Narben der Seele

Viele von uns tragen Narben an ihrem Körper…Narben sind sichtbare Zeichen von einer Wunde, meist von einem schmerzhaften Ereignis im Leben; sie erzählen von einem Sturz, einem Unfall, einer Operation oder einer Kriegsverletzung… Narben erinnern uns an etwas in der Vergangenheit Geschehenes, und erzählen uns meist eine Geschichte, wenn wir ihnen Beachtung schenken.  Die Narben haben die einstmals offene Wunde verschlossen, ein schützendes Gewebe gebildet, den Riss auf der Haut, in den Muskeln… verschlossen, so dass die offene Wunde nicht mehr blutet.

Aber es gibt auch die unsichtbaren Wunden der Seele, – Enttäuschungen, Untreue, Verrat, entbehrte Liebe, Nicht-Beachtung, Schuldgefühle, Ablehnung Scheitern im Beruf, Verlassenheitsgefühle, missbrauchtes Vertrauen, Scham, zu existieren, Verluste von Beziehungspersonen, …-, die manchmal unerkannt, und vom Bewusstsein verdrängt in uns schlummern und gerade dadurch unser Leben und Lebensgefühl tiefgreifend beeinflussen und steuern.

Nicht bearbeitete oder allzu leicht vergebene Kränkungen in Beziehungen zum Beispiel können eitern und unser Inneres vergiften, womit verhindert wird, dass die Wunden wirklich zuheilen und vernarben können. Dann ist es wichtig, die Wunde noch einmal anzuschauen, so als ob man einen schlechten Verband öffnet, um Luft ranzulassen, damit die mit einer Kränkung verbundenen Gefühle wahrgenommen werden können, und Vergebung möglich wird, damit der erlebte Riss vernarben kann.

Unter unseren Narben, liegt manchmal noch Unbewältigtes und noch nicht wirklich Verarbeitetes, was ans Licht drängt. In unserer Zeit aber, in der wir viel Wert auf Schein und auf eine makellose Fassade legen, verbergen wir unsere Wunden lieber und setzen auf vorweisbare Stärken. Der Künstler Joseph Beuys hat einmal in seiner Kunstinstallation „Zeige deine Wunde“ mitten in München, unseren Blick dahingelenkt, wo es wehtut, kränkend oder beschämend ist, sicher auch um auf die Zerbrechlichkeit und Endlichkeit der menschlichen Existenz hinzuweisen.

„Es ist ein Riss in allen Dingen, aber genauso kommt das Licht hinein… “ (There is a crack in everywhere, that`s how the light gets in), singt der Rockpoet Leonhard Cohen in seinem Lied Anthem.  Soll aber angesichts des „Risses“ Licht einfallen und wirkliche Heilung geschehen, muss die Wunde wahrgenommen und die damit verbundene Situation der Kränkung oder des Mangels an erfahrener Liebe und Zuwendung betrauert werden. Dann kann die Bruchstelle zum Einfallstor für neues Leben werden und einen heilenden Neuanfang ermöglichen.

Ein Kollege erzählte mir von seinem Vater, der ihn als jungen Mann nie wirklich anerkannt und wertgeschätzt hatte. Immer wenn er ähnliche Demütigungen und Kränkungen später erlebte, fühlte es sich für ihn so an, als ob sein Herz blutet. Erst als er aufhörte, seinem Vater Vorwürfe zu machen, er dessen Lebensschicksal besser verstand, und ihm für den Mangel an geschenkter Liebe mit viel Tränen vergeben konnte, heilte seine Herzwunde; die Narbe, die zurückblieb, war für ihn Erinnerung, in seinem Leben und seiner Arbeit, besonders jungen Menschen Wertschätzung und Anerkennung zu schenken.  Auf diese Weise vernarben Wunden nicht nur, sondern verwandeln sich in Perlen, die anderen Leben schenken.

Er ist zum „Verwundete Heiler“ geworden, die ihre Lebenswunde transformiert haben und dadurch zum Segen für andere geworden sind. Nelson Mandela, um noch ein Beispiel zu nennen, hat nach fast drei Jahrzehnten demütigender Haft aufgrund seines Widerstandes gegen die Apartheit in seiner Heimat, vergeben können und wesentlich zur Versöhnung zwischen Schwarzen und Weißen und zu einem gleichheitsorientierten demokratischen Staatswesen in Südafrika beigetragen.

Die Narben an unserem Körper, aber auch in unserer Seele gehören zu unserer Lebensgeschichte, zu unserem Schicksal, und brauchen manchmal neu unsere Aufmerksamkeit, machen uns fähig zur Empathie für Andere, die ähnliche Wunden an Leib und Seele tragen. 

Impuls zum Nachdenken:

Welche Narben gehören zu mir und welche Geschichte erzählen sie?

Wie heißen die Wunden meines Lebens?

Gustav Schädlich-Buter