Es gibt adventliche Momente im Leben, die sich wie Fegefeuer anfühlen, weil man plötzlich Durchblick bekommt. Da gehen uns die Augen auf und es fällt wie Schuppen von den Augen: wir sehen unseren Schwächen, Fehler, all das Zerbrochene, all das, was nicht geklappt hat im Leben, die gescheiterten Bemühungen, und wir spüren den Riss, der sich durch unseren Körper und unsere Seele zieht. Wir spüren den Schmerz über das erlebte Böse, und auch das Böse und Erniedrigende, das wir anderen angetan haben, die vorschnellen Verurteilungen anderer, die ganze Schuldhaftigkeit des eigenen Handelns. Wir sehen im Licht den dunklen Schatten, der in unserem Leben mitgezogen ist, und sogar im scheinbar Guten noch anwesend war. Die Düsternis, die Verwirrung, der Zweifel, die Faulheit und Trägheit für die gute Wahl und die gute Entscheidungen, die Enttäuschungen und Selbsttäuschungen, die Illusionen und Fehleinschätzungen unseres Lebens werden evident. Es gehen uns wie im Fegefeuer die Augen auf für unsere ganze Sündhaftigkeit, und die immer unzureichend bleibenden Versuche, sich heraus zu reden aus echter Schuld, sich als Opfer der Umstände zu präsentieren, sich etwas schönzureden und die Schuld auf andere abzuwälzen….. es bleibt mit den geöffneten Augen ein unabwendbarer Schmerz, über das ungelebte und verpasste Leben, über das falsche Selbst mit seiner Unaufrichtigkeit, Falschheit und Verlogenheit, über den Verrat an der Wahrheit. Der Schmerz über die Verschmutzung der eigenen Seele mit Giftstoffen und geistigem Müll. Der Schmerz steigt auf über den Sieg des Mißtrauens über das Vertrauen. Wir sehen unserem falschen Selbst in die Augen, das sich wichtig machen musste, das siegen und triumphieren wollte , das besser sein wollte als andere- die ganze Selbstdarstellung und Wichtigtuerei aus Angst, nichts wert zu sein, aus einem Mangel am Glauben, geliebt zu sein. Es gehen die Augen auf über den Verrat, nicht nur am eigenen wahren Selbst, sondern über den Verrat an der Liebe für andere, an der Empathie, am Mitgefühl.
Und dann der Schmerz darüber, sich mehr genommen zu haben als man nötig hatte auf Kosten anderer, die das Leben begleitende Gier, zu kurz zu kommen wird sichtbar. Und dann die Scham darüber ungeduldig, unbeherrscht, willkürlich, tyrannisch den Wilen zur Macht gesucht zu haben und dabei andere entmutigt und niedergedrückt zu haben. Wir sehen in diesen adventlichen Lichtmomenten unserer Kontrollsucht in die Augen, dem Fanatischen und den Scharfrichteranteilen in unser Seele, und wir treffen im Fegefeuer unsere Sucht, unser Klammern und Festhalten an Überlebtem; wir sehen unsere Unfähigkeit, nein zu sagen, wo wir überfordert waren, zu widersprechen, wo unsere Überzeugungen zertrümmert wurden, Abstand zu nehmen, von all dem unserer Seele Übergestülptem, die Unfähigkeit die Fesseln zu lösen……, wir sehen unser ganzes Versagen, unsere Kläglichkeit, unsere Kleinheit und unser Unbedeutet-sein im großen Lauf der Weltgeschichte.
Was ist zu tun?
Die Kunst des Loslassens wird zur Kunst des Überlebens; Loslassen heißt auch vergeben, sich vergeben und vergeben lassen, sich all das vergeben, was im Leben armselig, gebrochen und unerfüllt geblieben ist, sich die falschen Selbst- und Gottesbilder vergeben, sich die Blindheit oder Starrheit vergeben, der Realität selbst vergeben, dass sie nicht anders ist als sie ist.
Fallen, loslassen, sich sinken lassen (in den grundlosen Grund) und dabei auch sich selbst vergeben, und dabei befreit werden zur Einsicht, schon immer geliebt worden zu sein („Du bist mit ewiger Liebe geliebt“, Jeremia)und zur Einsicht gelangen , dass all der Mist und die Anstrengungen sich wichtig zu machen, überflüssig waren, befreit werden vom falschen Selbst , von all den aufgeblähten wie den kleinmachenden Selbstbildern, befreit werden von den entfremdenden Systemen der Familie, der Kirche, der Gesellschaft, die uns etwas aufgezwungen haben, was nicht unser Eigenes war. Befreit werden für das unendliche Geheimnis, das Liebe ist und Liebe bewirkt. Befreit von allen Gewissheiten und falschen Selbstsicherheiten, jetzt offen genug, sich dem Strom des Lebens anzuvertrauen ohne Blockaden. „Und er läßt es gehen, alles wie es geht..“, herausgetreten aus dem falschen Selbst, aus dem Haus der Sorgen und der Verschleierungen, offen für den Himmel. Alles Vergangene vorbei sein lassen, weg, ganz weg- , die Armut, die sich nichts mehr beweisen muss, die große Leere, die alles empfangen kann, und die Gott anzieht. „Denn ich lasse dich genesen/ und heile dich von deinen Wunden (Jeremia 30, 17)