Der rote Faden

Nicht umsonst wird das Schicksal des Menschen seit altersher mit dem Symbol des Fadens verknüpft, der etwas von der Räselhaftigkeit des Menschseins zum Ausdruck bringt. Wer bestimmt das menschliche Schicksal, wer verteilt das Los, dass der eine Mensch lang, der andere nur kurz lebt, der eine in Wohlstand und Reichtum aufwächst, der andere in bittere Armut hineingeboren wird, der eine mit strotzender Vitalität gesegnet ist, der andere mit Schwäche und Krankheit belastet. Die alten Mythen suchten darauf eine Antwort zu geben mit der Vorstellung, dass drei Schicksalsgöttinnen , die Moiren (bei den Römern hießen sie Parzen, bei den Germanen waren es die Nornen) den Neugeborenen ihren Lebensfaden spinnen und eine davon, – Atropos-, das Lebensende bestimmt , indem sie den Lebensfaden durchschneidet. Auch in etlichen Märchen tauchen die Symbole von Spinnrad und Faden auf.

Immer erscheint das Leben zunächst als etwas, das nicht in unserer Hand liegt, das von fremden Mächten bestimmt wird. Die Wahrheit dieser Mythen liegt sicher darin, dass wir uns weder unsere Eltern, noch das Land, noch die Kultur oder Religion , in die wir hineingeboren wurden, ausgesucht und frei gewählt haben. Einen großen Teil unseres Lebens wissen wir in der Regel wenig von diesem inneren roten Faden und werden von außen (von Konventionen und Vorgaben) geleitet , werden mehr gelebt als dass wir selber leben. Doch obwohl wir den Lebensfaden nicht selbst gesponnen haben, so besteht doch unsere Aufgabe darin, unseren ureigenen Lebensfaden zu erkennen und ihn zu ergreifen.

Elektronenwirbel

Immer wieder brechen Menschen auf zu inneren Reisen, machen sich auf die Suche nach dem ureigenen Lebensfaden. Manche folgen einer Intuition und Inspiration und lassen Bisheriges und Eingespieltes zurück, andere werden durch die Wunden des Lebens, durch Scheitern, Krankheit, und Niederlagen auf eine solche Reise geschickt. Diese innere Reise ist immer eine Abenteuerreise, die nicht selten in Bereiche führt, wo die alten Regeln der Kontrolle nicht mehr funktionieren. Manche Ritterromane (wie der Parzivalroman) schildern solche Reisen als einen Weg durch finstere Wälder, Dornensträucher, tiefe Gräben oder über schwankende Brücken. Angst und Mut, Zweifel und Glauben begleiten uns auf diesem Weg. Es sind Seelenreisen in die Tiefe , welche viele Mythen, Märchen und Legenden beschreiben.

Auf der Lebensreise kann man sich auch verlaufen, an Wegkreuzungen oder falschen Wegeisern folgen. Wer in die Irre gelaufen ist, braucht einen Rettungsfaden . Ariadne , die Tochter des Königs Minos von Kreta gibt dem Königssohn Theseus einen solchen Faden mit, damit er aus dem Labyrinth des Minotaurus, -ein gefürchtetes Mischwesen aus Mensch und Stier-, wieder herausfindet. Menschen, die traumatisiert oder gefährdet sind, deren Seelen durch Gewalt und Mißbrauch verwundet sind, brauchen jemanden, der einen Rettungsfaden zuwirft. Die Lebensfäden mancher Menschen sind manchmal schier unentwirrbar in einem Knäuel verknotet und verstrickt und sie brauchen Hilfe, um wieder Orientierung für ihr Leben zu finden. Sie brauchen jemanden, der Verworrenes aufdröseln und Knoten auflösen hilft, damit die Reise weiter gehen kann. Gott sei Dank, gibt es immer wieder Menschen, Ereignisse, Inspirationen, die uns helfen die nächsten Schritte unseres Lebensweges zu finden.

Unterschiedliche Begriffe schildern das Ziel eines solchen Reise: das „wahres Selbst“ als tieferer Identitätspunkt, der heilige Gral, der gefunden werden muss als Symbol für Erleuchtung oder Erlösung von einem tödlichen Bann, der wahre Sinn unseres Lebens oder die Begegnung mit Gott (Augustinus sagt in seinen Confessiones: Unruhig ist unser Herz, bis es Ruhe findet in dir, o Gott“ (Augustinus, Conf. 1,1) Jedenfalls haben einige Menschen (- oder sind es alle?) das Bedürfnis, dass ihr Leben einen tieferen Sinn und Zusammenhang hat, dass dieses Leben, in das man „hineingeworfen“ wird, mehr ist als ein belangloses Herumzappen auf unterschiedlichen Kanälen. Die Lebensfäden des Inneren – z.B. meine Talente und Begabungen- wollen entwickelt werden, zu einem schönen Teppich zusammengewoben werden….

Und damit sind wir wiederbei der Frage nach dem roten Faden. Der israelisch- amerikanische Therapeut Aoron Antonovski hat das Konzept der“Salutogenese „entwickelt, indem er der Frage nachgegangen ist , was macht Menschen gesund statt der üblichen Frageweise, was Menschen krank macht. Antonovski hat Holocaustopfer untersucht und ist zur Überzeugung gekommen, dass vorallem jene Menschen die Grauen von Konzentrationslagern unbeschadet überstanden haben, die einen übergreifenden Sinn für ihr Leben gefunden hatten. Antonovski nennt diesen umgreifenden Sinn Kohärenzgefühl , und ein Faktor für dieses Gefühl ist: Ich verstehe mein Leben, es ist für mich ein roter Faden darin zu finden.

Der Sinn meines Lebens lässt sich nur über eine Reise ausfindig machen, nicht umsonst bedeutet die Sprachwurzel von Sinn „reisen“ (vom indogermanischen sentno), auch das lateinische sentire , fühlen, empfinden deuten darauf hin , dass es die Aufgabe eines jeden Menschen ist den Sinn des eigenen Lebens zu erspüren und dem Leben dadurch eine Form und Richtung zu geben.

Der rote Faden, das kann auch ein Satz, ein Wort sein, das für unser Leben bestimmend ist. Der große Religionsphilosoph Romano Guardini spricht vom Passwort im Gefolge eines Traumes, den er hatte und wo ihm gesagt wurde: „Wenn der Mensch geboren wird, wird ihm ein Wort mitgegeben(…) Das wird hineingesprochen in sein Wesen, und es ist wie das Passwort zu allem, was dann geschieht, welches die Tür zu ureigenen Bestimmung öffnet..“ (1.August 1964; der ganze Text von Romano Guardini unter: https://beruhmte-zitate.de/zitate/128248-romano-guardini-heute-nacht-aber-es-war-wohl-morgens-wenn-die-tr/

Impuls: Ich könnte einem Freund/in wichtige Stationen meiner Lebensreise erzählen oder für mich in einem Tagebuch aufschreiben.

Fällt mir ein Wort, ein „Passwort“ ein, das ich als Überschrift über mein Leben setzen kann?