Reinhard Kardinal Marx sagte auf einer Podiumsdiskussion in einem Berliner Theater über den Begriff „christliches Abendland“ : „Davon halte ich nicht viel, weil der Begriff vor allem ausgrenzend ist.“ Er verkenne die „große Herausforderung, in Europa dafür zu sorgen, dass verschiedene Religionen mit jeweils eigenen Wahrheitsansprüchen friedlich zusammenleben“.(vgl dazu:https://www.domradio.de/themen/kirche-und-politik/2019-01-18/glaube-ist-die-seele-europas-debatte-um-begriff-christliches-abendland-entbrannt).
Rechtspopulisten bedienen sich heute gern des Begriffes vom christlichen Abendland, auch um die eigene (deutsche) Identität abzugrenzen und zu festigen im Unterschied zu Menschen und Völkern anderer Kultur und anderen (vorallem muslimischen) Glaubens. Der Begriff des Abendlandes wird so instrumentalisiert für die je eigenen politische Zwecke.
Aus christlicher Perspektive gibt es gegen den Versuch, eine Identität zu sichern, die auf Abgrenzung und Ausschluss anderer beruht, einiges einzuwenden. Ein breiter christlicher Traditionsstrom macht deutlich, dass wahre und tiefe Identität sich in der Begegnung mit dem Anderen, auch Fremden entwickelt. Wahre Identität – so schwierig dieser Begriff auch sein mag- entsteht nicht durch krampfhafte Absicherung des eigenen Ich und der eigenen Bezugsgruppe, sondern durch eine Reise, die über mich hinaus führt. Eine Reise zum Anderen, zum Fremden und Unbekannten, theologisch gesprochen zu Gott, und von dort wieder zurück zum eigenen Selbst. Um zu mir selbst zu kommen, nehme ich den Umweg über ein Anderes, einen Anderen, theologisch gesprochen über ein göttliches „Du“ , das mir „innerlicher ist als ich mir selbst“ wie Augustinus es in seinen „Bekenntnissen“ ausdrückt.(vgl. Augustinus, Confessiones III, 6,11) In der Begegnung mit dem Anderen meiner selbst wird es möglich die eigene Identität, mein wahres Selbst zu entdecken.
So schreibt Paulus: „Nicht mehr ich lebe, sondern Christus lebt in mir“(Galater 2,20). In solch mystischer Erfahrung wird das eigene Ich fundiert und in einen größeren, metaphysischen Kontext eingewoben. Für Paulus ist es Christus und durch Ihn der liebende Gott, welcher wahre Identität stiftet (statt des irrigen Versuchs sich seiner selbst sicher zu werden durch Ausschluss, Abgrenzung und Fremdenhass wie es Populisten weltweit propagieren)
Identität entsteht für den Christen dadurch, dass er von einem Anderen, genau gesagt von den liebenden Augen Gottes, angeschaut wird und dadurch zu seiner inneren Einheit und zum Frieden gelangt.(so ähnlich drückt es Bernhard von Clairvaux aus). Im Bezogensein auf den ganz Anderen, werde ich ganz ich selbst. Ich komme zu mir, indem ich mich, -mein Ego-, verlasse, eine spirituelle Reise mache, um dann anders und neu zu mir zurück zu kommen. Bei einer solchen Reise beginne ich womöglich zu ahnen, wer ich „verborgen in Gott“(Kolosser,3,3) schon immer bin.
Der Dichter T.S.Eliot drückt es in seiner Spätdichtung „Four Quartetts“ (zwischen 1935 und 1942 entstanden)sehr treffend aus, wenn er schreibt: „Wir lassen niemals vom Entdecken/Und am Ende allen Entdeckens/Langen wir, wo wir losliefen, an/ Und kennen diesen Ort zum ersten mal.//“
Doch ohne Reise, ohne Aufbruch, ohne die Bereitschaft, über mich und meinen Horizont hinauszuschauen, und mich in Beziehung zu wagen, bleibe ich wie es Martin Luther ausdrückte, der in sich verkrümmte Mensch, der sich ängstlich und krampfhaft absichern muss gegen die bedrohlich Fremden und Anderen. Ein solcher Mensch bleibt immer nur auf sich selbst bezogen: mein Haus, meine Familie, meine Gruppe, mein Volk, meine Erfolge, mein guter Ruf…und dies ein Leben lang zu verteidigen und abzusichern. Ein solcher „Homo incurvatus in se ipse“, missbraucht nach Luther die ihm geschenkten und zur Verfügung gestellten Gaben und Talente ausschließlich für sich selbst und isoliert sich so vom Mitmenschen und von Gott. Nach Luther stellt das die eigentliche Sündhaftigkeit des Menschen dar.
Umgekehrt entsteht wahre Identität aber nur dadurch, dass ich fähig werde, mich selbst zu überschreiten, mein Ego zu verlassen und mich sinnstiftend für andere zu engagieren in der tiefen Erfahrung der Verbundenheit allen Seins, -auch im Leiden und der Fragmentarität des Lebens. Viele, die sich jenseits vieler (finanzieller und ideologischer) Absicherungen oder nur persönlicher Glückssuche, für andere engagieren, berichten davon, dass sie vielfach mit tieferem Glück und Sinn beschenkt wurden und dabei zugleich unbeabsichtigt tiefer zu sich selbst gefunden haben.
Der preisgekrönte Film „Greenbook“ von Peter Farrelly beschreibt sehr schön, wie eine solche Reise von zwei völlig unterschiedlichen Menschen, zu einem neuen Selbstverständnis und zur Wandlung festgefahrener Überzeugungen und Vorurteile führt. Jeder der beiden Männer, die gemeinsam eine ungewöhnliche Reise machen, kommt neu bei sich selbst an.
Zum Begriff Abendland :
„Der Begriff ist als Entsprechung zu der durch die Luther-Bibel geläufig gewordenen Übersetzung „Morgenland“ für lat. oriens entstanden, wurde jedoch gemeinhin nicht eigentlich als geographischer Begriff, sondern als Kennzeichnung für die kulturelle Gemeinsamkeit und Eigenart des lateinischen Westens verstanden. Dieser ist – anders als der politisch und kirchlich auf Byzanz orientierte Raum des östlichen Christentums – durch die Verbindung von Antike und Christentum und das in ihm zeitweilig dominante Element des Germanentums geprägt. In andere Sprachen kaum übersetzbar, wird Abendland dort meist mit Europa gleichgesetzt, das dann wiederum nicht geographisch, sondern kulturell als Raum der Latinität begriffen werden muss. Politisch hat der Begriff Abendland erst im Laufe des 20. Jahrhunderts gewirkt, weil die Rückwendung der Romantik zur Geschichte des Mittelalters literarischer Natur blieb. (Konrad-Adenauer-Stiftung“; vgl dazuhttps://www.domradio.de/themen/%C3%B6kumene/2019-01-11/kardinal-marx-kritisiert-begriff-christliches-abendland)