„Das Kind in der Mitte“ oder Wer ist der Größte?

Sie kamen nach Kafarnaum. Als er (Jesus)dann im Haus war, fragte er sie(die Jünger): Worüber habt ihr unterwegs gesprochen? Sie schwiegen, denn sie hatten unterwegs miteinander darüber gesprochen, wer von ihnen der Größte sei.

Da setzte er sich, rief die Zwölf und sagte zu ihnen:

Wer der Erste sein will, soll der Letzte von allen und der Diener aller sein. Und er stellte ein Kind in ihre Mitte, nahm es in seine Arme und sagte zu ihnen: Wer ein solches Kind um meinetwillen aufnimmt,der nimmt mich auf;wer aber mich aufnimmt,der nimmt nicht nur mich auf,sondern den, der mich gesandt hat.“

(Markus 9,30-37)

Faszination Macht und Größe

Menschen zu allen Zeiten sind fasziniert von Macht, Größe, Einfluss und Wichtigkeit. So auch die Jünger Jesu, die mit Jesus auf dem Weg nach Jerusalem sind, wo auf diesen  Leiden und Tod am Kreuz warten. Doch seine Jünger scheinen recht wenig davon begriffen zu haben; sie streiten und diskutieren nämlich darüber, wer wohl den wichtigsten Posten im Reich Gottes einnehmen wird.

Wer will nicht bedeutsam sein? Wer nicht zu den Besten, Klügsten, Schönsten, Erfolgreichste (und was auch immer)gehören, wer will nicht groß rauskommen und zu den wichtigen Personen gehören …Rankinglisten sind heute beliebt, wer ist oben- wer ist unten, wer ist wichtig, wer unbedeutend ?Vergleich, Konkurrenz und  Wettbewerb sind die Motoren unserer Leistungsgesellschaft.

Die Umkehr der Werte und des Blickwinkels

Doch Jesus lehrt etwas anderes . Er stellt das Denken seiner Jünger und unser eigenes auf den Kopf.  Er krempelt und verändert es gründlich um, er führt ein anderes Wertesystem ein. Und er tut dies, nicht durch große Worte, sondern vor allem durch eine Symbolhandlung. Er nimmt ein Kind in seine Arme und sagt damit :

Groß im Reich Gottes ist, was uns klein erscheint, wichtig im Reich Gottes ist, wer bereit ist, nach unten zu den „Kleinen zu schauen, erster ist, wer bereit ist, auch den auf dem letzten Platz zu beachten oder sich selbst dort nieder zu lassen. Oberer ist, wer bereit ist, sich nach unten zu bewegen. Oder Chef ist, wer seine Mitarbeitern/innen  dient und ihnen ermöglicht, ihr Potential und ihre Talente einzubringen.

Der von Jesu initiierte Perspektivenwechsel fällt uns in der Regel schwer. Er widerspricht dem natürlichen Instinkt nach Dominanz. Doch wer einem Kind oder einem behinderten Menschen im Rollstuhl in die Augen schauen will, muss in die Knie gehen, statt hinauf, Begegnung und Beziehung auf Augenhöhe nur möglich, indem ich bereit bin, mich nach unten zu bewegen. Dies ist die jesuanische Grundbewegung und gehört zentral zur christlichen Geisteshaltung.

Jesus verändert die üblichen Sichtweisen und Perspektiven, wer etwas von seiner Geisteshaltung und von dem, was er das Reich Gottes nennt, begreifen will, der muss den üblichen Blickwinkel und Standort  verlassen. „Wer das Reich Gottes nicht so annimmt wie ein Kind, der wird nicht hineinkommen. “

Stadt der Liebe- Reich Gotes,, Acryl auf Leinwand

In der Tiefe unseres Seins – alle gleich als Kinder Gottes

Dort, wo ich mich hinunterbeuge und einen anderen Menschen in der Tiefe seines Seins, in den Tiefen seiner Seele antreffe, wo ich ihm nichts mehr beweisen muss und mir nicht mehr besser vorkomme als der andere, geschieht eine Befreiung von meinem Ego.

Dort ist der Ort, wo ich erleben kann: Wir alle sind Kinder Gottes geliebt auch mit unseren Lebenswunden und seelischen Verletzungen und trotz unserer Dunkelheiten, unseres Egoismus, unserer Schwächen und schlechten Neigungen.

Es gehört wohl zu den wichtigsten Aufgaben in unserer Glaubensbiografie an dieses bedingungslose Geliebtsein, Bejahtsein und auf dieser Willkommen -geheißen -werden in der Tiefe unserer Existenz glauben zu lernen; und daran, dass wir diese Daseinsberechtigung von unserem Schöpfer nicht erst verdienen müssen, sondern umsonst geschenkt bekommen.

Und noch ein zweites sagt mir das heute gehörte Evangelium:

Wer sich um die „Kleinen dieser Welt“ kümmert, bekommt etwas vom Reich Gottes zu spüren

Im Altertum und auch zur Zeit Jesu gehörten die Kinder zu den schwächsten und am wenigsten geschützten Mitgliedern der Gesellschaft. Wenn Jesus Kinder in die Arme nimmt, sie in die Mitte/Zentrum stellt, schützt und segnet, will er uns darauf aufmerksam machen, dass wer sich um die „Kleinen und Unscheinbaren dieser Welt“ kümmert, bekommt etwas von Gott zu spüren.

Und umgekehrt: dort wo gegenüber dem  „Kind in uns  , den entrechteten, missbrauchten oder durch Krieg in die Flucht getrieben   Kinder dieser Welt und allen Hilflosen und Schwachen dieser Erde Gleichgültigkeit herrscht, läuft etwas gewaltig schief in  Gesellschaft, Politik und Kirche.

Wer hat dabei nicht die Bilder vor Augen, wo Kinder auf giftig schwelenden Müllhalden, nach Verwertbarem suchen, junge Menschen unter unmenschlichen Bedingung in Textilfabriken schuften oder bis auf die Knochen abgemagerte Säuglinge uns mit großen Augen anstarren, weil Dürre, Bürgerkrieg jegliche Versorgung unterbindet.

So betont Papst Franziskus zu Recht, die Glaubwürdigkeit des Evangeliums werde dadurch auf die Probe gestellt, wie Christen auf den Ruf derer antworteten, die weltweit Opfer von Ausschluss, Armut und Konflikten seien.

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