Pflanzliches Wachstum
Kinder in der Grundschule bekommen nicht selten im Biologie- oder Religionsunterricht Grassamen oder Weizenkörner mit nach Hause, die sie mit ihren Eltern in die Erde einpflanzen sollen. Die Grundschüler sollen hautnah erleben wie es ist, wenn etwas wächst und was eine Pflanze für ihr Wachstum braucht: Erde, Sonne , Wasser, Pflege und Zeit. Überall auf dieser Erde ist Wachstum zu beobachten: Blumen, Pflanzen, Bäume, Kinder wachsen , sie sind irgendwann einmal ausgewachsen oder erwachsen. Wachsen scheint einem inneren Lebensgesetz und Ziel zu folgen, ist jedoch nicht unabhängig von äußeren Einflüssen und Gegebenheiten.
Menschliches Wachstum
Gerade menschliches Wachsen bedarf der Unterstützung durch andere (Gespräch, Feedback, Ermutigung…)und ist zuweilen Wachstumsschmerzen ausgesetzt. Menschliches Wachsen geschieht in Beziehungen. „Du sagend, werde ich erst ich“, sagt Martin Buber. Wachstum und Entfaltung kann gefördert, aber auch behindert werden. Die Chancen körperlich, psychisch und geistig zu wachsen, sind auf dieser Welt eindeutig ungerecht verteilt. Kinder in Eritrea, Bangladesh oder Moldawien scheinen eindeutig weniger Wachstumsimpulse zu bekommen wie Kinder und Jugendliche in Deutschland oder Amerika.
Gefahren ungebremsten Wachstums
Anzumerken ist an dieser Stelle auch, dass Wachstum nicht immer und automatisch mit etwas Gutem verbunden werden darf. Gerade im gesellschaftlichen Bereich werden viele Menschen , die von einer mit der Wachstumsideologie verbundenen Optimierungserwartung von vornherein ausgeschlossen sind,-also z.B. Menschen auf der Schattenseite des Lebens, Menschen, die von Geburt an benachteiligt und beeinträchtigt sind- , allzu leicht an den Rand gedrängt. Dem Grundsatz „Hauptsache Wachsen“ ist vorallem im wirtschaftlichen Bereich zu misstrauen, zumal rein quantitatives Wachstum ohne Differenzierung und qualitative Neuerungen in Struktur und Gestalt früher oder später in den Bankrott eines Systems führt. (vgl. dazu F. Vester, Unsere Welt-ein vernetztes System, München 1993, S.66f., Vester weist auch auf ein Naturgesetz: „Je höher die Funktion, desto geringer das quantitative, das Mengenwachstum“ ; Intelligenz (= höhere Funktion) beginnt erst, wenn das Wachstum der Gehirnzellen abgeschlossen ist ; zur Gehirnentwicklung: Das Wachstum der 15 Milliarden Gehirnzellen eines Menschen und ihrer Verbindungsfasern von 500.000 Kilometern Gesamtlänge ist praktisch nach der Säuglingszeit abgeschlossen, damit das Denken möglichst früh beginnen kann…
Wachtumsimpulse
Aus den etwas abstrakten Überlegungen zurück ins Konkrete. Auch wenn der innere Antrieb dazu aus unterschiedlichen Gründen verschüttet sein kann, steckt wohl in jedem Menschen ein Wachtumsimpuls jenseits des rein Biologischen. Unterschiedliche Ereignisse können den Wunsch auslösen, moralisch, seelisch, geistig oder spirituell weiter zu wachsen.
Etwa vereinfacht gesagt, gibt es zweierlei Anstoß zum Wachsen.
Erstens gibt es Wachstumsimpulse aus etwas Negativem. Einige Beispiele: ich möchte z.B. selbstständiger, klarer und innerlich freier werden, weil ich spüre, wie viele Abhängigkeiten und Bindungen mich gefangen halten; ich möchte mich aus Suchtmustern (Alkohol, Smartphone, Arbeit….)befreien und lang praktizierte lebenshinderliche Süchte loswerden. Ich möchte mir und anderen gegenüber wahrhaftiger werden, weil ich spüre, dass die Rollen, die ich spiele und die Masken, die ich aufsetze, mein Wesen verdecken. Wachsen bedeutet aus dieser Perspektive, sich aus eingeschliffenen Mustern und von Süchten zu befreien.Aber dann gibt es auch Wachstumsimpulse, die von etwas Positivem inspiriert werden. Einige Beispiele: Menschen, die sich verlieben, wachsen über sich hinaus, verlassen ihr Ego und lassen sich begeistert auf neue, unbekannte Welten ein.
Wachsen an Vorbildern
Wieder andere bekommen durch das Vorbild anderer Menschen einen Impuls zu wachsen. Der kürzlich verstorben Rupert Neudeck, Gründer von Cap Anamur, ein „Extremist“ der Nächstenliebe , der tausende von Menschen vor dem Ertrinken gerettet hat, könnte so einen Anstoß geben, selbst Neues zu wagen und Sicherheiten hinter sich zu lassen.
Auch die Lebensgeschichte des heilige Franziskus (1181/82 bis 1226)könnte einen Wachstumsimpuls schenken: als Wendepunkt dieses durchaus karrierebewussten jungen Mannes, der als Ritter zunächst in Richtung Ansehen, Macht und Ehre wachsen wollte, wird eine alles wandelnde Begegnung geschildert. Franz begegnet einem Aussätzigen, und während es ihm vorher immer bitter vorkommt, jene Ausgesonderten auch nur zu sehen, drängt ihn diesmal etwas , einen aussätzigen Mann zu umarmen; dabei wird das Bittere des vorherigen Gefühls in eine Gefühl der Süßigkeit verwandelt. Auch wenn die mittelalterliche Sprache uns fremd vorkommen mag, wird durch die Schilderung klar, dass sich eine alte Lebensdynamik aufhebt und in eine neue verwandelt: eine Hinwendung, ein Wachsen hin auf Gott, ein neues Denken und Fühlen in der Zuwendung zu den Armen seiner Zeit.
Auch heute passiert es, dass Menschen durch Begegnungen mit obdachlosen, behinderten oder sehr armen Menschen verwandelt werden und ihr Leben in eine ganz neue Richtung wächst, die vorher weder absehbar war noch geplant werden konnte .
Impuls zum Nachdenken: :
Was hat mich bisher in meinem Leben menschlich wachsen lassen?
Was bremst mein (inneres) Wachstum?
Woraufhin möchte ich noch wachsen?
Literaturempfehlungen:
Katharina Kluitmann, Wachsen-über mich hinaus, Würzburg 2014
Anselm Grün, Auf dem Wege, Münsterschwarzach 1983
Rupert Neudeck, Radikal leben, Gütersloh 2014