Hoffnung durch Sinn

„Warum musste mir das passieren?“, fragen wir uns, wenn uns etwas Schlimmes oder Unerwartetes passiert: ein Unfall, der unseren Lebensradius einschränkt, vielleicht sogar dauerhaft, eine Krebserkrankung, die wie aus heiterem Himmel aufgetaucht ist, der Verlust eines lieben Menschen, ein Scheitern in unseren beruflichen Planungen, eine zwischenmenschliche Enttäuschung, ein ungerechter Vorwurf, Mobbing……„Warum musste mir das passieren?“ Oft bekommen wir zunächst keine Antwort auf diese Fragen; der Sinn dessen, was uns da widerfährt, bleibt verschlossen, und wir sitzen im Dunklen mit unserer Leid- und Krisenerfahrung.

Der Psychiater und Neurologe Viktor Frankl (1905-1997), Gründer der Logotherapie, kann uns da wichtige Hilfestellungen geben. Frankl hat selbst in der Zeit des Nationalsozialismus wegen seiner jüdischen Herkunft schlimmste Erfahrungen als KZ-Häftling gemacht; nach seiner Befreiung erfährt er, dass sowohl seine Ehefrau wie seine Eltern in Ausschwitz ermordet wurden. Er ist am Boden zerstört und sagt sich, wenn ich weiterleben will, muss es irgendwie einen verborgenen Sinn geben, dass ich überlebt habe. Das ist der biografische Hintergrund für die Entwicklung seiner Sinntherapie und Existenzanalyse.

Frankl stellt die Frage nach dem Sinn ins Zentrum menschlichen Erlebens. Und er sagt, dass es nicht entscheidend sei, welche Erwartungen wir an das Leben stellen, sondern welche Fragen das Leben uns stellt, auch angesichts von Erlebnissen, die wir uns weder gewünscht noch erwartet haben. Wir könnten daher, statt zu fragen „warum ist mir das passiert“, nach dem „wozu“ fragen. Wozu fordert mich die jetzige Situation heraus? Könnte womöglich, so ließe sich fragen, ein Sinn in diesem Schicksalsschlag liegen, auch wenn er sich im Moment noch nicht erschließt und es auch nicht auf alles eine Sinnantwort gibt. Frankl geht jedoch von einer prinzipiellen Freiheit des Menschen aus, welche es ermöglicht, frei zu den Situationen seines Lebens Stellung zu beziehen statt einfach einem blinden Schicksal ausgeliefert zu sein. Wenn sich die äußere Situation als unabänderlich erweist, bleibt die Möglichkeit, sich selbst zu ändern, seine Einstellungen. Als Seelsorger habe ich tatsächlich schon einige sehr überraschende Antworten von Menschen mit einer Behinderung auf das erhalten, was für sie selbst der Sinn ihrer Behinderung sei und wozu sie gerade durch ihre Behinderung herausgefordert wurden. Frankl spricht in diesem Zusammenhang von der „Trotzmacht des Geistes“. 

Er ermuntert aber alle, sich die Frage nach dem Sinn des Lebens nicht erst angesichts von Krisen und Schicksalsschlägen zu stellen, oder nach dem Verlust von Geld, Macht und Ansehen. Denn er definiert den Menschen als ein sinnsuchendes Wesen, der unglücklich und krank werden kann, wenn sein Leben keinen Sinn eröffnet. Gerade in unseren Wohlstandsgesellschaften, die keinen unmittelbaren Kampf ums physische Überleben mehr erfordern, nehmen diejenigen Depressionen von Menschen zu, die keinen tragenden Sinn mehr in ihrem Leben finden. Daher stellt sich immer wieder neu die Frage, was trägt mein Leben? Mein Eindruck ist, dass es heute immer mehr Menschen und Firmen nicht mehr nur darum geht, viel Geld zu sammeln, sondern dass sie nach einem tieferen Lebensinhalt und Lebenszweck Ausschau halten.

Sinnantworten ergeben sich jedoch nicht einfach, sondern verlangen einen Aufbruch aus dem Vorgegebenen, manchmal auch ein Sprengen der gewohnten und bequemen Blase,  eine äußere und/oder innere Reise. Darauf deutet schon die Sprachwurzel von Sinn, die „reisen“, auf etwas sinnen und den Sinn von etwas erfragen bedeutet (vom indogermanischen `sentno`, was soviel bedeutet, wie eine Richtung nehmen, gehen, empfinden und wahrnehmen). Wer bei dieser Reise, die jede und jeder für sich selbst unternehmen muss, eine stimmige Richtung einschlägt und eine stimmige Antwort findet, bekommt Zuversicht und Hoffnung für sein Leben. Auch wenn das, was Menschen als sinnhaft erleben, sehr unterschiedlich sein mag, braucht es nach Frankl für das Erleben von Sinn das Element der Selbsttranszendenz.  Damit ist die die Hingabe an eine Aufgabe oder Person gemeint.

Sinn wird er-„fahren“, leuchtet auf wie die Strahlen der Sonne, manchmal auch in den Wunden, im Schmerz und der Dunkelheit des Lebens. Sinn kann ich mir letztlich nur schenken lassen, immer wieder neu, Sinnerlebnisse berühren mich in der Tiefe und locken mich über mich hinaus. Sinnerleben hat daher auch viel mit unseren Sinnen zu tun. Sinn ist nicht unabhängig von meiner Lebensgeschichte, nicht unabhängig von meiner Individualität, sondern zutiefst damit verwoben. Sinn ist dort, wo ich mit der tieferen Wirklichkeit meiner selbst übereinstimme. Sinn eint das menschliche Herz, „Sinn ist das, worin unser Herz zur Ruhe kommt.“ (vgl. Augustinus)

Viktor Frankl fand den Sinn seines Lebens darin, anderen zu helfen, den Sinn ihres Lebens zu finden.

Literatur zur Vertiefung:

Viktor Frankl, Trotzdem Ja zum Leben sagen, Ein Psychologe erlebt das Konzentrationslager, erschienen im Köselverlag, München

Viktor Frankl, Über den Sinn des Lebens, Beltzverlag, Weinheim 2021

Viktor E. Frankl, Wer ein Warum zu leben hat , Lebenssinn und Resilienz, Beltzverlag, Weinheim 2017

Gustav Schädlich-Buter