Selbstliebe oder Selbstverleugnung

Selbstliebe als Grundlage der Nächstenliebe

Wer den Nächsten lieben will, muss sich selber mögen. Wer andere lieben will, muss erfahren, dass er selbst liebenswert ist. Tatsächlich kann es auch in der spirituellen Entwicklung nicht um eine Form von Selbstlosigkeit gehen, in welche die mangelnde Selbstliebe zur Selbstablehnung zementiert wird. Wer spirituell wachsen will, muß sich selbst Wert geben und dies bedeutet, in einer letzten unaufhebbaren Einsamkeit zu sich selbst „Ja“ sagen.  Zu Recht fragt der Benediktiner Meinrad Dufner:

Ob ich Gott liebe -das ist eine Frage. Ob ich mich liebe -das ist auch eine Frage. Wie kann jemand die eine Frage bejahen, wenn er die anderen verneint? Nein! Ich liebe Gott nur, wenn ich mich liebe…“

(in: Grün, Müller, Was macht Menschen krank, was macht sie gesund?, Münsterschwarzach 2005,S.43

Die Aufforderung zu Selbstlosigkeit und Selbstverleugnung, ist mit Vorsicht zu genießen und noch lange kein Allheilmittel, auch wenn man es heute in einer allzu narzisstisch „Ich- Gesellschaft“ gerne empfehlen möchte. Zunächst ist der Aufbau eines gesunden Selbstwertgefühls notwendig. Wer sich selbst nicht(oder noch nicht)mag, darf nicht durch  Formen der Selbstverleugnung und Askese noch mehr kleingemacht  und niedergedrückt werden.

„Er muss wachsen, ich aber muß kleiner werden“ (Joh 3,30)

Ein geistlicher Wachstumsprozess verlangt andererseits ein  aufgeblähtes Ichgefühl (Erfolg, Ehrgeiz, Gefall-und  Ruhmsucht….), also den persönlichen Narzissmus, und all die übertriebenen Weisen der Selbstverwöhnung, auf ein gesundes Maß(das individuell sehr verschieden sein kann) zurück zu stutzen. Selbstliebe, die zur Ichsucht in seinen vielen Spielformen ( mein Körper, mein Geld, mein Urlaub, meine Freizeit, mein Vergnügen…)geworden ist, gefährdet spirituelles Wachsen. Wer ausschließlich sich selbst beabsichtigt und nur das eigene Glück im Blick hat, der steht in der Gefahr, sich in dieser Selbstbeabsichtigung zu erschöpfen und sein Glück zu verfehlen(vgl. dazu: Fulbert Steffensky). Gott wird dabei schwerlich ins Blickfeld geraten. Auch ein frommes Leben, das trotz mannigfacher religiöser Übungen, auf die eigenen Vorteile und Bequemlichkeit bedacht bleibt, ist höchstwahrscheinlich Heuchelei und eine verdeckte Form von Selbstsucht. In  moderner Sprache ausgedrückt, geht es  also darum eine Absage an den narzisstisch-selbstverliebten Egotrip . Die Forderung nach „Selbstverleugnung“ ist also insofern beachtenswert, wenn damit gemeint ist, all die falschen Ichs  abzulegen, die ein Leben und eine Beziehung aus dem Herzen verhindern und zum Hindernis werden dafür, sich von Gott finden zu lassen.

Von Gottes Liebe berührt

Der  Mensch, der sich von Gottes absichtsloser Liebe und seiner stets gegenwärtigen Barmherzigkeit berühren lässt, findet auch zu seinem tiefsten und innersten Selbst. Je stärker diese absichtslose Liebe Gottes  in uns wirken kann, umso liebevoller und wertschätzender können wir anderen Menschen gegenüber sein .

(Foto privat)

Für Christen und christliche Mystik bedeutet dieser Gottesbezug: „Christus ist meine innerste Wirklichkeit geworden. Er wohnt und lebt in mir. Dort, wo Christus in mir ist, finde ich zu meinem wahren Selbst, werde ich frei von allen Illusionen, die ich oft genug von mir habe. Und ich spüre, dass ich im Innersten eins bin mit Jesus Christus. Das gibt mir eine innere Freiheit.“ (Anselm Grün, im evangelischen Sonntagsblatt, https://www.sonntagsblatt.de/spiritualitaet)

Spiritueller „Fortschritt“

wird immer sichtbar  in der je  größeren inneren Freiheit, in der größeren Fähigkeit, Leid auszuhalten, in  tieferer Liebesfähigkeit auch über Grenzen hinweg, im großherzigen Dienst für andere.

Solches Wachstum braucht zwar auch unsere Anstrengung und Disziplin, aber letztlich „geschieht es an einem“. Es ist das Werk von Gottes Barmherzigkeit an uns und nicht dem eigenen aktiven Verdienst anzurechnen.  Echte Liebe zielt auf keine dieser Wirkungen oder beabsichtigt sie. Gott ist die aktive Instanz, nicht der Mensch.

Impuls:  

Übung zur Selbstliebe und Selbstannahme: Gehen Sie durch den Raum/oder Ort in der Natur(Wald z. B.) und sagen Sie hörbar „Ja“ zu ihrem Leben. Wie kommt dieses „Ja“ von ihren Lippen?