„Zeitdiebe“- in memoriam Michael Ende

Immer wieder haben sich Philosophen, Schriftsteller und Künstler Gedanken gemacht über die Zeit. „Was ist also die Zeit?“ Bekannt ist der Ausspruch des Kirchenvaters Augustinus: „Wenn mich niemand danach frägt, weiß ich es, wenn ich es aber einem, der mich fragt, erklären sollte, weiß ich es nicht!“ (Confessiones XI, 14)

Foto Melchior Buter

Doch das Nachdenken über die Zeit ist nicht bloß ein abstraktes theoretische Problem von Philosophen oder Physikern. Mein persönlicher Umgang mit der Zeit hat ganz praktische Auswirkungen. Menschen, die von Burnout gefährdet sind, erleben die Zeit oft als Feind und sagen: „Die Zeit frißt mich auf.“ Sie haben das Gefühl, das die zur Verfügung stehende Zeit niemals ausreicht, um alle Aufgaben und Erwartungen zu erfüllen. Der Zeitdruck engt sie immer mehr ein, sie fühlen sich gehetzt und getrieben und kommen nie zur Ruhe. Es fehlt die Zeit für sich selbst und für die zwischenmenschlichen Beziehungen.(vgl. dazu Anselm Grün, Kraftvolle Visionen gegen Burnout und Blockaden, Freiburg im Breisgau 2012, S.151-154)

Schon 1973 hat Michael Ende dieses Problem sehr hellsichtig aufgegriffen. In seinem wundervollen Märchen- Roman Momo, der 1974 mit dem Jugendbuchpreis ausgezeichnet wurde, spielt sich ein dramatischer Kampf ab. Hauptfigur ist Momo, ein besonderes, kleines Mädchen ohne Eltern -, das nichts besitzt außer das, was sie an lumpigen Kleidern am Leib trägt. Sie taucht plötzlich in irgendeiner südeuropäischen Stadt auf und richtet sich in der Ruine eines Amphitheaters ein. Sie ist der Welt zugewandt und kann wunderbar zuhören. Sie schenkt den Menschen Zeit- Lebenszeit- und tut allen gut. Doch plötzlich taucht ein grauer Schatten über der Stadt auf: die „grauen Herren“- Agenten der Zeitsparkasse – haben sich unbemerkt von den Bewohnern in der ganzen Stadt ausgebreitet.

Sie erklären den Menschen, wieviel Zeit sie sparen können, wenn sie angeblich nutzlose Tätigkeiten aus ihrem Leben streichen. So erklärt ein Zeitagent XYQ/384/b Herrn Fusi, einem Mann mit einem kleinen Frisörladen:

„´Sehen sie lieber Herr Fusi`, sagte der Agent, ´Sie vergeuden Ihr Leben mit Scherengeklapper, Geschwätz und Seifenschaum Wenn sie einmal tot sind, wird es sein, als hätte es Sie niemals gegeben…Alles was sie benötigen ist Zeit.“ Zeit, so der graue Herr, um das richtige Leben zu führen und diese Zeit muss eingespart werden. Der Zeitagent rechnet Herrn Fusi vor, wo jener Zeit einsparen kann, um diese dann auf der Zeitsparkasse einzuzahlen: „.. Sie leben allein mit Ihrer alten Mutter, wie wir wissen. Täglich widmen Sie der alten Frau eine volle Stunde , das heißt, sie sitzen bei ihr und sprechen mit ihr, obgleich sie taub ist und sie kaum hört. Es ist also hinausgeworfene Zeit.: macht fünfundfünfzigmillionenhundertachtundachtzigtausend. Ferner, haben Sie überflüssigerweise einen Wellensittich, dessen Pflege Sie täglich eine Viertelstunde kostet, das bedeutet umgerechnet dreizehnmillionensiebenhundert- siebenundneunzigtausend….“ (Michael Ende, Momo, Stuttgart 1973, vgl. S.58 f. )

Und der graue Herr fährt fort, alles Überflüssige dieses Lebens –  Gesangsverein, die Freunde, Fräulein Daria,….- vorzurechnen, wobei es Herrn Fusi immer kälter ums Herz wird. Die ganze verschwendete Lebenszeit, die vom Zeitagenten auf dem Frisörspiegel als Rechnung festgehalten wird, lässt den kleine Frisör erschaudern. Schließlich führt die vernichtende Lebensbilanz des Zeitagenten Herrn Fusi dazu, alle scheinbar „unnützen“ Interessen aufzugeben. Über seinen Laden schreibt er das Motto: „Gesparte Zeit ist doppelte Zeit.“

Die kleine Momo nimmt im Roman Michel Ende`s nun den Kampf auf gegen die gespenstische Gesellschaft der grauen Herren, welche die Menschen der Stadt veranlassen, immer mehr Zeit zu sparen. Dadurch aber werden die Menschen immer hektischer, gefühlskälter, oberflächlicher und egoistischer; ihre Tage werden kürzer und ihre Arbeit hastiger. Die grauen Herren, so wird Momo von Meister Hora, dem Verwalter der Zeit, aufgeklärt, das sind keine menschlichen Wesen, sondern Mächte, von denen sie sich beherrschen lassen.

Die „Stunden-Blumen“ stehen im Roman Michel Ende`s symbolisch für die Lebenszeit, die in den Herzen der Menschen wächst. Die grauen Herren stehlen sie und drehen aus den getrockneten Blätter ihre Zigarren, durch welche sie sich am Leben halten

Michael Ende`s Roman geht letztlich gut aus und Momo gewinnt den Kampf gegen die Zeitagenten.. Doch sein Buch liest sich auch wie eine Warnung, sich nicht von den gespenstischen Zeitdieben in unserem eigenen Inneren oder in den Strukturen der gegenwärtigen Wirtschaft blenden lassen.

Gerade wer im Beruf viel Verantwortung hat, braucht Zeit, die ihm gehört. Eine heilige Zeit, in welche keine Erwartungen oder Forderungen von außen stören dürfen. Ein Zeit, in der ich, ich selbst sein kann. Eine Zeit, in der ich ganz da sein kann für Freunde oder Familie. Eine Zeit, in welcher die „leise und doch gewaltige Musik“ der Schöpfung, die im Roman durch das Auftauchen der grauen Herren plötzlich verstummt, wieder vernehmbar und hörbar sein wird.

„ Es ist also hinausgeworfene Zeit..“- ja aus Liebe zum Menschen, zur eigenen Seele und zur Bewahrung der Schöpfung hinausgeworfene Zeit!

Fragen zum Nachdenken:

Wofür nehme ich mir Zeit?

Habe ich freie Zeit, die nur mir gehört und wo ich mich nicht unter Druck setze? (z.B. ein unumstößlicher „heiliger Termin“ in der Woche z.B.)

Habe ich Zeit für andere, die nicht verzweckt ist? (für Nachbarn, für ein ehrenamtliches Engagement, für Kreatives…..)