Auf Augenhöhe mit den Schwachen

 Schwäche darf nicht sein !

Wer will in unserer Kultur nicht stark, erfolgreich, schön, attraktiv, und begehrt sein ? „Power haben“- das liegt im Trend des Zeitgeistes . Schwäche zugeben, das geht eigentlich nicht, in einer Zeit, die „Selbstoptimierung“ und „Gewinnmaximierung“ zu ihren Prioritäten gemacht hat.

Aber was ist mit all denen, welche das Leben aus der Kurve getragen hat und die jetzt zerbeult daherkommen? Was ist mit denen, die durch die Stürme des Lebens zerzaust wurden und jetzt „abgerissen“ und zerfetzt aussehen? Was ist mit jenen, die durch ihre Lebenskämpfe, ihr Scheitern,  ihre Niederlagen oder plötzlich einbrechende Krankheiten geschwächt und zu Boden geworfen wurden? Und was mit all jenen, die auf der Schattenseite des Lebens geboren wurden oder sich in der Mitte der Lebensreise (vgl. Dante, Die göttliche Komödie) sich in einem dunklen Wald verlaufen haben? Und was ist mit den älteren,  kranken oder behinderten Menschen, die nichts (mehr) „leisten“ können.

Im Krankenhaus können sich viele Patienten nicht mit ihrer Schwäche und scheinbaren Nutzlosigkeit abfinden und wollen lieber sterben als jemanden zur Last zu fallen. Schon seine Hilfsbedürftigkeit zu zeigen, kommt in manchen Betrieben ziemlich schlecht an, nicht selten wird man ausgemustert oder bestenfalls an dezentralen Stellen geparkt. Sogenannte „Schwache“– d.h. Kranke, Behinderte, psychisch Labile , Säufer und Obdachlose-, rechnen sich nicht und kosten zu viel Geld, scheint der „Effizienzgeist“ auszurechnen und will sie loswerden. Nicht wenige schämen sich angesichts ihrer wie auch immer zustande gekommenen Schwächung , fühlen sich  wertlos und  nicht mehr dazugehörig zu denen, die „was bringen“. Schuldgefühle plagen sie, auch wenn gar kein persönliches Versagen vorliegt.

Niedergedrückt, Mischtechnik

Warum Stärke und Erfolg nicht alles bedeuten !

Stärke, Erfolg ,Wachstum, Attraktivität sind ja nicht grundsätzlich schlecht; es ist sogar wichtig, seine Stärken kennen zu lernen und sie zur Entfaltung zu bringen. Doch zum Ganzen des Lebens gehört die Einbeziehung von Scheitern, Schwäche, Verlust und Niederlage; auch sie wollen integriert werden, um nicht dem eigenen Hochmut und Größenwahn zum Opfer zu fallen. Ein einseitiger Kult der Stärke, den wir schon einmal im Nazideutschland hatten, ist gefährlich wie die Geschichte zeigt. Eine echt starke Gemeinschaft (vom Staat bist zur Familie) dagegen ist jene, die in besonderer Weise auf die Schwächeren und Bedürftigeren achtet, und sich um jene  kümmert , die am Rande stehen.  „Die Stärke eines Volkes misst sich am Wohl der Schwachen“ – so steht es in der Präambel der schweizerischen Verfassung von 1999.

Die eigene Schwächen  wahrnehmen

Auch individuell und innerseelisch ist es wichtig, das ganze Menschsein im Spektrum von Stärke und Schwäche wahr zu nehmen. Wer nur auf der Erfolgsspur dahinrast, übersieht das Kleine , Langsame und Bedürftige, auch der eigenen Existenz, und schaut dann nicht selten herablassend auf jene, die nicht der vermeintlichen eigenen Stärke und Härte entsprechen. Wer sich nur mit der Geberseite identifiziert, tut sich schwer die eigene Bedürftigkeit einzugestehen und ist dann unfähig, sich etwas schenken zu lassen. Auch Sozialforscher haben herausgefunden, dass das  Zugeben und Zeigen von „Schwächen“  wie  Scham, Verletzbarkeit, Trauer und Enttäuschung, zugleich eine große menschliche  Kraftquelle  darstellt.

Nicht umsonst beginnen die alten Gebete immer mit dem Ruf: „O Gott komm mir zu Hilfe, o Herr, eile mir zu helfen“- also einem Eingeständnis,  ein Hilfsbedürftiger zu sein; einer der angewiesen ist, der nicht mehr aus eigener Kraft sein Leben meistern kann, der sich nicht selbst genügt. Wer betet,  gibt seine Schwäche zu und bittet die höhere Macht um Hilfe und Beistand. Gehört es nicht zur Größe des Menschen zu bedürfen, Gottes zu bedürfen, um das zu bitten, was ich mir nicht selbst geben kann? Zu bitten, um Erlösung, um Beistand, um Durchhaltekraft in der Not, um Freiheit, um Frieden ….

Von den „Schwachen“   lernen

Nur wer um seine eigenen Schwächen weiß und sie sich auch eingesteht, wird auch Mitleid und Empathie für jene empfinden, die nicht auf der Siegerstraße zu Hause sind.

Zeigen  uns nicht gerade sogenannten schwachen und bedürftigen Menschen  eine Welt jenseits der Kategorien Erfolg, Effizienz und Gewinnsteigerung? Lernen wir durch sie nicht sehr oft sehr viel von dem, was das Leben essentiell ausmacht: Liebe, Zuwendung, Gefühle, Demut, Berührung und das Eingeständnis, dass wir alle einander brauchen? Jean Vanier der Gründer der Archegemeinschaften, in denen behinderte und nicht behinderte Menschen zusammen leben, sagte es einmal sinngemäß so: dort wo wir nichts anderes im Sinn haben als die Karriereleiter hinaufzuklettern und machtvoller sein wollen als der Nachbar, dort lernen wir nicht zu teilen, sondern den anderen überlegen zu sein. Spirituell wachsen werden wir aber nur, wenn wir lernen, Macht los zu lassen und den Menschen nahe zu sein, die zurückgewiesen sind. Dies ist eine Bewegung „nach unten“. Wenn mich jemand in der Tiefe meines Seins berührt, dort wo ich es nicht mehr notwendig habe, besser zu sein als andere, das ist eine Befreiung, eine Befreiung, ganz ich selbst sein zu dürfen wie ich bin. Fundamentale Freude entsteht, Menschen zu treffen, nicht über ihnen stehend, nicht unter ihnen, sondern auf Augenhöhe als Kinder Gottes.

Fragen zum Nachdenken:

Wie wurde in meiner Familie mit Schwäche (Krankheit, Scheitern..)umgegangen?

Wie gehe ich selbst mit Schwäche und Schwächung um (auch in Bezug auf andere)? Kann ich andere um Hilfe bitten?

Habe ich Menschen in meinem Freundeskreis, die zu den „Schwachen“ gehören?

Literatur zur Vertiefung:

Jean Vanier, Ich und Du: dem anderen als Mensch begegnen

Jean Vanier, Weites Herz: Dem Geheimnis der Liebe auf der Spur, Meditationen

Brené Brown, Verletzlichkeit macht stark, Wie wir unsere Schutzmechanismen aufgeben und innerlich reich werden

Fulbert Steffensky, Mut zur Endlichkeit, Sterben in einer Gesellschaft der Sieger, Stuttgart 2007

Film:„Mephisto“ mit Klaus Maria Brandauer, der zeigt wie verheerend sich ein im Nationalsozialismus propagierter „Kult der Stärke“  auf Einzelne ausgewirkt hat.