Traumsucher

Er wußte nicht, was ihn dazu antrieb, aber er stieg hinunter in den dunklen Raum, dessen Tür sich plötzlich vor ihm auftat; viele Treppen hinunter in ein dunkles Reich, das von keinem Lebewesen bewohnt schien. Auf dem Boden lagen die Scherben eines zerbrochenen bunten Glasfensters.

Etwas in ihm drängte ihn dazu, die bunten, überall zerstreuten Scherben in einer Tasche, die er immer bei sich trug, aufzusammeln. Nur sehr wenig Licht strömte durch das zerbrochene Fenster noch herein, aber zumindest war der Raum nicht ganz dunkel, so dass ein Gang sichtbar wurde, der zu weiteren scheinbar unbewohnten Räume führte. Vorsichtig öffnete der Mann eine halb offenstehende Tür und gerade als er einen Schritt hineinwagen wollte, stieß er an einen lebendigen Körper. Erschrocken zuckte er zusammen, als ein leises Wimmern und Klagen einer ängstlichen Stimme an sein Ohr drang. Kaum sichtbar durch das wenige Licht, erkannte er aber, da seine Augen sich inzwischen an die Dunkelheit gewöhnt hatten, die Gestalt einer Frau, die an einer Säule lehnte. Ihre Haare waren wirr verstrubbelt, aber alles an ihr schien durcheinander; ihr Kleid war zerrissen und sie hatte keine Schuhe an den Füßen. „Wer bist du“, fragte der Mann , und: „Wie kommst du hier her?“ „Was ist das überhaupt für ein Kellerraum, in dem wir sind?“. Die Frau schaute ihn mit aufgerissenen Augen an und sagte lange kein Wort. Dann, als müsste sie erst wieder die verloren gegangenen Worte ihrer Sprache zusammensetzen, öffnete sie den Mund und würgte einige unverständliche Laute hervor, die wie „kraks“ oder „crux“ klangen. Der Mann nahm sie -ohne weiter mit Fragen zu bedrängen- beim Arm und half ihr auf, sie konnte kaum laufen, war sehr geschwächt, konnte sich kaum aufrechthalten, aber mit seiner Hilfe schaffte sie es bis zum Hauptraum, wo durch das zerschlagene Fenster gedämpftes Licht hereinfiel. Der Mann zog seine Jacke aus, legte sie auf den Boden und half der Frau, sich darauf nieder zu lassen. Die Frau legte sich darauf und schlief nach kurzer Zeit ein. Der Mann saß bei ihr und von Müdigkeit übermannt, schlief auch er ein. Im Traum sah er die Frau erneut; sie stand ihm jetzt gegenüber, sie hatte ihre Sprache wieder gefunden und redete klar und deutlich folgenden Satz an den Mann gerichtet: „Wir sind hier im Reich der verlorenen Träume. Aber was suchst Du hier?  Warum bist du denn  hier her gekommen?“

Der Mann schaute mit seinem Gesicht etwas unwissend und verloren zur Erde und gerade als er ihr sagen wollte „Ich weiß es nicht“, sagte er: „Jetzt fällt es mir ein, warum ich hier bin. Jemand, den ich nicht kenne, hat mich beauftragt, deine Träume zu suchen.“

Daraufhin erstarrte die Frau und sie stieß ihre Antwort bitter und trotzig aus ihrem halbverschlossenen Mund heraus: “Ich hatte nie Träume!“ Der Mann schaute sie lange freundlich an ohne etwas zu sagen und legte dann den Arm um sie. Die Frau begann zu schluchzen, über ihre Wangen rollten Tränen, die schließlich zu einem Tränenstrom anschwollen. Als sie aus den Tränenfluten wieder auftauchte, waren ihre Augen hellstrahlend voller Licht, in dem Leid und Kraft sich zu vereinen schienen. „Ja“, sagte sie, „ich hatte Träume, große Träume, Lebensträume, Liebesträume.“ Und es schien, als sie so redete, dass sich ihre Gestalt in die eines Engels verwandelte. Und ihre Stimme klang wie eine hellklingende  Glocke, die all die verlorenen Träume sammeln und herbeirufen wollte. Und sie sprach:

Ich träumte von einer Hand, die mich niemals fallen lässt und mich hält, wenn ich Angst habe, dass alles umsonst und wertlos ist, was ich bin und was ich tue.

Ich träumte von einem Menschen, den ich so lieben würde, dass nicht einmal der Tod etwas anhaben konnte.

Ich träumte von einer neuen Sprache, die alle Dinge so zärtlich benannte, dass auch noch das gröbste Ding durchsichtig werden konnte. Und die wichtigsten Worte in dieser Sprache waren DU und JA.

Ich träumte von einem Schiff, mit dem ich unendlich weit aufs Herzmeer hinaussegeln konnte und über mir nur der Sternenhimmel und der, der ihn geschaffen hat. Ich wollte Sternenbrücken bauen zum Freiheitsklang, zum Kinderherz.

Ich träumte von Blumen,- zart und fein, groß und stark-, bewegt vom sanftem Wind im Atemgarten.

Ich träumte von Lichtwellen, die mich durchströmten und die wie ein unauslöschlicher  Lichtschimmer blieben, wenn ich die Schatten der Nacht durchschritt.

Ich träumte von einem Tanz durch die Dunkelheit wie eine Blinde geführt von Erlösungston zu Erlösungston, Musik aus Verheißungsklängen aus dem Nichts, die alles zu bedeuten schienen.

Ich träumte von einer Wurzelwohnung, die mich vertrauensvoll wärmt und birgt, in der ich bedingungslos sein konnte. Ich träumte von einer Höhle, in der alle Seelennarben zuheilen und im Verborgenen neues Leben heranwächst.

Abstieg ist Aufstieg, Acryl auf Leinwand (Ausschnitt)

Und die Frau rief noch viele, viele andere Träume herbei und als sie geendet hatte, nahm der Mann seine Umhängetasche von der Schulter.  Er holte die zerbrochenen bunten Teile des Glasfensters heraus, die er gesammelt hatte und setzte die Bruchstücke zu einem bunten Mosaik zusammen. „Für dich“, sagte er zu der Frau, „deine Träume“, verlier sie nicht und lass sie dir nicht zerbrechen.

Kurz darauf erwachte ein Mann, der bei einer Wanderung auf einer Wiese sich etwas ausruhen wollte und dabei eingeschlafen war. Als er nach Hause kam, erzählte er seiner Frau: Ich hatte heute einen merkwürdigen Traum, und es war ganz eigenartig und das ist mir noch nie geschehen, dass ich im Traum noch einmal träumte.  Ist doch verrückt, was man nicht alles für komische Sachen träumt.

Gustav Schädlich-Buter