Fragment Leben

Fragmente sind Bruchstücke und übrig gebliebene Reste eines einst Ganzen; fragmentarisch ist das, noch nicht fertig gestellte Bauwerk oder ein unvollendete Kunstwerk (Bild, eine Skulptur, ein literarischer Text…)

Bei Reisen durch ärmere Länder fallen mir oft die unvollendeten oder eingestürzten Bauwerke auf. Einst bewohnte Häuser, die inzwischen zusammengefallen sind, hinterlassen beim Betrachter einen erbärmlichen Eindruck. Bei diesen Bauruinen sind oftmals die Dächer zur Hälfte abgedeckt, Mauerteile eingestürzt, das Glas der Fenster zerbrochen, die Türen aus den Angeln gehoben, die noch vorhandenen Innenräume und Möbel voller Spinnenweben und Staub, einst angelegte Wege enden plötzlich im Nichts. Beim Anblick solcher Häuser tauchen viele Fragen auf: Wen hat dieses Haus einst beherbergt, wo sind die Menschen, die einst darin gelebt haben? Sind sie in eine bessere Gegend umgezogen, in der es sich leichter leben lässt, oder aus irgendeinem Grund geflüchtet oder gar schon verstorben ohne Nachkommen, die das Haus hätten pflegen können….? Welche Geschichten könnten mir diese Ruine erzählen?

Die Trümmer und Bruchstücke eines einst Ganzen halten das Vergangene, das doch endgültig vorbei scheint, noch gegenwärtig. Sie erinnern mich an das Fragmentarische menschlichen Lebens überhaupt, an die in der Geschichte waltende Kräfte, die mit Niedergang und Verlusten zu tun haben. Es sind Trümmer, die ausstrahlen, Bruchstücke, die in der Betrachterseele etwas auslösen. Melancholie und Wehmut können auftauchen, dass womöglich vieles auch im eigenen Leben fragmentarisch, also bruchstückhaft bleiben wird und dies trotz allen Bemühens und aller eigenen Anstrengung. Die Bruchstücke dieser verfallenen Bauten erinnern mich daran, dass im eigenen Leben manches nicht gelungen ist, dass Lebenschancen verpasst wurden und Hoffnungen zerbrochen sind. Kaum ein Leben geht glatt und läuft völlig rund. Risse, Verletzungen, erlittener Schmerz und Verluste überall auf der Welt, auch in der eigenen Seele. Durch Krankheit oder Unfälle abgebrochene Lebensläufe, unvollständig gebliebene Lebenseinsätze, zerbrochene Beziehungen, durch Mauern, Krieg oder Flucht auseinander gerissene Familienbiografien…. „Es ist ein Riss in allen Dingen“ singt Leonhard Cohen im Refrain des Liedes „Anthem“(CD Future, Track 6)

Wir sind „Ruinen der Vergangenheit“ formulierte einst der evangelische Theologe Henning Luther, auch angesichts unseres Versagens, unserer Fehler , aber auch angesichts dessen, was dem Leben angetan wurde ohne eigene Schuld. Unser ganzes Leben sei ein Fragment, und Henning Luther widerspricht damit dem Mythos von der Ganzheitlichkeit und der damit verbundenen „Tyrannei des gelingenden Lebens“ (Gunda Schneider-Flume), die für alle Lebenssituationen passenden Ratgeber bereithält, sogar für`s Sterben, so als könnte alles zurechtgebogen und repariert werden.

Eine Theologie des Fragmentarischen schenkt dem Bruckstückhaften des Lebens, den nicht heilenden Wunden, den unumkehrbaren Einschnitten des Lebens  sein Recht zurück, befreit vom Zwang zur Perfektion. Ich darf unvollkommen sein, mit meinen Schwächen , Verwundungen, Grenzen, Handycaps und Halbheiten leben. Wieviel Druck könnten wir aus unserem Leben nehmen, wenn wir es schaffen würden, auch das Halbgute als wertvoll anzusehen, und unser ganzes, immer bruchstückhaft bleibendes Leben ansehnlich zu empfinden?! Wer sich selbst als unvollkommenen und fragmentarischen Menschen annehmen lernt (mit Hilfe des Glaubens an einen Gott, für den auch das „Schiefgelaufene“ des eigenen Lebens ansehnlich ist), spürt zudem, dass er bedürftig und auf andere angewiesen ist; er lernt dabei auch andere anzunehmen, die ebenfalls nicht vollkommen und perfekt sind. Das bedürftige, verletzliche und angewiesene Wesen Mensch bildet den Gegenpol zum omnipotenten Kraftprotz, der niemand anderen braucht.

Wir sind nicht nur ein Fragment aus Vergangenheit, sondern auch ein „Fragment aus Zukunft“, wie Henning Luther, der 43 jährig starb, ebenfalls formulierte; im Schmerz angesichts des Fragmentarischen und der Verlustgeschichten des Lebens , steckt immer auch eine Sehnsucht und Hoffnung , die über uns hinaus nach vorne in eine Zukunft weist, die es zu erspüren und zu ertasten gilt. Im Trümmerhaufen, mitten in der Ruine, mitten im Fragmentarischen, „auf der Baustelle“ des eigenen Lebens lässt sich etwas von einem Ganzen ahnen, das mit menschlichem Wollen allein nie hergestellt werden kann. Jemand oder etwas anderes fügt die Teile meines Lebens zusammen, und das daraus entstehende Neue ist „mehr“ als die Summe von Bruchteilen. Es ist mein einmaliges Leben.

„…that`s how the light gets in“

„There is a crack in everywhere , that`s how the light get`s in(Es ist ein Riss/Spalt in allen Dingen, aber genau so kommt das Licht hinein)“, vollendet Leonhard Cohen seinen Refrain. Durch die Risse und den Karfreitag des eigenen Lebens, kann plötzlich und unerwartet Licht- „Osterlicht“ hineinfallen, mitten in den „Trümmern und Fragmenten“ (des eigenen Lebens) wachsen Blumen und flattern Schmetterlinge; sie bezeugen Wachstum, Wandlung und Auferstehung, die an uns geschehen. Es geschieht Neuschöpfung im Zerbrochenen

Und Cohen`s Song ermuntert angesichts der Lebensfragmente , nicht aufzugeben oder zu resignieren, sondern die Glocken zu läuten, die noch klingen: “Ring the bells that still can ring/Forget your perfect offering/There is a crack in everything/That’s how the light gets in.” (L.Cohen, Refrain von „Anthem“, auf der CD Future, 1992)

Literatur zur Vertiefung:

Hennig Luther, Leben als Fragment, Der Mythos von Ganzheit, 1991

Gustav Schädlich-Buter