„Nicht müde werden/ sondern dem Wunder / leise/ wie einem Vogel / die Hand hinhalten“//Hilde Domin, in: Sämtliche Gedichte. Mit einem Nachwort von Ruth Klüger. Hrsg. von Nikola Herweg. Frankfurt a.M. 2009.)
Diese Verse stammen von der jüdischen Lyrikerin Hilde Domin (frühere Hilde Palm; 1909 in Köln geboren ; 2006 in Heidelberg gestorben), die als junge Frau vor den nationalsozialistischen Umtrieben ins Exil floh. Ihre Gedichte spiegeln nicht nur das Schicksal ihres Volkes wieder- Vertreibung, Flucht, Heimatlosigkeit und Heimatsuche-, sondern enthalten wie das oben zitierte Gedicht auch eine Empfehlung trotz allem, sich für das Wunder des Lebens vertrauensvoll bereit zu halten.
Wunder erleben wir nicht in der Haltung der Gleichgültigkeit und Selbstverständlichkeit. Wer ein Wunder erleben will, muss das Selbstverständliche seines Sehens, Denkens und seiner Lebensmuster verlassen. Dem Wunder die Hand hinhalten bedeutet, offen zu sein für Überraschungen und das Staunen wieder zu lernen.
Nichts ist im Grunde selbstverständlich: weder der Augenblick, in dem sich Mensch und Mensch begegnet, noch das Aufblühen einer Blume oder eines Menschen; weder meine Kraft, mich selbstlos für andere einzusetzen noch dass mir selbst geholfen wird. Selbstverständlich ist es auch nicht, dass ich jemand lieben oder verzeihen kann; der Mut zum Leben nach Verzweiflung oder Krankheit ist ebenso wenig selbstverständlich wie ein Gottvertrauen, bei dem ich mich vertrauensvoll in die Hände einer anderen Macht begebe. Wunder sind erlebbar, wenn wir mit offenen Augen und offener Seele die Wirklichkeit wahrnehmen.
Doch oft rennen wir am Wunder vorbei, haben den Sinn für das Überraschende und das Alltagswunder verloren. Wer durch die Straßen einer Großstadt läuft, gewinnt manchmal den Eindruck, dass die Menschen wie gehetzt und getrieben, fast bewusstlos einem blinden Vorwärtsdrang folgen. Wie Gejagte vom Zwang des Mithalten-wollens und –müssens, gehetzt von Terminen und Aufträgen, können sie nicht mehr anhalten…..immer weiter, immer mehr…
Aber wer im Leben bloß vorwärts stürmt, der wird sich eines Tages traurig, leer und verbittert wiederfinden. Die Schätze und Wunder des eigenen Lebens, – das in der Tiefe Erlebte, Erlittene und Durchgestandene- werden zu oft übersehen. Dem Wunder die Hand hinzuhalten aber bedeutet, sich erinnernd in die Tiefe zu wagen. Am Grund unserer Seele, steht die Schatzkiste des eigenen Lebens bereit und will geöffnet werden.
Wir brauchen immer wieder Abstand und Zeit, um unser Leben zu verstehen, das Erlebte zu verdauen und das Kostbare sich anzueignen. Dem Wunder die Hand hinzuhalten kann heißen, leise und nachdenklich zu werden, einmal innezuhalten (womöglich gerade im Moment, wo der Arbeitsdruck am stärksten erlebt wird), für einen Augenblick aus dem Fenster zu schauen und „wahr“ zu nehmen: die weißen Wolken am blauen Herbsthimmel in ihrer Schönheit , die bunten Bäume und fallenden Blätter; oder draußen: die klare Luft einatmen und die letzten noch warmen Sonnenstrahlen auf seiner Haut spüren….. Wer nachdenklich wird und innehält, spürt womöglich so etwas wie Dankbarkeit. Dankbarkeit für etwas Geschenktes, das ich nicht erleisten muss und brauche, weil es einfach da ist. Ich muss dem Wunder nur leise die Hand hinhalten, dass es in der Seele zu singen beginnt als hätte dort ein Vogel sein Nest.