Kontemplatives Bewusstsein

Kontemplatives Bewusstsein

Nicht selten besuchen Menschen auf ihren Urlaubsreisen Kirchen und Gotteshäuser, auch solche, die sich nicht besonders kirchlich oder konfessionell religiös verstehen. Wer das einmal beobachtet, sieht, dass sich etwas an ihnen verändert, es scheint als würden sie in einen Raum oder eine Aura der spontanen Kontemplation eintreten. Wer im Wörterbuch nachschaut, findet als Übersetzung für Kontemplation folgendes: eine Art Konzentration, ein tiefes Nachdenken, eine geistige Anschauung, ein Blick nach etwas, der anders ist als das normale Sehen. Es ist, als ob die Ausstrahlung eines Raumes die Menschen ergreifen würde; vielleicht nur wenige Momente oder Sekunden scheint etwas auf sie einzuwirken, was sie sonst aus ihrem Alltag nicht kennen. Eine stille Aufmerksamkeit und Nachdenklichkeit erfasst sie, wie sie die Skulptur von Rodin „der Denker“ womöglich zum Ausdruck bringt. Für Momente taucht der kontemplative Weg des Lebens in uns auf. Momente der spontanen spirituellen Erfahrung kennen wir auch aus anderen Zusammenhängen wie beim Anblick zweckfrei spielender Kinder, oder einer spontan in unserem Herzen auftauchenden Liebe.

Damit solche Momente mehr sind als rasch vergängliche Augenblicksaufnahmen, und eine deutliche Spur in unserer Seele hinterlassen, ist es wichtig, diese Wahrnehmungen zu gewichten und als Erinnerungsschatz zu bewahren, denn in ihnen taucht die dem Leben innewohnende Heiligkeit des Lebens auf. 

Gerade die Natur ist eine Arena, in der ein kontemplatives Bewusstsein spontan in uns erwachen kann. Ich erinnere mich noch sehr deutlich, obwohl es schon viele Jahre her ist, an eine Übernachtung im Freien in der Nähe des Sees Genezareth in Israel. Ich lag am Boden, schaute zum Sternenhimmel und spürte wie ein leichter warmer Wind, das hohe Gras sanft hin und her wiegte und war dabei ganz ergriffen und umgriffen von etwas, das sich weiterer Beschreibung entzieht. Oder im Gras liegen und die dahintreibenden Wolken beobachten, völlig entspannt und zweckfrei da sein; wenigstens für eine kurze Zeit aussteigen aus dem Druck und den Anforderungen des Alltags- und Berufslebens.

Wir können dem Geschenk oder der Gnade solcher Erfahrungen den Zugang bereiten, indem wir unsere Sinne trainieren: das Hören der Regentropfen, die auf das Dach fallen, die langsam herunterfallende Schneeflocke im Winter, das Schmecken des Duftes einer Blume oder das Berühren der Rundungen eines Steines.

Auch die menschliche Intimität, -weit mehr  als bloße Sexualität- , ist ein möglicher Ort für ein spontanes Erwachen der Kontemplation, die mich über mich und mein Ego hinausführt. Richard Rohr schreibt dazu: „Intimität könnte als unsere Fähigkeit zu Nähe und Zärtlichkeit gegenüber den Dingen beschrieben werden. Es wird oft in Momenten der riskanten Selbstoffenbarung enthüllt. Die Intimität lässt sich selbst heraus und lässt den anderen herein. Es macht alle Liebe möglich, und doch offenbart es auch unsere völlige Unfähigkeit, zurückzulieben, wie es der andere verdient. Keiner von uns kann dorthin gehen, ohne unsere Mauern fallen zu lassen, unser tieferes Selbst einem anderen gegenüber zu manifestieren und den Fluss geschehen zu lassen.“

Und sogar in der Einsamkeit, dort, wo ich wirklich allein bin, wohl auch irgendwann in der Situation des eigenen Sterbens, kann ich etwas entdecken von der Heiligkeit, die in unserer Existenz und Wirklichkeit verborgen liegt.

Auch die Kunstbetrachtung kann solch spontanes kontemplatives Bewusstsein erwecken, aber meist jenseits wichtigtuerischer Kunstführer, die meist nur bildungsbürgerliche Reflexe der Betrachter bedienen und den kontemplativen Weg über die Kunst eher versperren als eröffnen. (vgl. dazu ausführlicher: Pfr. Rainer Hepler, „Rituale verlassen und Gott in der Kunst suchen“, seit 1997 in der Kunstpastoral im Erzbistum München und Freising tätig; Medienseite (erzbistum-muenchen.de))

Auch im Gebet, im absichtslosen und zweckfreien Sitzen in Gottes Gegenwart, kann die tiefe Erfahrung auftauchen, von Gott umfassend geliebt zu werden mit all unseren Schwächen und Versagen, mit unserer Zerbrechlichkeit und Unvollkommenheit.

Aber auch die Leidenserfahrungen unseres Lebens, die Härten und Schwierigkeiten, denen wir im Leben begegnen, können zum Weg werden, der unsere Herzen öffnet, gerade wenn alles verloren und umsonst scheint. Leonhard Cohen drückt es in seinem Lied „Anthem“ so aus: „There is a crack, a crack in everything, that`s how the light gets in.“ (es ist ein Riss (Sprung) in allen Dingen, aber auf diese Weise, kann das Licht eindringen.  Vgl.  CD Cohen, The Future, Columbia 1992 Sony Music)

Risse, Acryl auf Leinwand

Und schließlich, darauf weist James Finley (früherer Schüler von Thomas Merton und heute Lehrer im Center for action and contemplation, dem ich wertvolle Anregungen für diesen Text verdanke) hin, dass im Heilungsprozess selbst eine kontemplative Begegnung mit der Tiefe unseres Selbst geschieht. Denn Heilung sei immer mehr als nur die Überwindung von Symptomen oder sonstiger Schwierigkeiten, echte Heilung beruhe auf einer Begegnung in der Tiefe, in der wir in Kontakt mit der Tiefe unseres Selbst gelangen, die uns bislang verborgen gewesen ist.

So wünsche ich Ihnen und mir gerade in der Urlaubszeit viele heilsame und erneuernde Erfahrungen, die uns in die Tiefe unserer Existenz führen oder zu dem, -wie es Goethe ausdrückt-, was die Welt im Innersten zusammenhält.