„Zeitdiebe“- in memoriam Michael Ende

Immer wieder haben sich Philosophen, Schriftsteller und Künstler Gedanken gemacht über die Zeit. „Was ist also die Zeit?“ Bekannt ist der Ausspruch des Kirchenvaters Augustinus: „Wenn mich niemand danach frägt, weiß ich es, wenn ich es aber einem, der mich fragt, erklären sollte, weiß ich es nicht!“ (Confessiones XI, 14)

Foto Melchior Buter

Doch das Nachdenken über die Zeit ist nicht bloß ein abstraktes theoretische Problem von Philosophen oder Physikern. Mein persönlicher Umgang mit der Zeit hat ganz praktische Auswirkungen. Menschen, die von Burnout gefährdet sind, erleben die Zeit oft als Feind und sagen: „Die Zeit frißt mich auf.“ Sie haben das Gefühl, das die zur Verfügung stehende Zeit niemals ausreicht, um alle Aufgaben und Erwartungen zu erfüllen. Der Zeitdruck engt sie immer mehr ein, sie fühlen sich gehetzt und getrieben und kommen nie zur Ruhe. Es fehlt die Zeit für sich selbst und für die zwischenmenschlichen Beziehungen.(vgl. dazu Anselm Grün, Kraftvolle Visionen gegen Burnout und Blockaden, Freiburg im Breisgau 2012, S.151-154)

Schon 1973 hat Michael Ende dieses Problem sehr hellsichtig aufgegriffen. In seinem wundervollen Märchen- Roman Momo, der 1974 mit dem Jugendbuchpreis ausgezeichnet wurde, spielt sich ein dramatischer Kampf ab. Hauptfigur ist Momo, ein besonderes, kleines Mädchen ohne Eltern -, das nichts besitzt außer das, was sie an lumpigen Kleidern am Leib trägt. Sie taucht plötzlich in irgendeiner südeuropäischen Stadt auf und richtet sich in der Ruine eines Amphitheaters ein. Sie ist der Welt zugewandt und kann wunderbar zuhören. Sie schenkt den Menschen Zeit- Lebenszeit- und tut allen gut. Doch plötzlich taucht ein grauer Schatten über der Stadt auf: die „grauen Herren“- Agenten der Zeitsparkasse – haben sich unbemerkt von den Bewohnern in der ganzen Stadt ausgebreitet.

Sie erklären den Menschen, wieviel Zeit sie sparen können, wenn sie angeblich nutzlose Tätigkeiten aus ihrem Leben streichen. So erklärt ein Zeitagent XYQ/384/b Herrn Fusi, einem Mann mit einem kleinen Frisörladen:

„´Sehen sie lieber Herr Fusi`, sagte der Agent, ´Sie vergeuden Ihr Leben mit Scherengeklapper, Geschwätz und Seifenschaum Wenn sie einmal tot sind, wird es sein, als hätte es Sie niemals gegeben…Alles was sie benötigen ist Zeit.“ Zeit, so der graue Herr, um das richtige Leben zu führen und diese Zeit muss eingespart werden. Der Zeitagent rechnet Herrn Fusi vor, wo jener Zeit einsparen kann, um diese dann auf der Zeitsparkasse einzuzahlen: „.. Sie leben allein mit Ihrer alten Mutter, wie wir wissen. Täglich widmen Sie der alten Frau eine volle Stunde , das heißt, sie sitzen bei ihr und sprechen mit ihr, obgleich sie taub ist und sie kaum hört. Es ist also hinausgeworfene Zeit.: macht fünfundfünfzigmillionenhundertachtundachtzigtausend. Ferner, haben Sie überflüssigerweise einen Wellensittich, dessen Pflege Sie täglich eine Viertelstunde kostet, das bedeutet umgerechnet dreizehnmillionensiebenhundert- siebenundneunzigtausend….“ (Michael Ende, Momo, Stuttgart 1973, vgl. S.58 f. )

Und der graue Herr fährt fort, alles Überflüssige dieses Lebens –  Gesangsverein, die Freunde, Fräulein Daria,….- vorzurechnen, wobei es Herrn Fusi immer kälter ums Herz wird. Die ganze verschwendete Lebenszeit, die vom Zeitagenten auf dem Frisörspiegel als Rechnung festgehalten wird, lässt den kleine Frisör erschaudern. Schließlich führt die vernichtende Lebensbilanz des Zeitagenten Herrn Fusi dazu, alle scheinbar „unnützen“ Interessen aufzugeben. Über seinen Laden schreibt er das Motto: „Gesparte Zeit ist doppelte Zeit.“

Die kleine Momo nimmt im Roman Michel Ende`s nun den Kampf auf gegen die gespenstische Gesellschaft der grauen Herren, welche die Menschen der Stadt veranlassen, immer mehr Zeit zu sparen. Dadurch aber werden die Menschen immer hektischer, gefühlskälter, oberflächlicher und egoistischer; ihre Tage werden kürzer und ihre Arbeit hastiger. Die grauen Herren, so wird Momo von Meister Hora, dem Verwalter der Zeit, aufgeklärt, das sind keine menschlichen Wesen, sondern Mächte, von denen sie sich beherrschen lassen.

Die „Stunden-Blumen“ stehen im Roman Michel Ende`s symbolisch für die Lebenszeit, die in den Herzen der Menschen wächst. Die grauen Herren stehlen sie und drehen aus den getrockneten Blätter ihre Zigarren, durch welche sie sich am Leben halten

Michael Ende`s Roman geht letztlich gut aus und Momo gewinnt den Kampf gegen die Zeitagenten.. Doch sein Buch liest sich auch wie eine Warnung, sich nicht von den gespenstischen Zeitdieben in unserem eigenen Inneren oder in den Strukturen der gegenwärtigen Wirtschaft blenden lassen.

Gerade wer im Beruf viel Verantwortung hat, braucht Zeit, die ihm gehört. Eine heilige Zeit, in welche keine Erwartungen oder Forderungen von außen stören dürfen. Ein Zeit, in der ich, ich selbst sein kann. Eine Zeit, in der ich ganz da sein kann für Freunde oder Familie. Eine Zeit, in welcher die „leise und doch gewaltige Musik“ der Schöpfung, die im Roman durch das Auftauchen der grauen Herren plötzlich verstummt, wieder vernehmbar und hörbar sein wird.

„ Es ist also hinausgeworfene Zeit..“- ja aus Liebe zum Menschen, zur eigenen Seele und zur Bewahrung der Schöpfung hinausgeworfene Zeit!

Fragen zum Nachdenken:

Wofür nehme ich mir Zeit?

Habe ich freie Zeit, die nur mir gehört und wo ich mich nicht unter Druck setze? (z.B. ein unumstößlicher „heiliger Termin“ in der Woche z.B.)

Habe ich Zeit für andere, die nicht verzweckt ist? (für Nachbarn, für ein ehrenamtliches Engagement, für Kreatives…..)

Der „Engel in dir“

Künstler scheinen eine ganz besondere Affinität zu Engeln zu haben: Rainer Maria Rilke, Paul Klee, Marc Chagall, Rose Ausländer, um nur einige zu nennen, schreiben oder malten über Engel.

Bilder und Lyrik haben etwas von der Unverfügbarkeit, die  Engeln eigen ist und die letztlich auf die Unverfügbarkeit Gottes weist. Das moderne Interesse an Engeln weist auf die Sehnsucht nach einer tieferen Wirklichkeit für die Menschen.  Die Gefahr wie sie in Esoterikbüchern heute zu finden ist, besteht darin,  allzu genau und neugierig  wissen zu wollen, was Engel sind. Dort, wo wir sie aus dem schwebenden Raum  herausnehmen, wird klar: Engel lassen nicht über sich verfügen und wo wir sie festhalten wollen, fliegen sie weg.

„IHR SEHT SIE NICHT/Ihr Ungeübten, die in den Nächten/nichts lernen./Viele Engel sind euch gegeben/Aber ihr seht sie nicht.“ (Nelly Sachs)

Die Dichterin Nelly Sachs weist uns darauf hin, dass eine Offenheit für die Traumwelt, für das, was unterhalb des Tagesgeschehens und hellen Bewusstseins liegt, notwendig ist, damit wir  Engel wahrnehmen und uns  von ihnen berühren  lassen können. Schon in der Bibel gilt der Engel als Bote Gottes,  dessen Aufgabe es ist, die heilende und liebende Nähe Gottes  zu den Menschen zu bringen und ihn auf seinen Weg zu beschützen. ( vgl. dazu ausführlicher: Anselm Grün, Andreas Felger, Engel, Bilder göttlicher Nähe, Aquarelle und Meditationen, Freiburg im Br. 2004)

Gott schickt seine Engel in die Alltagssituationen der Menschen. Dort, wo jemand in Not ist, aussichtslos in der Enge, allein,  isoliert oder überfordert. Engel treten in unser Leben, öffnen unser Ohr,  verwandeln Festgefahrenes,  machen uns „sehend“, halten unser brüchiges und bedrohtes Selbst zusammen. Immer widerfährt dabei dem Menschen etwas, was heilend und helfend auf ihn einwirkt. Engel als geschaffene geistige Wesen können durch eigene seelische Kräfte, durch andere Menschen  und in Träumen zu uns kommen.

Anselm Grün erzählt von einer Frau, die nie daran glauben konnte, dass Gott sie liebt und gern hat trotz der vielen Predigten, die sie darüber gehört hat. Da träumte sie davon, dass eine Stimme zu ihr sprach: „Du bist meine geliebte Tochter..“ Das im Traum gehörte Wort war dadurch für sie  zur inneren erlebten Wirklichkeit geworden. (vgl. Anselm Grün, Jeder Mensch hat einen Engel, Freiburg im Breisgau 1999, S.14)

(Engelswache, Acryl auf Leinwand, 80cm Höhe x 60cm Breite von Schädlich-Buter)

Statt immer weiter in den Verletzungen der Kindheit und in den Wunden des Ungeliebtseins zu bohren, kann es sehr sinnvoll sein, nach „Engelsspuren“ (A.Grün) in meinem Leben Ausschau zu halten. Wo war ich trotz aller Kränkungen ganz  bei mir? Wo spielte ich selbstvergessen? Was waren meine Lieblingsorte?….

Immer sagen die Engel, dass Gott nahe ist und wir eingehüllt werden in seine heilende und  liebende Gegenwart. Rose Ausländer sagt im Gedicht „Engel in dir“:  „Aus seinen Flügeln rauschen/ Liebesworte/ Gedichte Liebkosungen// – für diese oft verschüttete tiefere Wirklichkeit einer alles durchströmenden Liebe sind die Engel als Boten „engagiert.“

Literatur zur Vertiefung:

Nelly Sachs , Gedichte , Frankfurt am Main 1977

 Anselm Grün, Jeder Mensch hat einen Engel, Freiburg im Breisgau 1999

Anselm Grün, Andreas Felger, Engel, Bilder göttlicher Nähe, Aquarelle und Meditationen, Freiburg im Br. 2004

Ingrid Riedel, Engel der Wandlung, Freiburg im Br. 2000

Zum Nachdenken:

Wo in meinem Leben sind mir Menschen wie „Engel“ zur Seite gestanden?

Wo gab und gibt es “ Engelsspuren“  in meinem Leben ?

Stay with me

„Wie ich in einem New Yorker Taxi durch eine Glasscheibe vom Fahrer getrennt bin, so bin ich auch im Leben von Gott getrennt: Beide sind wir unberührbar, und trotzdem bewegen wir uns in dieselbe Richtung.

Durch die Scheibe kann man sich nicht unterhalten. Ich dachte mir: Wenn das Gebet ein Gespräch mit Gott ist, dann bin ich unkommunikativ geworden, asozial, ungesellig, zänkisch. Ich spreche so selten mit ihm, dabei hätte ich ihm soviel zu sagen. Und soviel, worum ich ihn bitten würde.

Gott und ich schlafen tatsächlich schon seit Jahren in getrennten Betten. Manchmal vergesse ich, daß er überhaupt existiert, und wenn ich es schon vergesse, dann vergißt Er es höchstwahrscheinlich auch….“ (von Lidija Dimkovska, Stay with me, stay with me, aus dem Makedonischen von Alexander Sitzmann)

„stay with me“-Engel

(„stay with me“, Acryl auf Leinwand von Gustav Schädlich-Buter)

In Ihrem Essay „Stay with me“ (Bleib bei mir) aus dem der abgedruckte Text stammt, drückt die makedonische Lyrikerin Lidija Dimkovska (Jahrgang 1971), sie gilt als wichtigste Vertreterin der jungen mazedonischen Literatur und erhielt zahlreiche Literaturpreise ) das Empfinden vieler Suchender aus, die Gott nicht ganz lassen wollen oder können und zugleich an seiner Abwesenheit in der Welt insgeheim leiden.

Dimkovska beschreibt in ihrer Metapher von der Taxifahrt einen „Gott auf Abstand“, einen, den man als fragendes, suchendes und geistiges Wesen zwar nicht ganz abschütteln kann, der irgendwie zumindest als Frage, als Wort, als Suchbewegung die eigene Lebensfahrt begleitet , aber zu dem man auch nicht richtigen Kontakt bekommt; immer sei diese Trennscheibe zwischen Mensch und Gott , sagt die Lyrikerin, in Ihrem Vergleich. Es gäbe soviel, worum man Ihn bitten möchte und was man ihn zu fragen hätte, aber es kommt kein richtiges Gespräch in Gang.  Kein Hin und Her der Worte, keine lebendiger Kontakt, so dass die Beziehung schließlich droht ganz einzuschlafen  und man einander vergisst.  „Beide sind wir unberührbar. “Es bleibt unklar, wer auf Abstand geht?

Bei Dimkovska steht nicht die Verzweiflung und der rebellische Widerstand gegenüber  einem unverständlichem Gott im Vordergrund; die Ablehnung eines Gottes,  der angesichts der Leiden und Qualen unschuldiger Menschen  trotz inniglicher Gebete und lauter Hilfeschreie schweigt und nicht eingreift wie es literarisch auf einmalige Weise von Albert Camus in seinem  Roman „Die Pest“ beschrieben wurde.

Ein Prozess, der auch kein Aufatmen ist angesichts einer Gottlosigkeit wie es ein  euphorischer Atheismus nahelegt  nach dem Motto „Endlich sind wir den Alten los!“.

Die Dichterin beschreibt eher eine schleichend, langsame Entfremdung so als ob die Beziehungsfäden immer dünner würden und schließlich ganz reißen. Dimkovska beschreibt eher einen schleichenden Prozess, bei dem man sich womöglich irgendwann gar nichts mehr zu sagen hat.

Es ist eher ein trauriges Bedauern angesichts einer sich auflösenden Liebesbeziehung. Immer seltener würden, so Lidija Dimkovska, die Menschen nach IHM sich sehnen, IHN suchen, IHN berühren wollen. Es fehlen in dieser Welt auch die Erinnerungszeichen, die die Suche und vielleicht sogar die Sehnsucht in dieser Beziehung wachhielten. Deshalb macht sich die die Dichterin ein „Kreuzchen“ auf die Brust, „damit nur Er mich bemerkt.“

Doch es scheint zum Wesen Gottes zu gehören, dass ER eben nicht greifbar und fassbar ist wie eine Götterstatue; dass er sich immer wieder unserem Begreifen entzieht und niemand endgültig sagen kann: „Ich hab dich“. Allzu große menschliche Sicherheit verdunkelt ja eher die Größe des Geheimnisses.

Der Text von Lidija Dimkovska stellt dem Leser die persönliche Frage:

Wie steht es mit Deiner Gottesbeziehung ?

Hast Du, aus welchen Gründen auch immer, Gott ad acta gelegt?

Oder  geht es dir wie der Taxifahrerin, die Gott und Leben nicht wirklich zusammenbringt?

Oder steckt da noch eine tiefe, womöglich verborgene, Sehnsucht in Dir von Gott bemerkt zu werden? …….

Hallelujah- in memoriam Leonhard Cohen

Eines der bekanntesten Lieder des Songpoeten Leonhard Cohen (gestorben am 7.11.2016) trägt den Titel Hallelujah. Dieses Wort stammt aus dem hebräischen und ist zusammengesetzt aus den Worten „halel“, was verherrlichen bedeutet und „jah“, was für den Gottesnamen Jahwe steht, den fromme Juden nicht aussprechen dürfen. Hallelujah bedeutet also so viel wie Gott anbeten, ihn verherrlichen oder lobpreisen, manchmal wiedergegeben mit „Preiset den Herrn“ Auch im Christentum wurde Hallelujah unübersetzt übernommen.

Der Kanadier Leonhard Cohen wurde 1934 als Sohn einer aus Litauen eingewanderten jüdischen Familie geboren. Cohen hat seine Zugehörigkeit und Affinität zum jüdischen Glauben,– sein Ur-Großvater Lazarus war Vorsteher einer Synagogengemeinde, seine Mutter Masha Tochter eines Talmudgelehrten-, nie versteckt, woran auch längerer ein Aufenthalt in einem buddhistischen Zen-Kloster in Kalifornien nichts änderte. Viele seiner Lieder haben einen Bezug zum Judentum wie „Who by fire“ oder das gerade erwähnte Hallelujah, das von (allzu) vielen gecovert wurde (mehr als einhundert Interpretationen, am bekanntesten Jeff Buckleys Version).  Cohen`s Texte sind poetisch und vieldeutig, sie entziehen sich einer  eindeutigen Festlegung. Dies betrifft auch die Gottesvorstellung. Der gläubige Jude Leonhard Cohen weiß nämlich um die Unennbarkeit des Gottesnamens. Aber auch die biblischen Gestalten sind Cohen vertraut. Schon in seinem Gedicht „Before the story“, im zweiten Lyrikband „The Spice- Box of Earth“ von 1961 taucht König David, der Musiker und Frauenfreund, als sein Idol auf.

Der Text der ursprünglichen Version von Hallelujah auf dem Album Various Positions (1984) beginnt auch gleich mit einem Bezug zu König David aus dem Alten Testament, der viele seiner Psalmen mit Halleluja eröffnet hat.  Cohen konnte sich mit jenem sagenhaften König identifizieren, auch mit dessen Scheitern, Fehlern und menschlichem Versagen.(siehe die Geschichten von David und Betsheba in der 2.Strophe von Hallelujah; ), „Fehler“ , die er ebenfalls in seinem eigenen Leben wiederfinden kann.Doch am Ende jeder Strophe steht das Hallelujah, und am Ende jeden Lebens könnte man folgern, tragen wir unser ganzes  Leben mit allem Auf und Ab, Dur und Moll, Gelingen und Versagen, Siegen  und Niederlagen vor den nicht nennbaren und noch weniger begreifbaren Gott. Cohen hat immer wieder die Auseinandersetzung mit Gott gesucht, auch mit dessen  Schweigen, und Nichteingreifen angesichts der Grausamkeiten und Ungerechtigkeiten dieser Welt. Es ist ein gebrochenes und heiliges Halleluja.

„Du sagst, ich habe den Namen Gottes missbraucht,/dabei kenne ich den Namen noch nicht einmal../Es ist egal, welches Wort du gehört hast: das heilige oder das gebrochene Halleluja“(3.Strophe) Und in der letzten Strophe heißt es: „…Und auch wenn alles schief ging,/Einst stehe ich vor dem Herrn der Lieder/ Mit nichts auf den Lippen als dem Hallelujah//“ (I´ll stand before the Lord of Song with nothing on my tongue but Hallelujah) Die Lebenswunden können zu heiligen Wunden werden, wenn wir es wagen sie vor Gott zu tragen.

Sein Song Anthem (deutsch: Lobgesang) auf dem Album THE FUTURE (1992) thematisiert ebenfalls die grundsätzliche Gebrochenheit dieser Welt, in welcher es nichts Vollkommenes und Perfektes gibt. Überall, ob in der Politik oder im Privaten ist dieser Riss, der alle Bereiche des Lebens durchzieht, zu finden. Niemand kann unschuldig bleiben in dieser gebrochenen Welt und im Laufe des eigenen Lebens.  Wir sind „Vorübergehende“ im Strom der Geschichtemit unseren Bemühungen, die trotz allen Mühens unvollständig bleiben. Doch das soll kein Grund zur Resignation sein.

(Bild, „Der Riss“, Acryl auf Leinwand, von Gustav Schädlich-Buter)

„There is a crack in everywhere, that`s how the light gets in“; (deutsch: Es gibt einen Riss in allen Dingen, aber genau so kommt das Licht hinein). Denn mitten im Riss sieht Cohen auch etwas Gutes: an der Bruchstelle strömt Licht ein, „wo etwas wieder aufersteht“ (so Cohen im Interview) .

Davon kündet auch der christliche Glaube an Ostern: Ein Licht zur Rettung des Menschen und der ganzen Schöpfung, welche der Gebrochenheit und dem Tod nicht das letzte Wort geben will. Kein triumphalistisches, sondern eher ein leises, aber hoffnungsvolles „Hallelujah.“

Impuls zum Nachdenken :

Welche Brüche und schwierigen Stellen in meinem Leben haben zu einem „Neuaufbruch“ geführt?

Wo habe ich in der Dunkelheit meines Lebens ein Licht erlebt?

Literaturempfehlungen :

Sylvie Simmons, I’m your man- Das Leben des Leonard Cohen; aus dem Amerikanischen von Kirsten Borchardt

Fulbert Steffensky, Mut zur Endlichkeit, 2007

Altes Testament, 2 Samuel 11, 1-17;26-27 (Die Geschichte von David und Betsheba)

Der Knacks- in memoriam Roger Willemsen

 

„Der Knacks “ lautet ein Buchtitel des Publizisten und Fernsehmoderators Roger Willemsen, der vorallem durch seine einfühlsamen Interviews mit Persönlichkeiten wie Michail Gorbatschow, Jassir Arafat, Madonna und vielen anderen bekannt geworden ist. Willemsen war ein Intellektueller, der sich sozial engagierte, einer, der ganz genau beobachten und beschreiben konnte. Persönlicher Hintergrund und prägendes Erlebnis für sein Buch „Der Knacks“ war die Krebserkrankung und das Sterben seines Vaters , das er als 15 Jähriger miterleben musste.

Der Knacks ist laut Willemsen mehr einer Falte vergleichbar, die im Laufe der Zeit entsteht als einer Narbe aufgrund einer klar festzumachenden Verletzung und ähnelt den Rissen auf einem alten Bild. Der Knacks im Leben ist kein abrupter Übergang , kein traumatischer Riss zwischen Diesseits und Jenseits, zwischen Vorher und Nachher, sondern eher ein unmerklicher Übergang, eine Farbveränderung ins Dunkle, ein Wechsel von Dur in Moll, „ ein Wechsel, der die Instabilität sämtlicher Kategorien verrät, ein Schattenfeld“(Roger Willemsen , Der Knacks, Frankfurt a.M.2008, S.63) , an dessen Horizont irgendwann auch der  Tod auftaucht.

Willemsen frägt in seinem Buch: „Wie kommt die Enttäuschung in das Gesicht des Schwärmers. Wie kommt das Geringschätzige in das Gesicht des Träumers….Wann gewann die Feigheit die Oberhand, wann wandelte sich die Schwäche in Unaufrichtigkeit….Anders gefragt: Wann wurde man nicht, was man hätte sein können…Was breitete sich an der Stelle aus, wo sich ehemals Möglichkeiten zeigten? (Roger Willemsen, Der Knacks, Frankfurt a.M.2008, S.24)

Der Knacks kommt eher lautlos und unmerklich daher, ist ein Bewusstwerdungsprozess, dass etwas zu Ende gegangen ist und nicht mehr so wie vorher ist und sein wird.  Die Zeichen einer Welt, die voller Brüche ist, entdeckt Willemsen zunächst in den „beschädigten“ und versehrten Kriegsheimkehrern, welche die vorindustrielle Dorfidylle seiner Kindheit auflösen oder in der Liebe, die vom Prinzip des Ökonomischen (Vergelten, Aufrechnen, Belohnen) bestimmt wird. „Der Knacks“ findet sich auch dort, wo das  erwartungsvolle kindliche  „Entdecker-Ich“ auf eine Welt stößt, die bereits vollständig entdeckt, aufgespürt und ausgeleuchtet ist.  In späteren Jahren wird dann der angepasste Erwachsene die kraftvolle Kinderphantasie als unreif und lebensfern einstufen, nachdem er sich zuvor mit den übriggebliebenen unentdeckten Resten begnügt, seine Utopien storniert und vor der Realität kapituliert hat (vgl. a.a.O., S. 48f)

Willemsen findet den Knacks aber nicht nur in den persönlichen Biografien, im Altern,  in Enttäuschung, Misstrauen oder Ermüdung, sondern er erkennt ihn wieder in den Lagern von Guantanamo, in den Städten, im 11. September, oder in Armut und Obdachlosigkeit.

(Bild: „Herzbiografie“(Titel), Acryl auf Leinwand von Gustav Schädlich-Buter)

Willemsens Beschreibungen haben etwas Desillusionierendes, Ernüchterndes, auch Resignatives. Seine sehr genauen Skizzen und philosophischen Gedanken können vom Leser erlebt werden wie Asche und Staub, zu der vieles im Leben zerfällt.  Das Lesen seines  Buches kann zu einer Art Aschenerfahrung werden.  Es erinnert mich tatsächlich an das christliche Ritual des Ascheauflegens zu Beginn der Fastenzeit; ein Aschekreuz wird dem Glaubenden auf die Stirn gezeichnet und mit dem Satz verbunden: „Bedenke Mensch dass du Staub bist und zum Staub zurückkehren wirst…“ Ein Grenzen setzender Satz am anderen Pol zur heute gängigen Selbstoptimierung und zur grenzenlosen Steigerungsspirale. Doch das christlichen Ritual endet nicht in der Asche und Vergeblichkeit; es beinhaltet eine Fortsetzung, die in  Willemsen`s Buch  fehlt (und auch nicht angezielt ist): die Hoffnung auf Auferstehung (nicht nur an Ostern),  auf Treue und unverbrüchliche Liebe, auf Heilung der Brüche des Lebens, die Chance auf Erneuerung, der Glaube, dass einst auch die Splitter des Lebens  zusammengefügt werden, und das Vertrauen, dass es mitten im Knacks eine Erleuchtung geben kann. Der Dichter und Sänger  Leonhard Cohen kommt da der christlichen Erfahrung näher, wenn er in seinem Lied  Anthem formuliert: „There´s a crack in everything, that`s how the light gets in. (Ein Riss ist in allen Dingen, aber genau so kommt Licht herein).

Willemsen verzichtet wohl bewusst auf die Möglichkeit einer Transzendierung des Scheiterns und der Lebensbrüche, er will vor sich selbst ehrlich bleiben. Der Trost des Glaubens bleibt dem aus der evangelischen Kirche ausgetretenen Willemsen unzugänglich, auch wenn er sich dieses Mangels sehr bewusst ist :

„Ich habe einmal eine Kinderfrömmigkeit gehabt und innig ge­betet im Bett, aber heute muss ich sagen: Ich wünschte, ich könnte an Gott glauben. Ich denke, dass der glaubende Mensch mit Zuständen der Not besser umgehen kann. Ich fand es grandios, als Margot Käßmann sagte: „Du kannst nie tiefer fallen als in Gottes Hand.“ (Willemsen in Chrismon, das evangelischen Online Magazin) Und an anderer Stelle sagte er: „Ich bin dann aber so weit Rationalist geworden, dass ich mit meiner Vernunft den Glauben nicht mehr in Einklang bringen konnte. Ich würde gerne glauben, aber ich kann nicht. Aber ich respektiere jeden Gläubigen.“(Katholische Nachrichtenagentur, August 2015)

Willemsen starb am7. Februar 2016 im Alter von 60 Jahren völlig unerwartet an den Folgen einer Krebserkrankung.

 

„Draußen vor der Tür“-Impuls zum Advent

In Wolfgang Borchert Antikriegsdrama „Draußen vor der Tür“ steht der Kriegsheimkehrer Beckmann vor der Tür seines Elternhauses, das den  Krieg  unbeschadet überstanden hat. Beckmann freut sich:  „Unser Haus steht noch! Und es hat eine Tür. Und die Tür ist für mich da…Da kommt mein Vater jeden Morgen um acht Uhr raus. Da geht er jeden Abend wieder rein. Nur sonntags nicht…jeden Tag, ein ganzes Leben. Da geht meine Mutter rein und raus. Dreimal, siebenmal, zehnmal am Tag. Jeden Tag. Ein Leben lang. Das ist unsere Tür…Der Krieg ist an dieser Tür vorbeigegangen. Er hat sie nicht eingeschlagen und nicht aus den Angeln gerissen…Und nun ist diese Tür für mich da. Für mich geht sie auf, und hinter mir geht sie zu, und dann stehe ich nicht mehr draußen. Dann bin ich zu Hause. (Wolfgang  Borchert, Draußen vor der Tür, Hamburg 1956, 11.Auflage 2011, S.34 f.) Doch an der Tür ist das Messingschild verschwunden, auf dem seit 30 Jahren der Name Beckmann stand.  Ein  anderer, fremder  Name steht an der Tür, das Geburtshaus von Beckmann ist inzwischen von anderen Personen besetzt. Eine gleichgültig,  glatt freundliche  Frau Kramer, die jetzt dort mit ihrem Ehemann wohnt, erklärt Beckmann, dass  die Eltern hinausgeworfen wurden und sich daraufhin das Leben genommen haben.  Am Schluss der Unterhaltung mit Frau Kramer sagt Beckmann leise, aber drohend: „Ich glaube, es ist gut, wenn sie die Tür zumachen, ganz schnell. Ganz schnell! Und schließen sie ab. Machen  Sie ganz schnell ihre Türe zu, sag ich Ihnen! Machen Sie !“  Beckmann`s Erwartung nach grauenvollen Kriegsnächten endlich  nach Hause in sein Elternhaus zu kommen, wird bitter enttäuscht. Die Tür öffnet sich zwar,  aber ohne Einlass zu gewähren und mit dunkler Nachricht abzuweisen.

„Advent heißt Ankunft und ist die Zeit der Erwartung, der Sehnsucht nach Heil und Frieden, die endlich ankommen sollen auf dieser Erde. Advent ist die Sehnsucht nach Heimkommen und Ankommen, nach einer erlösenden Botschaft, die besonders Menschen wie „Beckmann“  oder  heute die vielen Flüchtlinge auf dieser Welt  spüren.  Advent ist die Sehnsucht nach dem Erlöser selbst, dem wir die Türen aufschließen sollen. „Macht hoch die Tür, die Tor macht weit, es kommt der Herr der Herrlichkeit“, heißt es in einem bekannten Adventslied aus dem 17. Jahrhundert. Doch wer steht auf der anderen Seite  der Tür? Der Erlöser und die frohmachende Botschaft oder Frau Kramer, die abweist.  Wer klopft an und wer öffnet?

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(„Hoffnungstor“, Acryl auf Leinwand, 60×80 cm, von Gustav Schädlich-Buter)

1622 schreibt der Jesuit Friedrich Spee das  Lied  „O Heiland reiß die Himmel auf“, das mit seinem Text so gar nicht in die Idylle von Weihnachtmärkten mit Glühwein und Lebkuchen passt. Friedrich Spee lebt in einer dunklen Zeit: es herrscht die Pest, der viele Menschen zum Opfer fallen, der 30 jährige Kriege wütet und es ist die Zeit der Hexenverfolgung. In der ersten Strophe des Liedes heißt es dann weiter: „Reiß ab vom Himmel Tor und Tür/ Reiß ab wo Schloss und Riegel für“. Die Türen, die den Himmel verschließen, soll der Heiland selbst gewaltsam  öffnen. Wer verschließt die Tür zum Himmel? Ist es die  Not selbst, das Elend dieser Welt, das manchen Menschen den Glauben geraubt hat, es könne sich noch etwas vom „Himmel“ her zum Besseren wenden? Oder ist es die Kakophonie menschlicher Bosheiten und  die oberflächliche, abgestumpfte Gleichgültigkeit menschlichen Denkens und Handelns, welches die Türen verschließt?

Adventliche Sehnsucht könnte man bezeichnen als das Leiden an dieser Verschlossenheit des Himmels. Im Lied von Friedrich Spee wird jene  zu einem leidenschaftlichen Flehen aus tiefster Not, dass der Heiland –also der, der unsere Welt und unser Leben retten soll- endlich kommen soll. Er wird dringend gebraucht, schmerzlich vermisst und soll jetzt selbst die Initiative ergreifen, wenn wir es schon nicht schaffen, die Türen zu öffnen.  Die religiöse Sprache bringt zum Ausdruck, dass wir Menschen immer wieder in Situationen geraten, aus denen wir selbst uns nicht retten oder befreien können. Man denke gegenwärtig an die Kriege im Nahen Osten, an die Ebola Epidemien in Afrika oder an die vielfältigen individuellen Nöte und Ängste in uns selbst oder in unserer Nähe.

„Wo bleibst du Trost der ganzen Welt..?, schreit die adventliche Sehnsucht im Lied  (4.Strophe) klagend zum Himmel. „Wo ist denn der alte Mann, der sich Gott nennt? Warum redet er denn nicht!! Gebt doch Antwort! Warum schweigt ihr denn? Warum? Gibt denn keiner Antwort? Gibt keiner Antwort??? Gibt denn keiner, keiner Antwort???“, heißt es in Borcherts Roman (a.a.O. , S.54) Wann geht die Tür endlich auf, so dass wir, die Menschen, die aussichtslos und traurig herumirren, die sich immer wieder gegenseitig  zerstören müssen, endlich heimkommen und Frieden finden. Wann endlich kommen wir ins Vaterland, ins Elternhaus, das Wolfangs Borchert`s -von der eigenen Biografie geprägten-  Romanfigur Beckmann verschlossen bleibt.

Impuls:

Lesen Sie in der Adventszeit Borchert`s Roman „Draußen vor der Tür“

Meditieren und singen Sie Friedrich Spee`s Lied „o Heiland reiß die Himmel auf“

Wem kann ich die Türen meines Herzen`s oder meines Hauses (wieder) öffnen?

Literatur:

Wolfgang Borchert, Draußen vor der Tür, Hamburg 1956, 11.Auflage 2011

Die Bettlerin und die Rose

Die Bettlerin und die Rose

Von Rainer Maria Rilke (1875 – 1926), der wohl zu den bedeutendsten deutschsprachigen Lyrikern der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts zu rechnen ist, wird während seines Aufenthaltes in Paris folgende Geschichte erzählt:

Gemeinsam mit einer jungen Französin kam er um die Mittagszeit an einem Platz vorbei, an dem eine Bettlerin saß, die um Geld anhielt. Ohne zu irgendeinem Geber je aufzusehen, ohne ein anderes Zeichen des Bittens oder Dankens zu äußern als nur immer die Hand auszustrecken, saß die Frau stets am gleichen Ort. Rilke gab nie etwas, seine Begleiterin gab häufig ein Geldstück. Eines Tages fragte die Französin verwundert nach dem Grund, warum er nichts gebe, und Rilke gab ihr zur Antwort: „Wir müssen ihrem Herzen schenken, nicht ihrer Hand.“ Wenige Tage später brachte Rilke eine eben aufgeblühte weiße Rose mit, legte sie in die offene, abgezehrte Hand der Bettlerin und wollte weitergehen.

Da geschah das Unerwartete: Die Bettlerin blickte auf, sah den Geber, erhob sich mühsam von der Erde, tastete nach der Hand des fremden Mannes, küsste sie und ging mit der Rose davon.

Eine Woche lang war die Alte verschwunden, der Platz, an dem sie vorher gebettelt hatte, blieb leer. Vergeblich suchte die Begleiterin Rilkes eine Antwort darauf, wer wohl jetzt der Alten ein Almosen gebe.

Nach acht Tagen saß plötzlich die Bettlerin wieder wie früher am gewohnten Platz. Sie war stumm wie damals, wiederum nur ihre Bedürftigkeit zeigend durch die ausgestreckte Hand. „Aber wovon hat sie denn all die Tage, da sie nichts erhielt, nur gelebt?“, frage die Französin. Rilke antwortete: „Von der Rose . . .“

Diese Geschichte zeigt, dass wir als Menschen bedürftig sind nach echter Aufmerksamkeit, nach ungeheuchelter Liebe, und ausgesprochener Wertschätzung. Natürlich braucht ein hungernder Mensch auch Geld, um Nahrungsmittel oder Kleidung zu kaufen. Das will die Geschichte wohl auch gar nicht bezweifeln; aber sie möchte unsere Aufmerksamkeit noch auf einen anderen Punkt lenken.

Die materielle Sicherheit und Versorgung allein, die sicher wichtig ist, genügt nicht für ein erfülltes Leben und gelungene Beziehungen; in Ehen wird geklagt, dass  der Ehepartner zwar alles an materieller Versorgung bereitstellt, aber die Seele vermag er nicht zu sättigen. Auch Kindern wird heute eine Menge an  Ersatzstücken von Liebe gereicht in Form von immer neuem Spielzeug, neuen Smartphones oder Markenklamotten, doch die fehlende elterliche Liebe, -das Glück einen anwesenden  Vater und eine Mutter zu haben-, das können all diese Sachen nicht ersetzen. Wer materiell weniger hat, spürt das Wesentliche oft deutlicher.

In der Geschichte von der Bettlerin und der Rose geht darum, dass wir mit unserer Gabe, das Herz eines anderen anrühren können oder eben auch nicht. Gerade in Firmen klagen Mitarbeiter immer wieder über einen Mangel an Wertschätzung. Denn der Lohn auf dem Gehaltskonto ersetzt nicht das Lob und  die Anerkennung durch den  Chef.

Wir Menschen haben eine besondere, leider allzu oft vernachlässigte Begabung: wir können einander Leben schenken, welches über das bloß Materielle hinausreicht und fähig ist,  in die geschlossene Decke unserer  irdischen Welt,  eine Öffnung zu reißen.

Gerade das Nahrungsmittel Liebe lässt erleben: da ist jemand an meiner Seite, ich bin nicht allein, jemand interessiert sich für mich, jemand ist von meinem Schicksal angerührt, jemand hält zu mir, schaut mich an, gibt mir An-sehen. Liebe nimmt den Druck, nimmt den Problemen und Sorgen des Lebens das Gewicht, lässt bestehen in einer manchmal absurden und leidgeprüften Welt. Wer sich geliebt und angenommen weiß, dem ist ein Fenster geöffnet in eine andere Welt.

Die Geschichte von der Bettlerin und der Rose sagt, dass unser Herz nach etwas hungert und unsere Seele nach etwas dürstet, das wir nicht kaufen können. Die Rose ist Symbol dafür; sie steht für all das, was unserem Leben Nahrung schenkt, die nicht käuflich ist und aus rein wirtschaftlichem Denken überflüssig scheint.  Aber wird etwas anderes als dieser Überfluss der Würde des  Menschen, der nicht bloß vom Brot allein lebt,  gerecht?

Hoffnung- in memoriam Rose Ausländer

Die jüdische Dichterin Rose Ausländer wurde am 11.Mai 1901 in Czernowitz, der Hauptstadt der Bukowina , späteres Rumänien, geboren. Ein Drittel der Bevölkerung war jüdisch, aber für die meisten war Deutsch die Muttersprache. Im Jahre 1941 kam die deutsche Wehrmacht nach Czernowitz. Die Juden kamen in ein Getto. Das Elend der Todestransporte in die Gaskammern der Konzentrationslager begann. Rose Ausländer- ihr ursprünglicher Name war Rosalie Scherzer- überlebte mit ihrer Mutter und ihren Brüdern in einem Keller, in dem sie sich über Monate versteckt hielt. Nur etwa 6000 von 60.000 Juden in Czernowitz überlebten. Nach der russischen Annexion emigriert Ausländer nach New York. Sie ist gezeichnet von Krieg, Getto, Verfolgung, Todesangst und schließlich Heimatlosigkeit.
1963 kehrt sie in den deutschen Sprachraum zurück. Seit einem Unfall ist sie an eine „Matratzengruft“ gefesselt. Ihre letzten Jahre – Leber, Nieren, Magen, Darm sind angegriffen von den schrecklichen Kriegsereignissen, ihr Körper mit Tabletten vollgeschwemmt- verbringt bis zu Ihrem Tod in einem Düsseldorfer Altenheim. (vgl. dazu ausführlicher das Nachwort von Jürgen Serke, in:  Rose Ausländer, Im Atemhaus wohnen, Gedichte, Frankfurt am Main 1981, dort auch ein ausführliches Portrait von Jürgen Serke, S137-S.148)
Rose Ausländer bezeichnet sich selbst als „Überlebende des Grauens“, die aus „Worten Leben“ schreibt. Schreiben bedeutet für sie Leben und Überleben. Ihr Vertrauen in die Mutter und in die Menschen ihrer Heimat am Pruth, in die Natur und in die Sprache, ihr Glaube an die Liebesfähigkeit der Menschen trotz aller schrecklichen Ereignisse und Erfahrungen, durchdringt ihre Verse. Was gewöhnlich als Wirklichkeit bezeichnet wird, erscheint der Dichterin als „unverläßliches Märchen“.

Foto privat

Die Sprecherin hingegen schaut „mit verbundenen Augen und lauscht mit „verbundenen Ohren“ nach einer „Welt, die/ Noch nicht geboren ist.“ Ihr Schreiben ist wie eine Heimatsuche nach einer unverlierbaren zweiten Heimat, für welche ihre eigene Heimat in der Bukowina nur ein Zeichen sein kann. Ihre Gedichte kommen wie aus einer anderen Wirklichkeit, ihre magische Sprache beschwört die Wunder dieser Erde, Tag und Nacht, die atmen, Sonne und Mond, die grüßen, Kinder, die singen…
Es ist eine messianische Welt, in der Frieden ist und alle Wesen miteinander kommunizieren, eine österliche Welt, in welcher nach der „Marterqual“, „Er wieder jung und wunderbar“ aufersteht.

In den Traumworten ihrer Gedichte wohnt eine Hoffnung, über welche die Verzweiflung und der Tod keine letztgültige Macht haben. Ihr Gedicht Hoffnung II ist ein Hymnus auf die Hoffnung:

 Wer hofft/ ist jung/Wer könnte atmen/ohne Hoffnung/dass auch in Zukunft/Rosen sich öffnen/ ein Liebeswort/ die Angst überlebt ( in: Rose Ausländer , Im Atemhaus wohnen, Gedichte  Frankfurt a. Main 1981, S.43)

Rose Ausländers Gedichte sind von einer Hoffnung und einem Glauben getragen, der ansteckend ist, weil er durch das persönliche Leiden gegangen ist. Sie hält fest an der Möglichkeit des Wunders, dass auch „ in Zukunft Rosen sich öffnen/ ein Liebeswort/ die Angst überlebt. „Mit winzigen Wörtern“ versucht Rose Ausländer noch als kranke und alternde Frau um Frieden und Liebe zu werben. (vgl. auch Rose Ausländer, Ich spiele noch Neue Gedichte, Frankfurt a.M. 1987)

Nur die Hoffnung lässt Rose Ausländer leben und überleben, gibt ihr die Kraft am Leben nicht zu verzweifeln. Hoffnung gehört zu den Lebensgrundlagen des Menschseins wie die Atemluft. „Wer könnte atmen/ohne Hoffnung“, sagt die Dichterin.

Literatur:

Rose Ausländer,  Mein Atem heißt jetzt, Fischer Verlag 1984

Rose Ausländer, Im Atemhaus wohnen, Gedichte, Frankfurt am Main 1981, dort auch ein ausführliches Portrait von Jürgen Serke, S137-S.148)

Impulse:

Lesen und meditieren Sie die wunderbaren Gedichte von Rose Ausländer

Wo in meinem Leben und in meiner Biografie konnte ich die Kraft neuer Hoffnung spüren?

Zu welchen Aufbrüchen hat mich meine Hoffnung „verführt“?