Selbstwerdung

„Der, der ich bin, grüßt traurig den, der ich sein könnte“, dieser Satz aus einem Gedicht von Friedrich Hebbel kommt uns zuweilen auch in den Sinn, wenn wir in den Spiegel schauen und dabei unser Blick hinunter in die Tiefe der Seele  rutscht:  Unerfüllte Träume, Vorhaben, die nicht gelungen sind, gescheiterte Beziehungen, Verletzungen, die wir anderen zugefügt haben, Situationen, wo wir uns verraten haben…..  Und manchmal geht es uns dann wie Adam in der Schöpfungsgeschichte (vgl.  Genesis 3, 9), der sich angesichts der  Fehler und Fehlschläge seines Lebens armselig und nackt vorkommt,  sich schämt und versteckt. Und trotzdem findet ihn die Frage: „Adam, wo bist du?“

Die Frage ist nicht örtlich gemeint  und es handelt sich um keine Geschichte aus  ferner Vergangenheit, sondern um eine direkte Frage an uns jetzt:

Wo sind meine Wurzeln? Wo stehe ich jetzt? Wo und wer bin ich? Was ist aus mir und meinem Leben geworden? Was habe ich aus und mit meinem Leben gemacht?  Wohin geht mein Leben noch?

(Titel: „Auf werde Licht“ , Acryl auf Leinwand, 1x1Meter,  von Gustav Schädlich-Buter)

Letztlich helfen weder in der Geschichte  des Buches Genesis, die  im Alten Testament aufgeschrieben ist, noch im richtigen Leben, Ausflüchte und Ausredemanöver (wie Eva sei an der Misere Schuld oder die Schlange oder die Eltern…. ) Ich  komme nur weiter, wenn ich  ehrlich mit mir selbst bin. Es geht um eine Bestandsaufnahme meines Lebens ohne Schönfärberei. Und darum für dieses, mein eigenes Leben Verantwortung zu übernehmen.

Dabei darf ich  durchaus barmherzig mit mir selbst sein, wenn ich auf mein  Geworden-sein samt aller Fehler und Brüche schaue;  auch dann, wenn ich im nachhinein manches mir womöglich  anders gewünscht hätte.

Auch der anfangs zitierte Spruch  von Friedrich Hebbel lässt  eine optimistischere Deutung zu, die in die Zukunft weist. In unserem Leben steckt ein Hoffnungspotential und ein Ziel; denn der, der ich werden und sein kann, bin immer „ich selbst“, so wie ich von Gott her gemeint bin. Es geht also darum,  immer mehr sein wahres Ich zu finden .

Wir alle wissen, dass „ich selbst werden“ nicht einfach ist,  zumal wir vielfach fremd bestimmt werden: vom eigenen Selbstbild (gleich, ob positiv oder negativ),  von den Vorurteilen anderer über uns, von  den Rollenzuschreibungen und  der Macht anderer über uns oder den eigenen überzogenen Erwartungen.

Am Ende des  Lebens, wird wohl keiner von uns gefragt  werden: warum bist du nicht Ministerpräsidentin, Chef einer großen Firma  oder Pablo Picasso geworden, sondern warum bist du nicht Hans, Mirjam  oder Agnes  geworden. Es geht um die Gestaltung  meiner eigenen Identität. Dazu  muss ich aber heraus finden, wer ich  selbst bin , wofür ich auf die Welt gekommen bin,  ohne dabei  meine tiefste Identität mit den Bilder zu  verwechseln, die andere oder ich  selbst von mir gemacht haben.

Für den  Dichtermönch Thomas Merton fällt Selbstsein und Heiligsein zusammen: „ Für mich besteht die Heiligkeit darin, dass ich ich selbst bin, und für dich, dass du du selbst bist…Für mich bedeutet heilig sein: ich selbst sein. Deshalb ist das Problem der Heiligkeit tatsächlich die Aufgabe, mein wahres Ich zu entdecken.“ (Tom Merton, Verheißungen der Stille, 1957, 24)

Ein Mensch wird dort  ganz heil, wo er ganz er selbst werden kann.  Im ganzen Leben geht es daher aus spiritueller Sicht darum, immer mehr ich selbst zu werden, das zu werden und konkret zu verwirklichen,  was keimhaft in mir angelegt ist.

Um mehr ich selbst zu werden, muss ich einen innersten Bereich in mir suchen und  entdecken, wo niemand anders Macht über mich hat.  Letztlich kennt Gott allein das Geheimnis meines Wesens und „kann mich zu dem machen, der ich sein werde, wenn ich endlich beginne voll und ganz zu sein.“ (a.a.O., ebd.25)

Impuls zur Inventur:

Stellen sie sich folgende Fragen:  Wo stehe ich jetzt?  Was ist aus mir und meinem Leben geworden?  Wer bin ich? Was suche ich? Wohin geht mein Leben noch?

Denken Sie über folgende Fragen nach, die Anton Rotzetter gestellt hat:

„Der Mensch definiert sich biblisch gesehen als ´Ebenbild Gottes`. Aber bin ich das- ein Ebenbild Gottes?…Bin ich, was ich sein kann? Eine Spiegelung Gottes in der Welt, sein Herz, seine Hände, seine Füße? Bin ich kreativ, schöpferisch; bringe ich Leben hervor, richte ich auf, wie das Gott durch mich tun will? Bin ich der Schöpfung väterlich, mütterlich zugewandt. Ein Gärtner, eine Gärtnerin…Oder habe ich, haben wir uns losgekettet von Gott? Absolut gesetzt? Bin ich dem Allmachtswahn verfallen? Und glaube alles machen zu dürfen?….Sind wir nicht in eine spirituelle Depression geraten, weil wir uns losgerissen haben, von dem Gott, der uns lebendig macht? So trifft uns Gottes Ruf: Mensch, wo bist du?“(Anton Rotzetter, Streicheln, mästen töten, …Freiburg im Br.2012, S. S.178)

Literaturempfehlung:

Lambert, Das siebenfach Ja, Exerzitien-ein Weg zum Leben, Ignatianische Impulse Band 1 Würzburg 2010, S.11)

Tom Merton, Zeiten  der Stille, übersetzt von Bernardin Schellenberger, Freiburg im Br.1992

Patrick Hart, Jonathan Montaldo(Hg.), Thomas Merton, Der Mönch der sieben Stufen, Ein Leben in Selbstzeugnissen, Düsseldorf 2000

Anton Rotzetter, Streicheln, mästen töten, …Freiburg im Br.2012