Seelenreisen-der Weg des Parzival

Zu allen Zeiten wurde der Lebensweg von Menschen mit Reise und dem Wegmotiv verbunden: Odysseus in Homer`s Epos , Abraham oder Mose im Alten Testament oder die göttliche Komödie von Dante geben davon ein literarisches Zeugnis. Viele Mythen und Legenden, auch die Ritterromane des Mittelalters, schildern in symbolischer Sprache, welche Gefahren und Abenteuer auf dem Lebensweg zu bestehen sind bei der Suche nach einem sinnvollen und authentischem Leben. Im Grund ließe sich jeder Lebensweg mit etwas Phantasie als eine Abenteuergeschichte erzählen. Das „Unterwegssein“ ist dabei vorallem als Reise der Seele zu verstehen, als Wandlungsweg, auf dem es Um- und Irrwege, Selber-machen und Geführt-werden, Verzweiflung und Erlösung gibt.

Wolfram von Eschenbach (1170-1220) hat eine Geschichte auf deutsch aufgeschrieben, die erstmals im 12. Jahrhundert von dem französischen Dichter Cretien de Troyes noch unvollendet schriftlich vorlag; es ist die Geschichte von Parzival und seiner Suche nach dem heiligen Gral, dies ist eine symbolische Erzählung, die beschreibt wie wir über Fehler, Schuld und Umwege, Erkenntnis gewinnen und schließlich zur Erfüllung unseres Lebensauftrages heranreifen können. Die Parzivalerzählung beschreibt einen Wandlungs- und Reifungsweg, der mit der Gralssuche auch die spirituelle Suche des Menschen einbezieht (leider wurde diese zeitlose archetypisch Geschichte auch von den Nazis und deren Zwecke missbraucht!)
Ich möchte die Parzivalerzählung aufgreifen, weil große Mythen der Seele Raum geben, die eigene Lebensgeschichte darin zu entdecken
Die Geschichte lässt sich kurz so zusammenfassen: Parzival`s Mutter Herzeloide (Herzleid, schweres Herz) will nach dem Tod ihres Mannes, ihren Sohn Parzival (Name steht für „vollkommener Narr“)vor der kriegerischen und aggressiven Welt verstecken; sie verheimlicht ihm dessen königliche Herkunft und zieht ihn in einer Waldwildnis auf. Doch bei einem seiner Streifzüge entdeckt Parzival drei glanzvolle Ritter, ist von deren männlicher Energie fasziniert und will aus der mütterlichen Geborgenheit (in einer Welt ohne Vater) zum Hofe von König Artus ausziehen, um wie jene zu werden.

Seine Mutter näht ihm ein Narrengewand, damit man ihn in der gefährlichen Welt draußen nicht so ernst nimmt. Wie zu erwarten, richtet der naive Parzival zuerst einmal Schaden an: er erschlägt mit Glück einen gefährlichen Ritter, schlüpft in dessen Rüstung und ist damit mit Machtinsignien ausgestattet, für die es in seinem Inneren keine Entsprechung gibt. Unter der Rüstung behält er das Gewand seiner Mutter an, ist also trotz glanzvoller Rüstung weiterhin ein Muttersöhnchen.
Auch in der Liebe ist Parzival naiv und es wird deutlich, dass er noch unfähig ist zu echter Liebe und Beziehung. Zu konform befolgt er auch die Regeln des Hofes und seiner Mutter, weil er alles richtig machen will. Noch ist er für seine eigentliche Lebensreise zu angepasst. Er ahnt auch nicht ansatzweise seine wahre Bestimmung: nämlich den Gral zu finden (der Gral-ein heiliger Kelche, Schale ist  letztlich ein Symbol für die Gottsuche)und König zu werden, der das zerstörte Land heilt. Als er dann eher zufällig das Gralsschloss (auch ein Symbol für die Seele) findet, stellt er dem verwundeten und kraftlosen Gralskönig Anfortas nicht die entscheidende Frage „Woran leidest du?“ und verpasst so dessen Erlösung.

Der schöne Parzival gefällt sich zunächst am Tisch der Tafelrunde von Artus, dieser mächtigen Männerrunde, aus den Stärksten, Besten und Erfolgreichsten. Eine Wendung geschieht erst durch die Hexe und Gralsbotin Kundry. Jene ist hässlich, aber gebildet und vorallem mitleidsfähig; sie stört die Männerharmonie der Tafelrunde, verflucht Parzival für das Unterlassen der Erlösungsfrage, die König Anfortas erlöst hätte.

Durch Kundry werden Parzival seine inneren Schwächen bewusst. Es fehlt ihm vorallem an Empathie für Verwundete, an Mitleid für Schwache, an Erbarmen und Treue. Sein Versagen sei auch ein Versagen vor Gott. Parzival steht für den naiven Mann, der sein Leben verklärt und sich einzig mit seinen Erfolgen identifiziert; er hat kein Bewusstsein für die eigenen Schattenseiten und Schwächen. Erst im Verlassen des schönen Scheins von Macht und Erfolg, durch Scheitern und Schuldeinsicht, kann er weiter reifen.
Parzival muss noch einmal hinaus in die Wildnis und Ödnis. Dort irrt er zunächst ziellos umher, erlebt den gesellschaftlichen Tod, begegnet seinem Versagen und seinen Schattenseiten, ist fern von Gott. Doch er bekommt auch Hilfe und Unterstützung. Ein Weg, der notwendig ist, um seine Lebensaufgabe zu erfüllen .

Das erinnert uns an Situationen, wo uns all das aufgeht, was in unserem eigenen Leben falsch und Lebenslüge war; Situationen, an denen uns die Kontrolle über unser Leben abhanden gekommen ist und scheinbare Sicherheiten und Identifikationen zerbrechen. „Einzig unsere Wunden sind demütigend genug, um unser Festhalten am falschen Selbst aufzubrechen, und zugleich stark genug, um unser Verlangen nach dem wahren Selbst zu wecken“, schreibt der Franziskaner Richard Rohr in seinem Buch Adam`s Return (deutsch, S.71)
Erst der „Geläuterte“ und zum Mitleid fähige, kann das Land erlösen und zur eigenen Wahrheit hinfinden. Der naive Parzival muss „sterben“, d.h. sein altes Ego loslassen, damit er zu Größerem fähig wird. Als Parzival die Zügel seines Kampfrosses loslässt, bringt ihn jenes zum Gralsschloss, wo er die entscheidende Frage stellen kann und als geläuterter König das Land erlösen kann.

Impuls zum Nachdenken:
Welche Stelle der Geschichte kommt mir bezüglich meines eigenen Lebens bekannt vor?
Welcher Entwicklungsschritt könnte bei mir anstehen?
Wem kann ich (aus Mitleid, nicht aus Neugier)die Frage stellen: „Woran leidest du?“
Schreibe dein Leben als Abenteuergeschichte auf!

Literatur zum Vertiefen:
Auguste Lechner, Parzival: Auf der Suche nach der Gralsburg, Taschenbuch – 1979, dies ist ein leicht zu lesende Wiedergabe in einer zeitgemäßen Sprache, sehr empfehlenswert (auch für Jugendliche)

Eschenbach, Wolfram von: Parzival 1 + Parzival II, Text und Kommentar, Mittelhochdeutsch und Hochdeutsch, übertragen von Dieter Kühn, Deutscher Klassiker Verlag, Frankfurt 2015