Ohnmacht erleben- Ohnmacht begegnen

Was heißt Ohnmacht?

Immer wieder begegne ich in der Beratung  Menschen, die sich ohnmächtig fühlen. Ohnmacht bedeutet zunächst eine Bewusstlosigkeit aufgrund einer Schwäche. Weiterhin meint Ohnmacht, nicht mehr selbstwirksam handeln zu können. Wer sich ohnmächtig fühlt, spürt: Ich habe keinen oder unzureichenden Einfluss auf mein Leben. Ich finde keine Möglichkeit, das eigene Leben selbstbestimmt zu gestalten. Ich kann meine Situation oder eine Situation, unter der ich leide, nicht verändern.  Kurz gesagt: Ohnmacht ist das Gegenteil von Macht. Ohnmachtsgefühle tauchen nach Anselm Grün hauptsächlich in drei Bereichen auf: Ohnmacht gegenüber anderen Menschen, Ohnmacht gegenüber den eigenen Gefühlen oder Zwängen, und die Ohnmacht gegenüber Situationen in der Welt .

Beispiele für Ohnmachtserleben

Zunächst einige Beispiele für das Ohnmachtserleben: Eltern fühlen sich ohnmächtig, wenn ihre Kinder auf unsichere „Abwege“ geraten und alle Ratschläge nichts bewirken.  Kinder  fühlen sich ohnmächtig, wenn sie von Erwachsenen geschlagen oder gar missbraucht werden. MitarbeiterInnen in einer Firma erleben Ohnmacht, wenn sie von Kollegen/-Innen verleumdet und gemobbt werden, oder der Chef sie ungerecht behandelt. Menschen mit einer chronischen oder schweren Krankheit bekommen Ohnmachtsgefühle, wenn alle Behandlungen und Medikamente nicht greifen. Ärzte fühlen sich ohnmächtig, wenn ihnen Patienten trotz vollen Einsatzes aller ärztlichen Kunst „wegsterben“. Junge Menschen mit einer Behinderung fühlen sich ohnmächtig, wenn sie trotz guter Schulabschlüsse keine Chance auf einen Platz im ersten Arbeitsmarkt bekommen. Pfarrer oder Seelsorger erleben Ohnmachtsgefühle, wenn sich trotz aller Anstrengungen die Kirchenbänke zunehmend leeren und sich niemand mehr für Gott zu interessieren scheint. Ohnmacht erlebt der Ehepartner/-in, der vom anderen betrogen wurde. Politiker erleben Ohnmacht, wenn sie von Medien verleumdet und diffamiert werden. Wieder andere fühlen sich ohnmächtig gegenüber ihren Gefühle; sie sind dann z.B. ihren Ängsten hilflos ausgeliefert, oder sie werden immer wieder von ihrer Wut übermannt. Alkoholiker oder Raucher fühlen sich ohnmächtig ihrer Sucht gegenüber und merken, dass alle guten Vorsätze nichts helfen. Junge Frauen bekommen ihr Eßproblem nicht in den Griff. Wer sozial sensibel ist, fühlt sich ohnmächtig gegenüber den schrecklichen Ereignissen in der Welt,  gegenüber Hungersnöten, Kriegen und Bürgerkriegen, oder einer ungerechten Weltwirtschaft….

Ohnmacht und Selbstwertgefühl

Viele, nicht alle, Ohnmachtsgefühle reichen weit zurück in die je eigene Biografie und Seelenlandschaft, wo das kleine Kind sich hilflos und abhängig erlebt hat von mächtigen, womöglich Macht missbrauchenden Erwachsenen. Später taucht der autoritäre Vater der Kindheit im „Chef“ der Firma wieder auf und lässt die gleichen Ohnmachts- und Schwächegefühle wie damals wach werden(„Übertragung“). Ohnmachtserlebnisse greifen immer das Selbstwertgefühl an und wirken umso verheerender, je geringer dieses ausgeprägt ist. Das Erleben von Ohnmacht ist immer bedrohlich, erzeugt oft ein Gefühl der Lähmung und Resignation, sogar die Angst keine Lebensberechtigung zu haben, kann auftauchen; der Ohnmächtige fühlt sich zuweilen als eine Null, ein Nichts ohne Würde und ohne Wert. Manche geben sich letztendlich in einem oberflächlichen Dahinleben verzweifelt auf.

Reaktionen auf  Ohnmacht

Wieder andere überspielen ihre tiefgreifenden Ohnmachtsgefühle durch Posen der Macht, Rachephantasien gegenüber den Kränkenden oder sogar durch den tatsächlichen Einsatz von physischer Gewalt (z.B Gewalt an Schulen); frühere Opfer von Gewalt werden nicht selten zu Tätern. Ohnmächtig Verletzte können sehr mächtig werden, und zu unkontrollierbaren und dunklen Machtspielen greifen. Erlebte Ohnmacht kann also auch in destruktive Machtausübung umschlagen(vgl. religiöse Fanatiker und Terroristen), in der Hoffnung das bedrohliche und lähmende Gefühl der Ohnmacht los zu werden. Menschen mit zu hohen (religiösen) Idealen, an denen sie immer wieder scheitern, greifen in ihrer Ohnmacht auch zur rigorosen Selbstbestrafung und flüchten in eine finstere Askese.

Was kann ich tun angesichts eigener Ohnmachtsgefühle?

Was kann ich gegenüber meiner Ohnmacht tun; hier müssen einige Andeutungen genügen (ausführlicher dazu, vgl. dazu Anselm Grün, Selbstwert entwickeln, Ohnmacht meistern, Stuttgart 1995)Dort, wo die Ursache der Ohnmacht weitgehend in mir selbst liegt, geht es vorrangig darum das eigene Selbstwertgefühl zu stärken und zu verbessern; dies geschieht z.B. durch gute und wertschätzende Kommunikation und eine vertrauensvolle Atmosphäre (in Gruppen, Familien oder Teams).  Ich kann mir auch psychologische oder seelsorgliche Unterstützung suchen, um an mir selbst zu arbeiten und neue Wege zu finden, mein Leben selbst zu gestalten und zu formen. Dabei helfen gute Rituale,  z.B. am Morgen und am Abend , einen Raum zu schaffen, der mir gehört.

Dort, wo die die Ursache der Ohnmacht weitgehend beim Gegenüber (Chef, Ehepartner, Arbeitskollege)liegt, geht es darum sich von der Macht des anderen zu befreien. Dabei hilft vielleicht die Empfehlung von A. Grün: „Der andere hat immer nur soviel Macht über mich, wie ich ihm gebe“(a.a.O., S117) Es ist meine Entscheidung, ob ich mir auch noch das Abendessen von dem Kollegen, der mich gekränkt hat, verderben zu lassen oder ihm den Zugang  zu meinem Feierabend verbiete. Die Wut kann helfen, mich vom Kränkenden zu distanzieren.

Für religiöse und glaubende Menschen kann das Gebet eine Hilfe sein, Ohnmachtsgefühle zu bearbeiten, gerade jene Ohnmacht einer Welt gegenüber, in der Ungerechtigkeit, Umweltzerstörung und Kriege eine bedrückende Realität darstellen. Auch wenn das Gebet diese Ohnmachtsgefühle nicht einfach auflöst, kann es die Hoffnung stärken, dass das Unrecht nicht das letzte Wort behalten wird ; und es kann mir Kraft schenken gegen  Unrechtszustände anzukämpfen.

Fragen zum Nachdenken und aufschreiben:

An welche Ohnmachtserlebnisse aus Kindertagen erinnere ich mich?

Erlebe ich auch heute noch Ohnmacht? Wo, durch was oder durch wen? Wie reagiere ich darauf ?

Was hilft mir und hat mir bisher geholfen, mich aus Ohnmachtszuständen zu befreien?

Literaturempfehlung:

Anselm Grün, Selbstwert entwickeln, Ohnmacht meistern, Stuttgart 1995