Auf dem Heimweg

Mit Armut, Verlust, Scheitern und Versagen fallen die Masken ab, an denen wir oft viele Jahre unseres Lebens mit großer Lebensenergie gebastelt haben; aufwendige Selbstinszenierungen krachen ein, – wie wir an bekannten Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens immer wieder vor Augen geführt bekommen. Mit der herunterfallenden Maske  und Fassaden wird ein Selbst offenbar, das auf Schein beruht, ein mentales Selbstbild, das nicht dem Inneren entspricht.„Der Schein haftet am Sein und nur der Schmerz kann eins vom anderen ablösen“( Simone Weil). Ein solcher Lernprozess  ist  schmerzhaft, eine Art Geburtsschmerz, bei dem ich mich selbst und Gott tiefer kennenlerne;  bei dem sich echtes Sein und aufgesetzter Schein auseinander dividieren wie es die Philosophin Simone Weil andeutet.

(„Maske und Angst“, Mischtechnik von Gustav Schädlich-Buter)

Solange hauptsächlich das falsche Selbst im Leben Regie führt, kreist man/frau um sich selbst , poliert die  Fassade, frägt bei allem „Was bringt mir das ?“ und dient dem Götzen „Ego“.  „Man“ führt große Worte im Mund, „frau“schminkt sich  und  putzt sich heraus. Man scheffelt Geld, raucht dicke Zigarre, spielt Machtspiele aller Art und ist cool.  Man und frau sind süchtig nach sich selbst  und treiben in  Äußerlichkeit und Zerstreuung. Man(n)  wird  zu  abgebrühtem Einzelkämpfern in einer zynischen Welt Gleichgesinnter.

Durch Grenzerfahrungen des Lebens, durch den Einbruch von Krankheit, Behinderung oder einen unerwarteten Schicksalsschlag„ kann sich alles ändern. Oder „Grad in der Mitte unserer Lebensreise“ , sagt der berühmte Dichter Dante in der  Göttliche Komödie,  kann es passieren, dass wir in einen „dunklen Wald“ geraten; dass unsere bisherige Lebensstrukturen und Werte nicht mehr tragen, dass ein Schatten auftaucht, den wir nicht mehr abschütteln können, dass unser „Schein-Ich“ abblättert und abfällt wie ein Mantel, der nicht mehr taugt..

Das kann schmerzhaft und befreiend zugleich sein, weil  wir dadurch in eine Richtung getrieben werden können, die man als wahres Selbst oder als wahre Identität bezeichnen können. Befreit vom Ballast des falschen Selbst und des aufgeblähten Egos werden wir wieder zu „Anfängern“, die einen Freiheitsraum betreten und offen werden für wirklich „Neues“.  Neulinge, die sich wieder berühren lassen und berührt werden.

Wer in diese Richtung sich bewegt, ist auf dem „Heimweg“. Er verlässt die „Türme“, in welche er sich verstiegen oder verschanzt hat, er wirft unnötigen Ballast ab und geht nach Hause. Adam, -der nackte Mensch- , Adam, – auf den Grund gekommen– , kehrt zum „Ursprung“ zurück, sieht sein Leben sich wandeln, wird von der Ichbezogenheit zur Gottbezogenheit „ge-kehrt. Wer auf diesem Wege ist, ahnt langsam,  was wir „verborgen in Gott“ (Kol 3,3) sind und dass  wir Anteil haben an der „göttlichen Natur“ (2 Petr.1,4)

(Titel: Auf dem Heimweg, Mischtechnik von G. Schädlich-Buter)

Und manchmal ist der Verlust von Besitz, Ansehen und Gesundheit die Erinnerung daran, dass es diese Heimat gibt und wir wie verlorene Söhne und Töchter (vgl. Lk.15) uns aufmachen können, heimwärts- zu wahrem Glück, echter Freiheit  und innerem Frieden, den die Welt nicht geben kann. Und so kann unser alltägliches kleines Sterben und unser Sterben beim letzten Übergang zu einer Heimreise werden.

Literatur zur Vertiefung:

Dante Alighieri, Die göttliche Komödie, herausgegeben von Karl Witte, Köln 2009

„Zeitdiebe“- in memoriam Michael Ende

Immer wieder haben sich Philosophen, Schriftsteller und Künstler Gedanken gemacht über die Zeit. „Was ist also die Zeit?“ Bekannt ist der Ausspruch des Kirchenvaters Augustinus: „Wenn mich niemand danach frägt, weiß ich es, wenn ich es aber einem, der mich fragt, erklären sollte, weiß ich es nicht!“ (Confessiones XI, 14)

Foto Melchior Buter

Doch das Nachdenken über die Zeit ist nicht bloß ein abstraktes theoretische Problem von Philosophen oder Physikern. Mein persönlicher Umgang mit der Zeit hat ganz praktische Auswirkungen. Menschen, die von Burnout gefährdet sind, erleben die Zeit oft als Feind und sagen: „Die Zeit frißt mich auf.“ Sie haben das Gefühl, das die zur Verfügung stehende Zeit niemals ausreicht, um alle Aufgaben und Erwartungen zu erfüllen. Der Zeitdruck engt sie immer mehr ein, sie fühlen sich gehetzt und getrieben und kommen nie zur Ruhe. Es fehlt die Zeit für sich selbst und für die zwischenmenschlichen Beziehungen.(vgl. dazu Anselm Grün, Kraftvolle Visionen gegen Burnout und Blockaden, Freiburg im Breisgau 2012, S.151-154)

Schon 1973 hat Michael Ende dieses Problem sehr hellsichtig aufgegriffen. In seinem wundervollen Märchen- Roman Momo, der 1974 mit dem Jugendbuchpreis ausgezeichnet wurde, spielt sich ein dramatischer Kampf ab. Hauptfigur ist Momo, ein besonderes, kleines Mädchen ohne Eltern -, das nichts besitzt außer das, was sie an lumpigen Kleidern am Leib trägt. Sie taucht plötzlich in irgendeiner südeuropäischen Stadt auf und richtet sich in der Ruine eines Amphitheaters ein. Sie ist der Welt zugewandt und kann wunderbar zuhören. Sie schenkt den Menschen Zeit- Lebenszeit- und tut allen gut. Doch plötzlich taucht ein grauer Schatten über der Stadt auf: die „grauen Herren“- Agenten der Zeitsparkasse – haben sich unbemerkt von den Bewohnern in der ganzen Stadt ausgebreitet.

Sie erklären den Menschen, wieviel Zeit sie sparen können, wenn sie angeblich nutzlose Tätigkeiten aus ihrem Leben streichen. So erklärt ein Zeitagent XYQ/384/b Herrn Fusi, einem Mann mit einem kleinen Frisörladen:

„´Sehen sie lieber Herr Fusi`, sagte der Agent, ´Sie vergeuden Ihr Leben mit Scherengeklapper, Geschwätz und Seifenschaum Wenn sie einmal tot sind, wird es sein, als hätte es Sie niemals gegeben…Alles was sie benötigen ist Zeit.“ Zeit, so der graue Herr, um das richtige Leben zu führen und diese Zeit muss eingespart werden. Der Zeitagent rechnet Herrn Fusi vor, wo jener Zeit einsparen kann, um diese dann auf der Zeitsparkasse einzuzahlen: „.. Sie leben allein mit Ihrer alten Mutter, wie wir wissen. Täglich widmen Sie der alten Frau eine volle Stunde , das heißt, sie sitzen bei ihr und sprechen mit ihr, obgleich sie taub ist und sie kaum hört. Es ist also hinausgeworfene Zeit.: macht fünfundfünfzigmillionenhundertachtundachtzigtausend. Ferner, haben Sie überflüssigerweise einen Wellensittich, dessen Pflege Sie täglich eine Viertelstunde kostet, das bedeutet umgerechnet dreizehnmillionensiebenhundert- siebenundneunzigtausend….“ (Michael Ende, Momo, Stuttgart 1973, vgl. S.58 f. )

Und der graue Herr fährt fort, alles Überflüssige dieses Lebens –  Gesangsverein, die Freunde, Fräulein Daria,….- vorzurechnen, wobei es Herrn Fusi immer kälter ums Herz wird. Die ganze verschwendete Lebenszeit, die vom Zeitagenten auf dem Frisörspiegel als Rechnung festgehalten wird, lässt den kleine Frisör erschaudern. Schließlich führt die vernichtende Lebensbilanz des Zeitagenten Herrn Fusi dazu, alle scheinbar „unnützen“ Interessen aufzugeben. Über seinen Laden schreibt er das Motto: „Gesparte Zeit ist doppelte Zeit.“

Die kleine Momo nimmt im Roman Michel Ende`s nun den Kampf auf gegen die gespenstische Gesellschaft der grauen Herren, welche die Menschen der Stadt veranlassen, immer mehr Zeit zu sparen. Dadurch aber werden die Menschen immer hektischer, gefühlskälter, oberflächlicher und egoistischer; ihre Tage werden kürzer und ihre Arbeit hastiger. Die grauen Herren, so wird Momo von Meister Hora, dem Verwalter der Zeit, aufgeklärt, das sind keine menschlichen Wesen, sondern Mächte, von denen sie sich beherrschen lassen.

Die „Stunden-Blumen“ stehen im Roman Michel Ende`s symbolisch für die Lebenszeit, die in den Herzen der Menschen wächst. Die grauen Herren stehlen sie und drehen aus den getrockneten Blätter ihre Zigarren, durch welche sie sich am Leben halten

Michael Ende`s Roman geht letztlich gut aus und Momo gewinnt den Kampf gegen die Zeitagenten.. Doch sein Buch liest sich auch wie eine Warnung, sich nicht von den gespenstischen Zeitdieben in unserem eigenen Inneren oder in den Strukturen der gegenwärtigen Wirtschaft blenden lassen.

Gerade wer im Beruf viel Verantwortung hat, braucht Zeit, die ihm gehört. Eine heilige Zeit, in welche keine Erwartungen oder Forderungen von außen stören dürfen. Ein Zeit, in der ich, ich selbst sein kann. Eine Zeit, in der ich ganz da sein kann für Freunde oder Familie. Eine Zeit, in welcher die „leise und doch gewaltige Musik“ der Schöpfung, die im Roman durch das Auftauchen der grauen Herren plötzlich verstummt, wieder vernehmbar und hörbar sein wird.

„ Es ist also hinausgeworfene Zeit..“- ja aus Liebe zum Menschen, zur eigenen Seele und zur Bewahrung der Schöpfung hinausgeworfene Zeit!

Fragen zum Nachdenken:

Wofür nehme ich mir Zeit?

Habe ich freie Zeit, die nur mir gehört und wo ich mich nicht unter Druck setze? (z.B. ein unumstößlicher „heiliger Termin“ in der Woche z.B.)

Habe ich Zeit für andere, die nicht verzweckt ist? (für Nachbarn, für ein ehrenamtliches Engagement, für Kreatives…..)

Der „Engel in dir“

Künstler scheinen eine ganz besondere Affinität zu Engeln zu haben: Rainer Maria Rilke, Paul Klee, Marc Chagall, Rose Ausländer, um nur einige zu nennen, schreiben oder malten über Engel.

Bilder und Lyrik haben etwas von der Unverfügbarkeit, die  Engeln eigen ist und die letztlich auf die Unverfügbarkeit Gottes weist. Das moderne Interesse an Engeln weist auf die Sehnsucht nach einer tieferen Wirklichkeit für die Menschen.  Die Gefahr wie sie in Esoterikbüchern heute zu finden ist, besteht darin,  allzu genau und neugierig  wissen zu wollen, was Engel sind. Dort, wo wir sie aus dem schwebenden Raum  herausnehmen, wird klar: Engel lassen nicht über sich verfügen und wo wir sie festhalten wollen, fliegen sie weg.

„IHR SEHT SIE NICHT/Ihr Ungeübten, die in den Nächten/nichts lernen./Viele Engel sind euch gegeben/Aber ihr seht sie nicht.“ (Nelly Sachs)

Die Dichterin Nelly Sachs weist uns darauf hin, dass eine Offenheit für die Traumwelt, für das, was unterhalb des Tagesgeschehens und hellen Bewusstseins liegt, notwendig ist, damit wir  Engel wahrnehmen und uns  von ihnen berühren  lassen können. Schon in der Bibel gilt der Engel als Bote Gottes,  dessen Aufgabe es ist, die heilende und liebende Nähe Gottes  zu den Menschen zu bringen und ihn auf seinen Weg zu beschützen. ( vgl. dazu ausführlicher: Anselm Grün, Andreas Felger, Engel, Bilder göttlicher Nähe, Aquarelle und Meditationen, Freiburg im Br. 2004)

Gott schickt seine Engel in die Alltagssituationen der Menschen. Dort, wo jemand in Not ist, aussichtslos in der Enge, allein,  isoliert oder überfordert. Engel treten in unser Leben, öffnen unser Ohr,  verwandeln Festgefahrenes,  machen uns „sehend“, halten unser brüchiges und bedrohtes Selbst zusammen. Immer widerfährt dabei dem Menschen etwas, was heilend und helfend auf ihn einwirkt. Engel als geschaffene geistige Wesen können durch eigene seelische Kräfte, durch andere Menschen  und in Träumen zu uns kommen.

Anselm Grün erzählt von einer Frau, die nie daran glauben konnte, dass Gott sie liebt und gern hat trotz der vielen Predigten, die sie darüber gehört hat. Da träumte sie davon, dass eine Stimme zu ihr sprach: „Du bist meine geliebte Tochter..“ Das im Traum gehörte Wort war dadurch für sie  zur inneren erlebten Wirklichkeit geworden. (vgl. Anselm Grün, Jeder Mensch hat einen Engel, Freiburg im Breisgau 1999, S.14)

(Engelswache, Acryl auf Leinwand, 80cm Höhe x 60cm Breite von Schädlich-Buter)

Statt immer weiter in den Verletzungen der Kindheit und in den Wunden des Ungeliebtseins zu bohren, kann es sehr sinnvoll sein, nach „Engelsspuren“ (A.Grün) in meinem Leben Ausschau zu halten. Wo war ich trotz aller Kränkungen ganz  bei mir? Wo spielte ich selbstvergessen? Was waren meine Lieblingsorte?….

Immer sagen die Engel, dass Gott nahe ist und wir eingehüllt werden in seine heilende und  liebende Gegenwart. Rose Ausländer sagt im Gedicht „Engel in dir“:  „Aus seinen Flügeln rauschen/ Liebesworte/ Gedichte Liebkosungen// – für diese oft verschüttete tiefere Wirklichkeit einer alles durchströmenden Liebe sind die Engel als Boten „engagiert.“

Literatur zur Vertiefung:

Nelly Sachs , Gedichte , Frankfurt am Main 1977

 Anselm Grün, Jeder Mensch hat einen Engel, Freiburg im Breisgau 1999

Anselm Grün, Andreas Felger, Engel, Bilder göttlicher Nähe, Aquarelle und Meditationen, Freiburg im Br. 2004

Ingrid Riedel, Engel der Wandlung, Freiburg im Br. 2000

Zum Nachdenken:

Wo in meinem Leben sind mir Menschen wie „Engel“ zur Seite gestanden?

Wo gab und gibt es “ Engelsspuren“  in meinem Leben ?

Stay with me

„Wie ich in einem New Yorker Taxi durch eine Glasscheibe vom Fahrer getrennt bin, so bin ich auch im Leben von Gott getrennt: Beide sind wir unberührbar, und trotzdem bewegen wir uns in dieselbe Richtung.

Durch die Scheibe kann man sich nicht unterhalten. Ich dachte mir: Wenn das Gebet ein Gespräch mit Gott ist, dann bin ich unkommunikativ geworden, asozial, ungesellig, zänkisch. Ich spreche so selten mit ihm, dabei hätte ich ihm soviel zu sagen. Und soviel, worum ich ihn bitten würde.

Gott und ich schlafen tatsächlich schon seit Jahren in getrennten Betten. Manchmal vergesse ich, daß er überhaupt existiert, und wenn ich es schon vergesse, dann vergißt Er es höchstwahrscheinlich auch….“ (von Lidija Dimkovska, Stay with me, stay with me, aus dem Makedonischen von Alexander Sitzmann)

„stay with me“-Engel

(„stay with me“, Acryl auf Leinwand von Gustav Schädlich-Buter)

In Ihrem Essay „Stay with me“ (Bleib bei mir) aus dem der abgedruckte Text stammt, drückt die makedonische Lyrikerin Lidija Dimkovska (Jahrgang 1971), sie gilt als wichtigste Vertreterin der jungen mazedonischen Literatur und erhielt zahlreiche Literaturpreise ) das Empfinden vieler Suchender aus, die Gott nicht ganz lassen wollen oder können und zugleich an seiner Abwesenheit in der Welt insgeheim leiden.

Dimkovska beschreibt in ihrer Metapher von der Taxifahrt einen „Gott auf Abstand“, einen, den man als fragendes, suchendes und geistiges Wesen zwar nicht ganz abschütteln kann, der irgendwie zumindest als Frage, als Wort, als Suchbewegung die eigene Lebensfahrt begleitet , aber zu dem man auch nicht richtigen Kontakt bekommt; immer sei diese Trennscheibe zwischen Mensch und Gott , sagt die Lyrikerin, in Ihrem Vergleich. Es gäbe soviel, worum man Ihn bitten möchte und was man ihn zu fragen hätte, aber es kommt kein richtiges Gespräch in Gang.  Kein Hin und Her der Worte, keine lebendiger Kontakt, so dass die Beziehung schließlich droht ganz einzuschlafen  und man einander vergisst.  „Beide sind wir unberührbar. “Es bleibt unklar, wer auf Abstand geht?

Bei Dimkovska steht nicht die Verzweiflung und der rebellische Widerstand gegenüber  einem unverständlichem Gott im Vordergrund; die Ablehnung eines Gottes,  der angesichts der Leiden und Qualen unschuldiger Menschen  trotz inniglicher Gebete und lauter Hilfeschreie schweigt und nicht eingreift wie es literarisch auf einmalige Weise von Albert Camus in seinem  Roman „Die Pest“ beschrieben wurde.

Ein Prozess, der auch kein Aufatmen ist angesichts einer Gottlosigkeit wie es ein  euphorischer Atheismus nahelegt  nach dem Motto „Endlich sind wir den Alten los!“.

Die Dichterin beschreibt eher eine schleichend, langsame Entfremdung so als ob die Beziehungsfäden immer dünner würden und schließlich ganz reißen. Dimkovska beschreibt eher einen schleichenden Prozess, bei dem man sich womöglich irgendwann gar nichts mehr zu sagen hat.

Es ist eher ein trauriges Bedauern angesichts einer sich auflösenden Liebesbeziehung. Immer seltener würden, so Lidija Dimkovska, die Menschen nach IHM sich sehnen, IHN suchen, IHN berühren wollen. Es fehlen in dieser Welt auch die Erinnerungszeichen, die die Suche und vielleicht sogar die Sehnsucht in dieser Beziehung wachhielten. Deshalb macht sich die die Dichterin ein „Kreuzchen“ auf die Brust, „damit nur Er mich bemerkt.“

Doch es scheint zum Wesen Gottes zu gehören, dass ER eben nicht greifbar und fassbar ist wie eine Götterstatue; dass er sich immer wieder unserem Begreifen entzieht und niemand endgültig sagen kann: „Ich hab dich“. Allzu große menschliche Sicherheit verdunkelt ja eher die Größe des Geheimnisses.

Der Text von Lidija Dimkovska stellt dem Leser die persönliche Frage:

Wie steht es mit Deiner Gottesbeziehung ?

Hast Du, aus welchen Gründen auch immer, Gott ad acta gelegt?

Oder  geht es dir wie der Taxifahrerin, die Gott und Leben nicht wirklich zusammenbringt?

Oder steckt da noch eine tiefe, womöglich verborgene, Sehnsucht in Dir von Gott bemerkt zu werden? …….

Hallelujah- in memoriam Leonhard Cohen

Eines der bekanntesten Lieder des Songpoeten Leonhard Cohen (gestorben am 7.11.2016) trägt den Titel Hallelujah. Dieses Wort stammt aus dem hebräischen und ist zusammengesetzt aus den Worten „halel“, was verherrlichen bedeutet und „jah“, was für den Gottesnamen Jahwe steht, den fromme Juden nicht aussprechen dürfen. Hallelujah bedeutet also so viel wie Gott anbeten, ihn verherrlichen oder lobpreisen, manchmal wiedergegeben mit „Preiset den Herrn“ Auch im Christentum wurde Hallelujah unübersetzt übernommen.

Der Kanadier Leonhard Cohen wurde 1934 als Sohn einer aus Litauen eingewanderten jüdischen Familie geboren. Cohen hat seine Zugehörigkeit und Affinität zum jüdischen Glauben,– sein Ur-Großvater Lazarus war Vorsteher einer Synagogengemeinde, seine Mutter Masha Tochter eines Talmudgelehrten-, nie versteckt, woran auch längerer ein Aufenthalt in einem buddhistischen Zen-Kloster in Kalifornien nichts änderte. Viele seiner Lieder haben einen Bezug zum Judentum wie „Who by fire“ oder das gerade erwähnte Hallelujah, das von (allzu) vielen gecovert wurde (mehr als einhundert Interpretationen, am bekanntesten Jeff Buckleys Version).  Cohen`s Texte sind poetisch und vieldeutig, sie entziehen sich einer  eindeutigen Festlegung. Dies betrifft auch die Gottesvorstellung. Der gläubige Jude Leonhard Cohen weiß nämlich um die Unennbarkeit des Gottesnamens. Aber auch die biblischen Gestalten sind Cohen vertraut. Schon in seinem Gedicht „Before the story“, im zweiten Lyrikband „The Spice- Box of Earth“ von 1961 taucht König David, der Musiker und Frauenfreund, als sein Idol auf.

Der Text der ursprünglichen Version von Hallelujah auf dem Album Various Positions (1984) beginnt auch gleich mit einem Bezug zu König David aus dem Alten Testament, der viele seiner Psalmen mit Halleluja eröffnet hat.  Cohen konnte sich mit jenem sagenhaften König identifizieren, auch mit dessen Scheitern, Fehlern und menschlichem Versagen.(siehe die Geschichten von David und Betsheba in der 2.Strophe von Hallelujah; ), „Fehler“ , die er ebenfalls in seinem eigenen Leben wiederfinden kann.Doch am Ende jeder Strophe steht das Hallelujah, und am Ende jeden Lebens könnte man folgern, tragen wir unser ganzes  Leben mit allem Auf und Ab, Dur und Moll, Gelingen und Versagen, Siegen  und Niederlagen vor den nicht nennbaren und noch weniger begreifbaren Gott. Cohen hat immer wieder die Auseinandersetzung mit Gott gesucht, auch mit dessen  Schweigen, und Nichteingreifen angesichts der Grausamkeiten und Ungerechtigkeiten dieser Welt. Es ist ein gebrochenes und heiliges Halleluja.

„Du sagst, ich habe den Namen Gottes missbraucht,/dabei kenne ich den Namen noch nicht einmal../Es ist egal, welches Wort du gehört hast: das heilige oder das gebrochene Halleluja“(3.Strophe) Und in der letzten Strophe heißt es: „…Und auch wenn alles schief ging,/Einst stehe ich vor dem Herrn der Lieder/ Mit nichts auf den Lippen als dem Hallelujah//“ (I´ll stand before the Lord of Song with nothing on my tongue but Hallelujah) Die Lebenswunden können zu heiligen Wunden werden, wenn wir es wagen sie vor Gott zu tragen.

Sein Song Anthem (deutsch: Lobgesang) auf dem Album THE FUTURE (1992) thematisiert ebenfalls die grundsätzliche Gebrochenheit dieser Welt, in welcher es nichts Vollkommenes und Perfektes gibt. Überall, ob in der Politik oder im Privaten ist dieser Riss, der alle Bereiche des Lebens durchzieht, zu finden. Niemand kann unschuldig bleiben in dieser gebrochenen Welt und im Laufe des eigenen Lebens.  Wir sind „Vorübergehende“ im Strom der Geschichtemit unseren Bemühungen, die trotz allen Mühens unvollständig bleiben. Doch das soll kein Grund zur Resignation sein.

(Bild, „Der Riss“, Acryl auf Leinwand, von Gustav Schädlich-Buter)

„There is a crack in everywhere, that`s how the light gets in“; (deutsch: Es gibt einen Riss in allen Dingen, aber genau so kommt das Licht hinein). Denn mitten im Riss sieht Cohen auch etwas Gutes: an der Bruchstelle strömt Licht ein, „wo etwas wieder aufersteht“ (so Cohen im Interview) .

Davon kündet auch der christliche Glaube an Ostern: Ein Licht zur Rettung des Menschen und der ganzen Schöpfung, welche der Gebrochenheit und dem Tod nicht das letzte Wort geben will. Kein triumphalistisches, sondern eher ein leises, aber hoffnungsvolles „Hallelujah.“

Impuls zum Nachdenken :

Welche Brüche und schwierigen Stellen in meinem Leben haben zu einem „Neuaufbruch“ geführt?

Wo habe ich in der Dunkelheit meines Lebens ein Licht erlebt?

Literaturempfehlungen :

Sylvie Simmons, I’m your man- Das Leben des Leonard Cohen; aus dem Amerikanischen von Kirsten Borchardt

Fulbert Steffensky, Mut zur Endlichkeit, 2007

Altes Testament, 2 Samuel 11, 1-17;26-27 (Die Geschichte von David und Betsheba)

Eigensinnig sein

Die Zuschreibung „Du bist ein eigensinniger Mensch“, hören die meisten Menschen wohl nicht besonders gern. Denn eigensinnige Menschen gelten, wie uns schon das Wörterbuch belehrt, als „störrisch, trotzköpfig, uneinsichtig, unnachgiebig, starrsinnig , verbohrt oder halsstarrig.“

Doch wäre umgekehrt zu fragen, ob der Eigensinn nicht auch eine gute Eigenschaft ist, in einer Gesellschaft, deren der Mainstream- Themen, -also das, was alle tun, denken, fühlen-, eine mächtige Anziehungskraft besitzen.  Immer gilt es auf der neuesten Welle zu schwimmen oder dort mitzumachen, wo viele sind und was viele tun. Das mag in den meisten Fällen zunächst harmlos sein , ist es aber nicht, wenn Situationen auftreten, in denen humane Grundwerte bedroht sind und echte Gewissensentscheidungen verlangt werden.  Dort sind Überzeugungen gefragt und es wird notwendig, eigensinnig „Ich“ zu sagen oder „mit mir nicht“,  „ statt „alle sagen (und machen) doch“.

Diese wichtige Aufgabe des „Ich“ -sagen – lernens muss eingeübt werden; und darf nicht verwechselt werden mit einem auf den eigenen Vorteil bedachten Egoismus oder mit einem um sich selbst kreisenden Narzissmus.

„Verwickelt im eigenen Ich“, Mischtechnik

„Der moderne Mensch möchte die Freiheit haben, nach seinem eigenen Willen zu handeln, wenn er wüsste, was er will, denkt und fühlt. Aber eben das weiß er nicht.“, erkannte schon 1941 der Psychoanalytiker Erich Fromm. Und der Philosoph Adorno meinte, dass die meisten Menschen schon zu lügen anfangen, wenn sie „Ich“ sagen.

„Ich“ sagen scheint also tatsächlich schwierig, so das sich viele in die gängigen Meinungen und Überzeugungen flüchten. Die Schwierigkeit „Ich“ zu sagen,  merkt man, wenn man aus der Menge heraustreten, sich positionieren und für die eigene Überzeugung einstehen soll; es kann die Karriere kosten , zumindest Konflikte mit sich bringen; noch schwieriger wird es, wenn dadurch nicht bloß der berufliche Aufstieg bedroht ist, sondern das eigene Leben in Gefahr gerät (wie es die frühen Christen erlebt haben oder Widerstandskämpfer im Nationalsozialismus wie Franz Jägerstätter.) Der eigenen Glaubens- oder Gewissensüberzeugung zu folgen, sein Leben für andere zu riskieren oder hinzugeben (man lese die Biografien eines Pater Maximilian Kolbe) mögen radikale Beispiele sein, doch sie zeigen den Unterschied, ob das eigene Leben von einer tieferen Überzeugung getragen ist oder eben nicht, ob ich auf eine tiefere Wahrheit (man mag sie Gott nennen oder anders)bezogen bin oder die „Kaiserstatuen“ (und alle ihre modernen Variationen) anbete.

Sicher, nicht jeder ist zum Märtyrer geboren, und muss es auch nicht sein, aber es gibt schon im Alltag genügend Situationen, wo ich mich fragen kann, bin ich jetzt zu meiner Überzeugung gestanden, war ich um der Wahrheit oder um der Menschen willen, eigensinnig genug oder habe ich jene und dabei mich selbst verraten.

Jedenfalls scheint ein solcher, oft sehr  mühsamer und riskanter Weg lohnender als auf dem Mainstream gängiger Moden und Glaubenssätze sich auszuruhen.

Literatur und Filmempfehlungen:

Christus oder Hitler?: Das Leben des seligen Franz Jägerstätter Gebundene Ausgabe – 1. März 2011 , von Cesare Zucconi (Autor)  (auch interessant für Geschichtsinteressierte)

Leben für Leben – Maximilian Kolbe , Christoph Waltz (Darsteller), Jerzy Stuhr (Darsteller), Krzysztof Zanussi (Regisseur) & 0 mehr Alterseinstufung: Freigegeben ab 12 Jahren Format:

Georg Elser – Er hätte die Welt verändert“,  Format: DVD

Zum Nachdenken:

Wo bin ich einmal für meine Überzeugung eingestanden?

Der Knacks- in memoriam Roger Willemsen

 

„Der Knacks “ lautet ein Buchtitel des Publizisten und Fernsehmoderators Roger Willemsen, der vorallem durch seine einfühlsamen Interviews mit Persönlichkeiten wie Michail Gorbatschow, Jassir Arafat, Madonna und vielen anderen bekannt geworden ist. Willemsen war ein Intellektueller, der sich sozial engagierte, einer, der ganz genau beobachten und beschreiben konnte. Persönlicher Hintergrund und prägendes Erlebnis für sein Buch „Der Knacks“ war die Krebserkrankung und das Sterben seines Vaters , das er als 15 Jähriger miterleben musste.

Der Knacks ist laut Willemsen mehr einer Falte vergleichbar, die im Laufe der Zeit entsteht als einer Narbe aufgrund einer klar festzumachenden Verletzung und ähnelt den Rissen auf einem alten Bild. Der Knacks im Leben ist kein abrupter Übergang , kein traumatischer Riss zwischen Diesseits und Jenseits, zwischen Vorher und Nachher, sondern eher ein unmerklicher Übergang, eine Farbveränderung ins Dunkle, ein Wechsel von Dur in Moll, „ ein Wechsel, der die Instabilität sämtlicher Kategorien verrät, ein Schattenfeld“(Roger Willemsen , Der Knacks, Frankfurt a.M.2008, S.63) , an dessen Horizont irgendwann auch der  Tod auftaucht.

Willemsen frägt in seinem Buch: „Wie kommt die Enttäuschung in das Gesicht des Schwärmers. Wie kommt das Geringschätzige in das Gesicht des Träumers….Wann gewann die Feigheit die Oberhand, wann wandelte sich die Schwäche in Unaufrichtigkeit….Anders gefragt: Wann wurde man nicht, was man hätte sein können…Was breitete sich an der Stelle aus, wo sich ehemals Möglichkeiten zeigten? (Roger Willemsen, Der Knacks, Frankfurt a.M.2008, S.24)

Der Knacks kommt eher lautlos und unmerklich daher, ist ein Bewusstwerdungsprozess, dass etwas zu Ende gegangen ist und nicht mehr so wie vorher ist und sein wird.  Die Zeichen einer Welt, die voller Brüche ist, entdeckt Willemsen zunächst in den „beschädigten“ und versehrten Kriegsheimkehrern, welche die vorindustrielle Dorfidylle seiner Kindheit auflösen oder in der Liebe, die vom Prinzip des Ökonomischen (Vergelten, Aufrechnen, Belohnen) bestimmt wird. „Der Knacks“ findet sich auch dort, wo das  erwartungsvolle kindliche  „Entdecker-Ich“ auf eine Welt stößt, die bereits vollständig entdeckt, aufgespürt und ausgeleuchtet ist.  In späteren Jahren wird dann der angepasste Erwachsene die kraftvolle Kinderphantasie als unreif und lebensfern einstufen, nachdem er sich zuvor mit den übriggebliebenen unentdeckten Resten begnügt, seine Utopien storniert und vor der Realität kapituliert hat (vgl. a.a.O., S. 48f)

Willemsen findet den Knacks aber nicht nur in den persönlichen Biografien, im Altern,  in Enttäuschung, Misstrauen oder Ermüdung, sondern er erkennt ihn wieder in den Lagern von Guantanamo, in den Städten, im 11. September, oder in Armut und Obdachlosigkeit.

(Bild: „Herzbiografie“(Titel), Acryl auf Leinwand von Gustav Schädlich-Buter)

Willemsens Beschreibungen haben etwas Desillusionierendes, Ernüchterndes, auch Resignatives. Seine sehr genauen Skizzen und philosophischen Gedanken können vom Leser erlebt werden wie Asche und Staub, zu der vieles im Leben zerfällt.  Das Lesen seines  Buches kann zu einer Art Aschenerfahrung werden.  Es erinnert mich tatsächlich an das christliche Ritual des Ascheauflegens zu Beginn der Fastenzeit; ein Aschekreuz wird dem Glaubenden auf die Stirn gezeichnet und mit dem Satz verbunden: „Bedenke Mensch dass du Staub bist und zum Staub zurückkehren wirst…“ Ein Grenzen setzender Satz am anderen Pol zur heute gängigen Selbstoptimierung und zur grenzenlosen Steigerungsspirale. Doch das christlichen Ritual endet nicht in der Asche und Vergeblichkeit; es beinhaltet eine Fortsetzung, die in  Willemsen`s Buch  fehlt (und auch nicht angezielt ist): die Hoffnung auf Auferstehung (nicht nur an Ostern),  auf Treue und unverbrüchliche Liebe, auf Heilung der Brüche des Lebens, die Chance auf Erneuerung, der Glaube, dass einst auch die Splitter des Lebens  zusammengefügt werden, und das Vertrauen, dass es mitten im Knacks eine Erleuchtung geben kann. Der Dichter und Sänger  Leonhard Cohen kommt da der christlichen Erfahrung näher, wenn er in seinem Lied  Anthem formuliert: „There´s a crack in everything, that`s how the light gets in. (Ein Riss ist in allen Dingen, aber genau so kommt Licht herein).

Willemsen verzichtet wohl bewusst auf die Möglichkeit einer Transzendierung des Scheiterns und der Lebensbrüche, er will vor sich selbst ehrlich bleiben. Der Trost des Glaubens bleibt dem aus der evangelischen Kirche ausgetretenen Willemsen unzugänglich, auch wenn er sich dieses Mangels sehr bewusst ist :

„Ich habe einmal eine Kinderfrömmigkeit gehabt und innig ge­betet im Bett, aber heute muss ich sagen: Ich wünschte, ich könnte an Gott glauben. Ich denke, dass der glaubende Mensch mit Zuständen der Not besser umgehen kann. Ich fand es grandios, als Margot Käßmann sagte: „Du kannst nie tiefer fallen als in Gottes Hand.“ (Willemsen in Chrismon, das evangelischen Online Magazin) Und an anderer Stelle sagte er: „Ich bin dann aber so weit Rationalist geworden, dass ich mit meiner Vernunft den Glauben nicht mehr in Einklang bringen konnte. Ich würde gerne glauben, aber ich kann nicht. Aber ich respektiere jeden Gläubigen.“(Katholische Nachrichtenagentur, August 2015)

Willemsen starb am7. Februar 2016 im Alter von 60 Jahren völlig unerwartet an den Folgen einer Krebserkrankung.

 

Brücken bauen

Mit einer über 6000 Kilometer langen Mauer (andere Messungen sprechen sogar von über 20.000 km)– heute eine Touristenattraktion- schützte sich das chinesische Kaiserreich schon im 7.Jahrhundert vor den nomadischen Reitervölkern aus dem Norden. Mexico soll jetzt eine Mauer bekommen, 3200 Kilometer lang, 12 Meter hoch, 2,4 Millionen Tonnen Zement sind dafür notwendig und die Kosten belaufen sich auf über 20 Milliarden Euro Demgegenüber ist die 155 Kilometer langen „Mauer“, die Deutschland Ost und West trennte, scheinbar eher klein . Doch viel Leid entstand durch diese „Mauer“, die Familien  auseinander riss und Menschen, die zusammen gehörten, voneinander isolierte.

Mauern sollen schützen, die Verbrecher und das „Böse“ abhalten, Sicherheit schenken. Doch womöglich wird es eine der wichtigsten Fragen für Zukunft der Menschheit  eine andere sein, nämlich: Wie lassen sich Mauern und Gräben überwinden?

Mauern existieren nicht nur physisch- materiell-zementiert  wie an der früheren deutsch-deutschen Grenze, sondern auch innerlich und mental . Wie lassen sich Mauern und Gräben überwinden? Die Mauern zwischen verfeindeten Ländern, zwischen arm und reich, zwischen jung und alt, schwarz und weiß, zwischen Eliten und „Unterschichten“ ….? Wie lassen sich geistige „Mauern“ in den Köpfen und Herzen der dominierenden Mehrheitsgesellschaft überwinden, die in Form von Vorurteilen, mentalen Blockaden und festen Meinungen Minderheiten ausschließen? Behinderte Menschen, andere Randgruppen oder Flüchtlinge können ein Lied davon singen. Wie lassen sich Brücken bauen zwischen unterschiedlichen Kulturen und Religionen , zwischen verschiedenen politischen Systemen?  Wie lässt sich eine Sprachbrücke finden zwischen Säkularen und Religiösen, zwischen unterschiedlichen Konfessionen, zwischen Tradition und Moderne?

Brücke auf dem Jakobsweg nach Santiago de Compostela

Nur ein Beispiel, das für mich einen hohen symbolischen Wert hat  für die Überwindung von Trennendem hat. Im Nordosten Indiens werden durch den Sommermonsun die sonst sanften Flüssen dieser Bergwelt zu reißenden Wildwassern, welche die unterschiedlichen Teile der Bergwelt und die dort lebenden Menschen voneinander trennen. Diese Menschen haben aber eine geniale Methode des Brückenbaus entwickelt. In einem Doku- Film der BBC wird gezeigt wie ein Mann seiner 10 jährigen Nichte zeigt wie die Luftwurzeln einer Würgefeige am Rand eines Flusses, die er selbst vor 30 Jahre gepflanzt hat, über den das tiefe Flussbett geleitet werden müssen, dass daraus eine natürliche Brücke entstehen kann. An einer solchen Brücke, welche selbst die reißenden Fluten  nichts anhaben können , müssen immer mehrere Generationen arbeiten; viele dieser Wurzelbrücken sind schon sehr alt und können viele hundert Jahre weiterwachsen, wenn sie sorgsam gepflegt und behandelt werden. Dies ist ein Brückenbau, der einen langen Atem, viel Geduld und achtsame Behandlung des  Baumes voraussetzt, aber vielen Generationen als Verbindung dienstbar ist.

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Auch in unserer Gesellschaft finden wir solche Brückenbauer. Menschen, die sich in der Flüchtlingsarbeit engagieren, die sich für bessere Bedingungen und mehr Verständnis für behinderte Menschen und gesellschaftliche Randgruppen einsetzen, die sich im Friedensprozess zwischen verfeindeten Ländern mühen, die Hilfsprojekte für Menschen in ärmeren Länder ideell und finanziell unterstützen, oder sich im Dialog der Religionen mühen, sind für mich Brückenbauer. Sie alle brauchen einen langen Atem und dürfen sich durch Rückschläge nicht entmutigen lassen.

Wer über Brücken geht, wird bereichert und gewinnt neue Horizonte. Davon können all jene junge Menschen erzählen, die in einem fremden Land (Afrika, Lateinamerika..)oder auch einer Behinderteneinrichtung einen sozialen Einsatz gewagt haben.

Wenn es im Psalm 18,30 heißt „Mit meinem Gott überspringe ich Mauern“, so steckt darin ein Impuls, die Mauern in meinem Leben und meinen Beziehungen ausfindig zu machen und zu überwinden. Dazu ist nicht körperliche Sprungkraft notwendig, sondern eine geistige Kraft. Jede und jeder von uns kann sich auch in seinen täglichen Begegnungen fragen, ob er gerade eine Brücke zum anderen baut oder eine Mauer hochzieht.

Fragen zum Nachdenken:

Welche Mauern oder welchen Graben finde ich in meinem eigenen Leben wieder?

Suche ich eher das Verbindende und Einschließende oder neige ich eher dazu, das Trennende das Unterscheidende zu betonen?

Wo kann ich mich einbringen, so dass Grenzen, Misstrauen und zwischenmenschliche Mauern abgebaut werden?

Gnade- umsonst geliebt

 

„Durch Gottes Gnade bin ich, was ich bin…“(1 Kor 15, 10), diese Sätze des Apostels Paulus sprechen heute den wenigsten Zeitgenossen aus dem Herzen. Denn  der moderne Mensch ist von einem Selbstverständnis geprägt, das sich der eigenen Leistung, der eigenen Kraft und der eigenen Sinnstiftung verdankt: „Ich bin, was ich leiste“, „Ich bin, was ich mir verdient habe“…

Für nicht wenige aber ist die von der Gesellschaft geforderte Lebensleitung inzwischen zum Fluch geworden: „Es ist zuviel- einfach zuviel!“, sagt mancher. Der vielen zugemutete Dauerstress beschleunigt das Leben in bislang nicht gekannten Ausmaßen,  und führt dazu, dass wir wie Getriebene nie zur Ruhe und Entspannung finden.  Oft genug findet die Gnade keinen Raum in uns.

Wir haben verlernt, was es heißt aus der Gnade zu leben. Wir wollen uns auch nichts schenken lassen, denn da könnte ja schnell die Gegenrechnung gestellt werden.

Auch ein Gott, der aus Nichts und für nichts liebt und bejaht- unbedingt, umsonst, grundlos-, ist uns suspekt. Unsere Welt ist doch so anders. Wir sind gewohnt für Leistung etwas zu bekommen, unser Ansehen zu verdienen und Geschenke „heim“- zu- zahlen. Aber Gott will nichts von mir, weil er nichts von mir braucht. Er fordert keine Gegenleistung dafür, dass er mir das Leben geschenkt hat.

Das Wort Gnade– griechisch charis, lateinisch gratia, althochdeutsch ganada- bedeutet Wohlwollen, Gunst, Huld; es bezeichnet alles, was nicht machbar und erleistbar ist: Anmut, Schönheit, Dankbarkeit, Liebenswürdigkeit….das Wesentliche des Lebens ist „umsonst“ (gratuite), reines Geschenk.

Ein Blick auf die Schöpfung kann uns diese Wahrheit verdeutlichen: grundlos aufblühende Schönheit und  Anmut in jeder Blume, ihr Duft, der mich entzückt, grundlos ausgedrückte  Freude im Gesang der Vögel,… eine Fülle des Lebens ohne Warum, ohne Zweck, rein aus Gnade, einfach da. In der Bergpredigt empfiehlt Jesus das Glück des Daseins von den Vögeln und den Blumen zu lernen.

Vieles wird mir geschenkt, die liebevolle Begegnung, die glückliche Fügung, die Inspiration, die mehr ist als meine Gehirnleistung, der Trost, wenn ich traurig bin, die Hoffnung, um neu zu beginnenIch  selbst bin ein Geschenk an die Welt.  Aus Gnade leben ist das Gegenkonzept zum modernen Selbstverständnis ausschließlich von der eigenen Stärke und eigenmächtigen Leistung zu leben und sich sein  Leben verdienen zu müssen. Ich darf „spielen“ mit Worten und Farben:

(Foto von Gustav Schädlich-Buter)

Gnade beinhaltet die Erfahrung,  aus der Dimension der Liebe zu leben.

Bernardin Schellenberger erinnert daran in einer Meditation: :

Ich bin nicht für irgendetwas da

sondern ich bin ganz einfach da,

um meiner selbst willen.

Weil es meinem Schöpfer gefallen hat,

mich zu schaffen,

ausgerechnet mich,

genau so, wie ich bin.

….Ich bin,

weil Gott will, dass ich bin.

Aus keinem anderen Grund.

(B. Schellenberger, in: B. Schellenberger, Spielen)

Impuls:

Schenken Sie sich einen Tag, an dem Sie nichts leisten müssen und mit offenen Sinnen  und einem wachen Geist einfach geschehen lassen, was geschieht (an Begegnungen, Eindrücken, Einsichten, Inspirationen…)

Literatur zur Vertiefung:

Bernardin Schellenberger, Einübung ins Spielen, Münsterschwarzach 1980

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Ansehen heilt

Oft genug stehen wir Menschen beim Blick in den Spiegel vor dem verurteilenden Gericht unserer eigenen Augen: verloren, verängstigt und eingeschüchtert.  Wir fühlen uns womöglich  als Versager auf der ganzen Linie, als gescheiterte Existenzen, als „Looser“, die es zu nichts gebracht haben.

Blicke, auch die eigenen, die nicht zum Guten und Positiven des eigenen Selbst vordringen, können kleinmachen, entwerten, zerstören, sogar vernichten. Wie wir uns selbst anschauen und wie wir angeschaut werden spielt bis ins Innerste unserer Seele hinein, zum Guten und zum Schlechten. „Ich schaue nicht mehr so viel in den Spiegel; denn die Augen mit denen man sich selber anschaut, sind nicht die Augen, in denen man am besten aufgehoben ist“, sagt die Schauspielerin Hanna Schygulla. Der Blick, der uns anklagt und dem wir erbarmungslos ausgesetzt sind, trifft uns eher und wir glauben ihm schneller als dem Blick der Güte, der uns birgt und rettet.

Gott sei Dank, gibt es ein Angeschaut-werden, das uns aus der Vereinsamung befreit und herausholt aus dem Erleben, wertlos, nichtsnützig und unwürdig zu sein.

Schon in der Bibel hören wir davon, dass ein liebevolles Anschauen Menschen heilen und wandeln kann: Zachäus, ein Gauner, klein von Gestalt und geldgierig, so lesen wir im Lukasevangelium (Lk 19,1-10), wird von Jesus so angeschaut, dass er sein Leben ändert und das begangene Unrecht wieder gutmacht. Das Besondere an dieser Geschichte ist, dass das moralische Handeln – Zachäus zahlt das ergaunertes Geld zurück- eine Folge davon ist, dass sich dieser kleine Mann, der sich durch Geld wichtig machen will, durch Jesu Blick gänzlich  angenommen weiß.

(Foto: Gustav Schädlich-Buter/ Busfahrt in Tansania)

Wer liebevoll angeschaut wird, verliert seine Scham und wird gestärkt in seinem Selbstwert. Umgekehrt tut sich jemand, der als Kind nicht genügend An-sehen bekommen hat, schwer einen soliden Stand in sich zu finden. Und so muss er dann oft ein Leben lang um dieses Ansehen, das Selbstwert „schenkt“, kämpfen ohne jemals an sein Ziel zu kommen. (vgl dazu die Narzißmusproblematik wie sie z.B. die Psychologen  Kohut oder Donald Winnicott darlegen)

Wir Menschen können unsere Schönheit und Würde im gütigen, liebevollen und erbarmenden Blick des anderen Menschen und im Blick Gottes erkennen. Ein Blick, der uns entgegen eigener vernichtender Selbsteinschätzung, unsere  Einmaligkeit und Würde zurück-spiegelt, kann uns heilen. Nichts kann unser Leben retten außer ein Blick der Liebe, den ich mir niemals erleisten kann, sagt der Theologe F.Steffensky. Im Gebet liefere ich mich diesem Blick der Güte aus, der auf mir ruht.

Impuls:

Nehmen Sie sich etwas Zeit und überlegen Sie , welche Personen Ihnen Wert und Würde geschenkt haben.

Schenken sie sich selbst  Ansehen und schauen Sie mit einem gütigen Blick auf ihr Leben. Schreiben Sie auf, was Sie an sich wertschätzen.

Überlegen Sie, wem Sie heute wertschätzend begegnen wollen.

Literatur zur Vertiefung :

Fulbert Steffensky, Der alltägliche Charme des Glaubens, Würzburg 2002