor der Angst.
Nicht wenige in unserer Gesellschaft fühlen sich von der Angst bestimmt und von „Angstgespenstern“ umzingelt, zumal viele negative Nachrichten rund um Corona zuletzt auf uns eingeströmt sind. Angst kann depressiv machen oder einen in Panik versetzen. Panik ist der plötzlich auftauchender Schrecken, den man nicht deuten kann (das Wort Panik vom griechischen Gott Pan).
Zudem können weit zurückliegende Angsterlebnisse zum Beispiel während des Krieges, die lange verdrängt wurden, in späteren Jahren wieder auftauchen und sogar die nachfolgenden Generationen infizieren und dort weiter wirken.
Die Angst ist aber nicht nur negativ, sondern schon in der Tierwelt überlebensnotwendig und auch für uns Menschen ein wichtiges Alarmsystem bei Gefahren. Sie zeigt uns die Grenzen unserer Macht und Möglichkeiten.
Doch es gibt auch die Angst, die uns am Leben hindert und der keine entsprechende reelle Gefahr entspricht. Dann handelt es sich meist um neurotische Muster, welche das Seelenleben bestimmen und psychologischen Behandlung bedürfen.
Die klassische Psychoanalyse nach Sigmund Freud war der Auffassung, dass die Angst im Kind dadurch entsteht, dass die wichtigen Triebregungen wie Sexualität und Aggression unterdrückt und durch zwanghaftes und angepasstes Verhalten abgewehrt werden.
Literatur: eine gute Hinführung zum Thema Angst, auch aus biblischer Sicht, mit sehr vielen praxisnahe Beispielen: Anselm Grün, Verwandle deine Angst- Ein Weg zu mehr Lebendigkeit, Freiburg 2015

von Angst umzingelt

Angst im Körper

Das Wort Angst hat mit Enge und Einengung zu tun, die sich deutlich im Körper spüren lässt; flacher Atem, Druck auf die Brust, zugeschnürte Kehle, erweiterte Pupillen, aber auch Herzrasen, Schweißausbrüche, innere Erstarrung und Zittern können die Folge sein.
Menschen, die Angst haben, fühlen sich unsicher, hilflos, angespannt, geschwächt, manche weinen, rennen raus, machen sich klein oder nehmen eine Schutzhaltung ein.

Angst als Impuls zu reifen- die Grundformen der Angst nach Fritz Riemann

Davon, dass in der Angst nicht nur quälende und bedrückende Aspekte stecken, sondern auch Impulse zur Weiterentwicklung und Reifung, geht auch der Psychologe Fritz Riemann aus. In seinem lesenswerten Buchklassiker über die Angst arbeitet er vier Grundformen der Angst heraus, die er entsprechend der psychoanalytischen Theorie Freud´s den Persönlichkeitstypen des Shizoiden, Depressiven, Zwanghaften und Hysterischen zuordnet. So erlebt der shizoide Typ (präorale Phase), der Angst vor der Selbsthingabe. Er hat Angst sich an jemanden oder etwas zu verlieren, und verbindet das mit Ichverlust und Abhängigkeit. Jener Typ hat ein großes Bedürfnis, sich abzugrenzen, und seine Wachstumsaufgabe bestünde darin, Zuneigung, Hingabe und Selbstvergessenheit zu lernen.
Der depressive Charaktertyp (orale Phase) hat Angst vor Selbstwerdung, er hat Angst, jemanden oder etwas zu verlieren, er will geborgen und festgehalten werden und hat Angst vor Eigenständigkeit und Selbstbehauptung. Seine Wachstumsaufgabe bestünde aber gerade darin Selbstständigkeit und Unabhängigkeit zu wagen.
Die Grundangst des zwanghaften Typs (anale Phase) besteht in der Angst vor Wandlung, die er als Vergänglichkeit und Unsicherheit erlebt; er fürchtet sich vor Veränderung, Wechsel und Risiko. Seine Wachstumsaufgabe bestünde darin Neues und Großzügigkeit zu erlernen.
Der hysterische Typ hat vorallem Angst vor Endgültigkeit und Festgelegt-werden, gegenteilig zum zwanghaften Typ hat er gerade Angst, dass sich nichts ändert, weil er ein großes Bedürfnis nach Abwechslung, Veränderung und Aufmerksamkeit von anderen hat. Seine Wachstumsaufgabe bestünde darin nüchternen Realitätssinn zu wagen und konsequentes Handeln einzuüben.
(Hinweis: es ist durchaus möglich, sich in mehreren Typen wiederzufinden;
Literatur: Fritz Riemann, Grundformen der Angst. Eine psychologische Studie, München/Basel 1979).

Der Mensch zwischen Ur-Vertrauen und Ur-Angst

Doch die Angst ist kein Thema von kranken oder neurotischen Menschen. Angst haben wir alle und zwar von Beginn unseres Lebens an, worauf die Musiktherapeutin und Sterbeforscherin Monika Renz hinweist. Sobald wir nämlich die von Urvertrauen, Umhülltsein, paradiesischer Geborgenheit und Frieden geprägte intrauterine Welt bei der Geburt verlassen müssen, taucht mit zunehmendem Bewusstsein (vgl. dazu Mythos im Buch Genesis vom Baum der Erkenntnis) die Frage auf, ob wir überleben können in einer fremden und uns noch unbekannten Welt. Das mitgegebene Urvertrauen schaut der Angst in Form von Verlorenheit- und Bedroht-sein ins Gesicht. Und am Anfang ist noch nicht klar, was uns prägen wird: Die Ur-Angst und ihre Verteidigungsstrategien, die sich nach Monika Renz als Gewalt, Gier und Lüge bemerkbar machen, oder das Ur-Vertrauen.
(Literatur, vgl. M. Renz, Zwischen Urangst und Urvertrauen, Paderborn 1996; E. Drewermann, Psychoanalyse und Moraltheologie, Bd. 1 )
Was sich durchsetzt, liegt auch an unserer Kultur, die nicht nur in Tagen von Corona alles andere als optimistisch und hoffnungsvoll stimmt. Tatsächlich wundere ich mich immer wieder wie pessimistisch, nörglerisch und ängstlich viele Menschen in unserer reichen westlichen Welt in die Zukunft blicken, im Unterschied zu Menschen, die in viel ärmeren Ländern mit viel weniger auskommen müssen. Zu einer pessimistischen Zukunftssicht tragen auch politische Parteien bei, welche mit der Angst arbeiten, um Spaltung, Entsolidarisierung und Fremdenfeindlichkeit zu schüren.
(Literatur: vgl ausführlicher dazu: Paul Michael Zulehner, Angstlust, Vom Spiel mit der Angst in Politik, Gesellschaft und öffentlichem Diskurs, in: Ulrich H.J. Körtner (Hg.), Theologische Zugänge zu einem ambivalenten Thema, Neukirchen 2001)

Umgang mit der Angst aus spiritueller Hinsicht

Voraus zu schicken ist, dass es eine unseriöse Theologie gibt, die den Glauben als Lösung aller Lebensprobleme sieht, und die Angst als Symptom des Unglaubens oder sogar als gerechte Strafe für die eigene Gottlosigkeit verstehen will. Doch es gibt keine grundsätzliche Angstfreiheit des Glaubens.
In der Bibel steht nirgendwo „Ängstige dich nicht!“ 1, so der der Benediktiner David Steindl-Rast, denn die Angst gehört zum Leben und zum Glauben; Angst ist unvermeidlich. Entscheidend ist wie wir damit umgehen. Ich kann die Stacheln aufstellen und mich wehren gegen das, was auf mich zukommt, dann bleibe ich in der Furcht stecken; Furcht bleibt in der Angst stecken.
Aber dort wo ich mit (Gott-)Vertrauen durch die Angst hindurchgehe, mich vertrauensvoll in die Angst hineinwage, werde ich auf der anderen Seite in einer größeren Weite herauskommen. Das ist wie bei einer Geburt, auch da muss man durch einen engen Kanal durchgehen und weiß noch nicht, was mit mir geschieht; so lässt sich auch das Sterben als zweite Geburt verstehen, die mit der Todesangst verbunden ist, der ich aber mit meinem Glauben als einem tiefen Vertrauen begegnen kann; einem Vertrauen, dass eine Macht des Lebens (Gott) mich trägt und nicht ins Nichts fallen lässt. Es gilt also von der ersten bis zur letzten Geburt vertrauensvoll durch die Angst hindurch zu gehen statt sich zu sperren und dadurch den möglichen Geburtsprozess zu verhindern. Um dieses Vertrauen zu stärken, schlägt Steindl-Rast vor, alle Gelegenheiten im Leben wahrzunehmen, wofür ich dankbar sein kann. Steindl-Rast hält das „Fürchte Dich nicht“ für den wichtigsten Satz in der Bibel (er kommt dort wohl 365 mal vor) für uns modernen Menschen, doch seien Angst und Furcht zu unterscheiden.

1Steindl-Rast bezieht sich auf den Unterschied zwischen Angst und Furcht, den der Philosoph Sören Kierkegaard eingeführt hat; die Furcht hat ein bestimmtes bedrohliches Objekt, z.B. die Furcht vor dem bissigen Hund), die Angst dagegen ist unbestimmt und gegenstandslos, letztlich die Angst vor dem Nichtsein, taucht auf mit dem Freiheitsbewusstsein des Menschen)
(Quelle: Mitschrift eines Interviews mit Steindl-Rast auf youtube,
https://www.youtube.com/watch?v=Z_BBaf8HpKA

Spirituelle Impulse zum Umgang mit der Angst

Ich stelle mich meiner Angst. Ich versuche sie in Worten zu beschreiben, ich schreibe sie auf (in ein Tagebuch z.B.), ich suche einen Gesprächspartner, mit dem ich über meine Ängste reden kann. Ich spreche mit meiner Angst.
Ich male ein Bild; das meine Angst ausdrückt. Ich betrachte das Bild und tausche mich darüber mit einer Vertrauensperson aus.
(Die Gespenster der Angst werden kleiner, sobald ich sie ausdrücken kann. Die verständnisvolle und vertrauenerweckende Stimme eines Gegenübers, menschliche Nähe tut gut, wenn Angst mich aufwühlt.)
Ich beginne zu beten. Weil mir in meiner Angst und Verzweiflung eigene Worte fehlen, bete ich in den Worten der Psalmen wie z.B.: „ ER griff aus der Höhe herab und fasste mich, zog mich heraus aus gewaltigen Wassern.“ (Psalm 18). Andere Psalmen: Psalm 23, Psalm 34 oder Jes. 49,15; oder im Jesusgebet wiederhole ich Rhythmus des Atems den Satz: „Jesus Christus, Sohn Gottes, erbarme dich meiner!“
Ich meditiere biblische Geschichten wie z.B. Matthäus. 14, 22 f, wo Petrus seinen Fuß auf das Wasser setzt, im Vertrauen auf Jesus, der ihm auf dem Wasser entgegenkommt. Ich begebe mich selbst in die Rolle des Petrus und höre Jesu Stimme: „Fürchte dich nicht!“

Der rote Faden

Nicht umsonst wird das Schicksal des Menschen seit altersher mit dem Symbol des Fadens verknüpft, der etwas von der Räselhaftigkeit des Menschseins zum Ausdruck bringt. Wer bestimmt das menschliche Schicksal, wer verteilt das Los, dass der eine Mensch lang, der andere nur kurz lebt, der eine in Wohlstand und Reichtum aufwächst, der andere in bittere Armut hineingeboren wird, der eine mit strotzender Vitalität gesegnet ist, der andere mit Schwäche und Krankheit belastet. Die alten Mythen suchten darauf eine Antwort zu geben mit der Vorstellung, dass drei Schicksalsgöttinnen , die Moiren (bei den Römern hießen sie Parzen, bei den Germanen waren es die Nornen) den Neugeborenen ihren Lebensfaden spinnen und eine davon, – Atropos-, das Lebensende bestimmt , indem sie den Lebensfaden durchschneidet. Auch in etlichen Märchen tauchen die Symbole von Spinnrad und Faden auf.

Immer erscheint das Leben zunächst als etwas, das nicht in unserer Hand liegt, das von fremden Mächten bestimmt wird. Die Wahrheit dieser Mythen liegt sicher darin, dass wir uns weder unsere Eltern, noch das Land, noch die Kultur oder Religion , in die wir hineingeboren wurden, ausgesucht und frei gewählt haben. Einen großen Teil unseres Lebens wissen wir in der Regel wenig von diesem inneren roten Faden und werden von außen (von Konventionen und Vorgaben) geleitet , werden mehr gelebt als dass wir selber leben. Doch obwohl wir den Lebensfaden nicht selbst gesponnen haben, so besteht doch unsere Aufgabe darin, unseren ureigenen Lebensfaden zu erkennen und ihn zu ergreifen.

Elektronenwirbel

Immer wieder brechen Menschen auf zu inneren Reisen, machen sich auf die Suche nach dem ureigenen Lebensfaden. Manche folgen einer Intuition und Inspiration und lassen Bisheriges und Eingespieltes zurück, andere werden durch die Wunden des Lebens, durch Scheitern, Krankheit, und Niederlagen auf eine solche Reise geschickt. Diese innere Reise ist immer eine Abenteuerreise, die nicht selten in Bereiche führt, wo die alten Regeln der Kontrolle nicht mehr funktionieren. Manche Ritterromane (wie der Parzivalroman) schildern solche Reisen als einen Weg durch finstere Wälder, Dornensträucher, tiefe Gräben oder über schwankende Brücken. Angst und Mut, Zweifel und Glauben begleiten uns auf diesem Weg. Es sind Seelenreisen in die Tiefe , welche viele Mythen, Märchen und Legenden beschreiben.

Auf der Lebensreise kann man sich auch verlaufen, an Wegkreuzungen oder falschen Wegeisern folgen. Wer in die Irre gelaufen ist, braucht einen Rettungsfaden . Ariadne , die Tochter des Königs Minos von Kreta gibt dem Königssohn Theseus einen solchen Faden mit, damit er aus dem Labyrinth des Minotaurus, -ein gefürchtetes Mischwesen aus Mensch und Stier-, wieder herausfindet. Menschen, die traumatisiert oder gefährdet sind, deren Seelen durch Gewalt und Mißbrauch verwundet sind, brauchen jemanden, der einen Rettungsfaden zuwirft. Die Lebensfäden mancher Menschen sind manchmal schier unentwirrbar in einem Knäuel verknotet und verstrickt und sie brauchen Hilfe, um wieder Orientierung für ihr Leben zu finden. Sie brauchen jemanden, der Verworrenes aufdröseln und Knoten auflösen hilft, damit die Reise weiter gehen kann. Gott sei Dank, gibt es immer wieder Menschen, Ereignisse, Inspirationen, die uns helfen die nächsten Schritte unseres Lebensweges zu finden.

Unterschiedliche Begriffe schildern das Ziel eines solchen Reise: das „wahres Selbst“ als tieferer Identitätspunkt, der heilige Gral, der gefunden werden muss als Symbol für Erleuchtung oder Erlösung von einem tödlichen Bann, der wahre Sinn unseres Lebens oder die Begegnung mit Gott (Augustinus sagt in seinen Confessiones: Unruhig ist unser Herz, bis es Ruhe findet in dir, o Gott“ (Augustinus, Conf. 1,1) Jedenfalls haben einige Menschen (- oder sind es alle?) das Bedürfnis, dass ihr Leben einen tieferen Sinn und Zusammenhang hat, dass dieses Leben, in das man „hineingeworfen“ wird, mehr ist als ein belangloses Herumzappen auf unterschiedlichen Kanälen. Die Lebensfäden des Inneren – z.B. meine Talente und Begabungen- wollen entwickelt werden, zu einem schönen Teppich zusammengewoben werden….

Und damit sind wir wiederbei der Frage nach dem roten Faden. Der israelisch- amerikanische Therapeut Aoron Antonovski hat das Konzept der“Salutogenese „entwickelt, indem er der Frage nachgegangen ist , was macht Menschen gesund statt der üblichen Frageweise, was Menschen krank macht. Antonovski hat Holocaustopfer untersucht und ist zur Überzeugung gekommen, dass vorallem jene Menschen die Grauen von Konzentrationslagern unbeschadet überstanden haben, die einen übergreifenden Sinn für ihr Leben gefunden hatten. Antonovski nennt diesen umgreifenden Sinn Kohärenzgefühl , und ein Faktor für dieses Gefühl ist: Ich verstehe mein Leben, es ist für mich ein roter Faden darin zu finden.

Der Sinn meines Lebens lässt sich nur über eine Reise ausfindig machen, nicht umsonst bedeutet die Sprachwurzel von Sinn „reisen“ (vom indogermanischen sentno), auch das lateinische sentire , fühlen, empfinden deuten darauf hin , dass es die Aufgabe eines jeden Menschen ist den Sinn des eigenen Lebens zu erspüren und dem Leben dadurch eine Form und Richtung zu geben.

Der rote Faden, das kann auch ein Satz, ein Wort sein, das für unser Leben bestimmend ist. Der große Religionsphilosoph Romano Guardini spricht vom Passwort im Gefolge eines Traumes, den er hatte und wo ihm gesagt wurde: „Wenn der Mensch geboren wird, wird ihm ein Wort mitgegeben(…) Das wird hineingesprochen in sein Wesen, und es ist wie das Passwort zu allem, was dann geschieht, welches die Tür zu ureigenen Bestimmung öffnet..“ (1.August 1964; der ganze Text von Romano Guardini unter: https://beruhmte-zitate.de/zitate/128248-romano-guardini-heute-nacht-aber-es-war-wohl-morgens-wenn-die-tr/

Impuls: Ich könnte einem Freund/in wichtige Stationen meiner Lebensreise erzählen oder für mich in einem Tagebuch aufschreiben.

Fällt mir ein Wort, ein „Passwort“ ein, das ich als Überschrift über mein Leben setzen kann?

Trauer

„Selig die Trauernden“ (Matthäus Kapitel 5,4 )

Die ganze biblische Tradition, weiß vom Wert und der Würde des Trauerns. Jesus, Hiob oder die jüdischen Profeten haben uns durch ihr Leben gezeigt,  dass Leid und Trauer einen wesentlichen  Teil der Wirklichkeit ausmachen. Nicht nur die Bibel, auch die ganze christliche Mystik weisen darauf hin, dass die „Dunkelheiten  des Lebens“ für uns oftmals bessere Lehrer sein können  als jede Theologie, die uns schnelle Antworten serviert, und dabei die Leidenden und Trauernden nicht selten verletzt.

(„Trauerfall“, Mischtechnik von Gustav Schädlich-Buter)

Keine Erfahrung in Trauerarbeit

In unserer „macherischen “Zeit sind  die wenigsten erfahren und trainiert in Trauerarbeit. Trauern und Weinen gilt besonders bei Männern als Schwäche. Wer trauert, befindet sich in einem eigenen Raum,- in einem Schwellenraum-, in dem die Muster bisheriger Lebensbewältigung nicht mehr funktionieren, die alten Ich- und Bewusstseinsstrukturen sind aufgeweicht  und durchlässig hin auf eine Tiefe, in der tiefste Dunkelheit und hellstes Licht gleichermaßen den Trauernden berühren können.

Dieses Bild hat ein leeres Alt-Attribut. Der Dateiname ist DSC01081-683x1024.jpg

(Trauriger Engel , Acryl auf Leinwand, 60x80cm,  von Gustav Schädlich-Buter)

Trauer als Betriebsstörung

Trauer fühlt sich für das Ego, das funktionieren will, wie eine Betriebsstörung an. Wer aber Trauer nicht zulässt und sich von ihr verwandeln und heilen lässt, wird hart, zynisch und womöglich gewalttätig gegen sich und andere.

Trauer heilt den Schmerz in der Seele

Jesus ermuntert uns in der Bergpredigt, sich dem Schmerz in der eigenen Seele und dem Schmerz dieser Welt zu stellen und aktiv in ihn hineinzugehen. „Selig die Trauernden, denn sie werden getröstet werden“ – Trauer heilt den Schmerz in der Seele und hilft uns beim Loslassen, damit wir weitergehen können. Mancher Trauerprozess dauert sehr lange und es tut sehr weh, weil mir das Leben einen tiefen Verlust zugefügt hat.

Der Franziskaner Richard Rohr spricht davon, dass die Flutwelle des Verlustes gefühlt und erlitten werden will; solange das nicht geschieht, verstehen wir weder unsere innere noch die spirituelle Welt. Unser Schmerz, unsere Traurigkeit, die Tragödien unseres Lebens könnten uns ein Menge lehren, auch wenn wir niemals ganz sicher sind, was es genau ist und wir oft viel lieber davonlaufen und nicht fühlen würden.

Aber es scheint ganz evident: Menschen, die durch Schmerz, Leid und Trauer gegangen sind, sind weiter, tiefer, offener und barmherziger. Wer sich auf einen Trauerprozess einlässt, kann auch Erlösung erfahren.

Impulsfragen:

Was habe ich im Leben verloren und noch  ungenügend betrauert?

Was habe ich verloren und noch nicht losgelassen?

Was muss ich loslassen, damit ich meine „Reise“ fortsetzen kann?

Inventur

„Der, der ich bin, grüßt traurig den, der ich sein könnte“, dieser Satz aus einem Gedicht von Friedrich Hebbel kommt uns zuweilen auch in den Sinn, wenn wir in den Spiegel schauen und dabei unser Blick hinunter in die Tiefe der Seele rutscht:  Unerfüllte Träume, Vorhaben, die nicht gelungen sind, gescheiterte Beziehungen, Verletzungen, die wir anderen zugefügt haben, Situationen, wo wir uns verraten haben…..  Und manchmal geht es uns dann wie Adam in der Schöpfungsgeschichte (vgl.  Genesis 3, 9) , der sich angesichts der  Fehler und Fehlschläge seines Lebens armselig  und nackt vorkommt und  sich schamvoll versteckt. Und trotzdem findet ihn die Frage: „Adam, wo bist du?“

Die Frage ist nicht örtlich gemeint und es handelt sich um keine Geschichte aus ferner Vergangenheit, sondern um eine direkte Frage an uns jetzt:

Wo stehe ich jetzt? Wo und wer bin ich? Wo sind meine Wurzeln? Was ist aus mir und meinem Leben geworden? Was habe ich aus meinem Leben gemacht? Wohin geht mein Leben noch?

Letztlich helfen auf diese grundlegende Standortbestimmungsfrage, weder in der Geschichte  des Buches Genesis, die  im Alten Testament aufgeschrieben ist, noch im richtigen Leben Ausflüchte und Ausredemanöver wie Eva sei an der Misere Schuld oder die Schlange oder die Eltern….;  sondern ich  komme nur weiter, wenn ich  ganz ehrlich zu mir selbst bin, wenn ich  eine Bestandsaufnahme ohne Schönfärberei meines eigenen Lebens wage und wenn ich Verantwortung dafür übernehme. Es geht um die Inventur meines gelebten Lebens.

Dabei darf ich durchaus barmherzig zu mir selbst sein, wenn ich mein Leben und mein Gewordensein samt aller Fehler und Brüche anschaue, auch wenn ich mir womöglich manches anders gewünscht hätte.

Impuls:

Suchen Sie  einen ruhigen Ort (am besten in der freien Natur oder einer  Kirche), und lassen Sie folgende Fragen auf sich  wirken:

„Was ist meine tiefste Sehnsucht?

„Was ist mir das Allerliebste, das Allerbeste?

„Ohne was könnte ich nicht leben?“

Was lässt mich fast verzweifeln?“

Was sind meine tiefsten Fragen?“

Was lässt mich zu einer tiefen Ruhe kommen“

(aus W. Lambert, Das siebenfach Ja, Exerzitien-ein Weg zum Leben, Ignatianische Impulse Band 1 Würzburg2010, S.11)

Erkennen

Erkennen

Vieles im Leben erkennen wir erst später in seiner Bedeutung, seiner Dichte, seiner Schönheit und in seinem Wert. Nicht selten erreicht uns tiefere Erkenntnis so spät, weil sie unter dem Schleier des Selbstverständlichen verborgen geblieben ist. In der Erzählung von Judith Hermann mit dem Titel „Kohlen“(Erzählband „Lettipark“), erkennt eine schwerkranke Frau,- die Mutter des kleinen Vincent-, die wegen einer zerbrochenen Liebe todkrank geworden ist-, schwergezeichnet und dem Tode nahe, wie schön die Gesichter der sie Besuchenden gewesen waren, die sie jetzt aber, weil inzwischen erblindet, nicht mehr sehen kann. Widerholt sagt sie „Es ist so schade, dass ich eure schönen Gesichter nicht sehen kann.“ Erst im Angesicht des Vergänglichen und im Unwiederbringlichen geht diese Erkenntnis auf.

Dass unser Erkenntnisvermögen getrübt ist, beschrieb schon der Philosoph Plato in seinem Höhlengleichnis (in „Politeia “, Buch VII): die Menschen hausen seit ihrer Kindheit wie Gefangene gefesselt in einer finsteren Höhle, starren auf eine Felswand und halten die darauf projizierten Schattenbilder für die reale Wirklichkeit.

Auch große Weltreligionen beschreiben die Ausgangserfahrung menschlichen Daseins ähnlich: so sitzt z.B. im Christentum der Mensch anfänglich in der Finsternis und im Schatten des Todes; er muss erst erleuchtet werden (durch Christus – das Licht), um zu wahrer Erkenntnis durchzudringen. Deshalb hieß die frühchristliche Tauffeier Erleuchtungsfeier.

Der Mensch- so wird er zumindest von vielen großen Religionen und Weisheitslehren beschrieben- , scheint an seinem Ausgangspunkt nicht recht durchzublicken, sein Erkenntnis- und Sehvermögen ist getrübt und verfälscht, seine Wahrnehmung undeutlich und verschleiert, er schaut in die falsche Richtung, baut verblendet sein Leben auf Illusionen und Täuschung auf, sein Zustand ist irgendwie gebrochen, er wirkt desorientiert, jedenfalls weit entfernt von seinen besten Möglichkeiten und von der Fülle des Lebens.

Damit wird angedeutet, dass eine zentrale Lebensaufgabe des Menschen darin besteht, zu wahrer Erkenntnis zu gelangen, Schein von Wahrheit zu trennen, Unechtes von Echtem, Verpackung von Inhalt. Wie wir zu wahrer Erkenntnis kommen ist dabei keine abstrakt theoretische Fragestellung, sondern eine sehr existentielle, die mit wichtigen Fragen verbunden ist: Wer bin ich selbst? Was hat es mit meinem Leben auf sich? Wie finde ich meinen Beruf, meine Berufung? Wie und für was soll ich mich entscheiden, wenn ich vor einer Wahl stehe? Für was mich engagieren? Was macht mein Leben sinnvoll? Welchen Stimmen und Motiven kann ich trauen, von welchen sollte ich besser die Finger lassen?

Am Anfang eines solchen Erkenntnisweges steht die Aufforderung des Orakels von Delphi: „Erkenne dich selbst“ ( Gnothi seauton bzw. Scito te ipsum)

Die Aufforderung des Orakels, sich selbst zu erkennen, zielte vorallem in die Richtung, dass der Einzelne seine Vergänglichkeit, Hinfälligkeit und Gebrechlichkeit in den Blick nehmen sollte und sie war eine Warnung vor Überheblichkeit und Hochmut.

Die Selbsterkenntnis besteht also vorrangig darin, seine „Schatten“ (C.G. Jung), also die unansehnlichen Seiten der eigenen Person, die blinden Flecken, die zuerst von anderen gesehen werden und die eigene Sterblichkeit, die wir allzu gern verdrängen, zu erkennen. Konstantin Wecker sagte in einem Interview: „Je mehr ich in der Lage bin, mich selbst und meine Schattenseiten zu reflektieren, desto mehr bin ich fähig, mitzufühlen. Wichtig finde ich es in diesem Prozess, meine Ängste und meine Schwermut zuzulassen. …Auch eine Ablenkung durch Dauerparty kann nicht wirklich von dieser Erkenntnis befreien. Nur indem wir unseren eigenen Schmerz zulassen, ihn nicht verdrängen, können wir auch den Schmerz des anderen verstehen. Zum Mitgefühl gehört eine ganz tiefe Selbsterkenntnis.“

Wer sich selbst in seiner Erbärmlichkeit erkennt, bekommt Mitgefühl für andere, wer seine eigenes Krank- oder Behindert-sein spürt, bekommt Mitgefühl für kranke, behinderte oder an den Rand geschobene Menschen. Wer sein eigenes Unbeheimatetsein spürt, erkennt und nicht mehr verdrängt (wie so oft in der ersten Phase unseres Lebens), bekommt Mitgefühl für alle, die auf der Flucht sind. Wer die eigenen Risse und Bruchstellen in der Seele spürt, wird sich nicht mehr selbstgerecht und moralisch überheben. Echte Erkenntnis hat immer immer mit dem „Herzen“ zu tun, nicht umsonst setzt daher die hebräische Bibel erkennen und lieben in eins.

Dass wir über uns selbst nachdenken können, empfehlen spirituell Erfahrene, sich aus der Zerstreuung an die vielfältigen Dinge zurückzuziehen, die Gier nach immer Neuem zu begrenzen, einmal aus dem Trott des Gewohnten oder dem Alltagsgetriebe auszusteigen und nach innen zu horchen.

Daher lautet die erste Regel des Mönchsvaters Benedikt: „Horche!“ Auf sein Herz horchen, auf seine Gefühle horchen, auf sein Gewissen horchen, auf die leisen Stimme horchen, die gehört werden wollen (statt auf die im Sekundentakt auf dem Smartphone hereinfliegenden News). „Horchen“- auf all das, was hinter den Verhärtungen der Blockaden, Illusionen und Täuschungen, dem Verdrängten zum Vorschein kommen mag; und auf das, was unter dem Müll der Dauerberieselung uns wirklich ansprechen will. Wir sollen erkennen, was unsere Sehnsucht ist und welche Entscheidungen für uns die richtigen sind.

Impuls:

Gönne Dir einmal im Monat einen Vormittag, an einem stillen Ort, an dem du gerne bist (im Wald, an einem Fluss/Bach, ein Park, eine Kirche……) und tue nicht anderes als absichtslos zu „horchen“. (ohne dabei irgendwelche Probleme lösen zu wollen und ohne Ergebnisdruck) und kommen zu lassen, was von selbst kommt.

Literaturempfehlungen:

Bernardin Schellenberger, Achte auf dein Leben, Mit Benedikt Spiritualität erfahren, Volkach 2015

Judith Hermann, Lettipark, Erzählungen (darin die Erzählung „ Kohlen“)