Erkennen

Erkennen

Vieles im Leben erkennen wir erst später in seiner Bedeutung, seiner Dichte, seiner Schönheit und in seinem Wert. Nicht selten erreicht uns tiefere Erkenntnis so spät, weil sie unter dem Schleier des Selbstverständlichen verborgen geblieben ist. In der Erzählung von Judith Hermann mit dem Titel „Kohlen“(Erzählband „Lettipark“), erkennt eine schwerkranke Frau,- die Mutter des kleinen Vincent-, die wegen einer zerbrochenen Liebe todkrank geworden ist-, schwergezeichnet und dem Tode nahe, wie schön die Gesichter der sie Besuchenden gewesen waren, die sie jetzt aber, weil inzwischen erblindet, nicht mehr sehen kann. Widerholt sagt sie „Es ist so schade, dass ich eure schönen Gesichter nicht sehen kann.“ Erst im Angesicht des Vergänglichen und im Unwiederbringlichen geht diese Erkenntnis auf.

Dass unser Erkenntnisvermögen getrübt ist, beschrieb schon der Philosoph Plato in seinem Höhlengleichnis (in „Politeia “, Buch VII): die Menschen hausen seit ihrer Kindheit wie Gefangene gefesselt in einer finsteren Höhle, starren auf eine Felswand und halten die darauf projizierten Schattenbilder für die reale Wirklichkeit.

Auch große Weltreligionen beschreiben die Ausgangserfahrung menschlichen Daseins ähnlich: so sitzt z.B. im Christentum der Mensch anfänglich in der Finsternis und im Schatten des Todes; er muss erst erleuchtet werden (durch Christus – das Licht), um zu wahrer Erkenntnis durchzudringen. Deshalb hieß die frühchristliche Tauffeier Erleuchtungsfeier.

Der Mensch- so wird er zumindest von vielen großen Religionen und Weisheitslehren beschrieben- , scheint an seinem Ausgangspunkt nicht recht durchzublicken, sein Erkenntnis- und Sehvermögen ist getrübt und verfälscht, seine Wahrnehmung undeutlich und verschleiert, er schaut in die falsche Richtung, baut verblendet sein Leben auf Illusionen und Täuschung auf, sein Zustand ist irgendwie gebrochen, er wirkt desorientiert, jedenfalls weit entfernt von seinen besten Möglichkeiten und von der Fülle des Lebens.

Damit wird angedeutet, dass eine zentrale Lebensaufgabe des Menschen darin besteht, zu wahrer Erkenntnis zu gelangen, Schein von Wahrheit zu trennen, Unechtes von Echtem, Verpackung von Inhalt. Wie wir zu wahrer Erkenntnis kommen ist dabei keine abstrakt theoretische Fragestellung, sondern eine sehr existentielle, die mit wichtigen Fragen verbunden ist: Wer bin ich selbst? Was hat es mit meinem Leben auf sich? Wie finde ich meinen Beruf, meine Berufung? Wie und für was soll ich mich entscheiden, wenn ich vor einer Wahl stehe? Für was mich engagieren? Was macht mein Leben sinnvoll? Welchen Stimmen und Motiven kann ich trauen, von welchen sollte ich besser die Finger lassen?

Am Anfang eines solchen Erkenntnisweges steht die Aufforderung des Orakels von Delphi: „Erkenne dich selbst“ ( Gnothi seauton bzw. Scito te ipsum)

Die Aufforderung des Orakels, sich selbst zu erkennen, zielte vorallem in die Richtung, dass der Einzelne seine Vergänglichkeit, Hinfälligkeit und Gebrechlichkeit in den Blick nehmen sollte und sie war eine Warnung vor Überheblichkeit und Hochmut.

Die Selbsterkenntnis besteht also vorrangig darin, seine „Schatten“ (C.G. Jung), also die unansehnlichen Seiten der eigenen Person, die blinden Flecken, die zuerst von anderen gesehen werden und die eigene Sterblichkeit, die wir allzu gern verdrängen, zu erkennen. Konstantin Wecker sagte in einem Interview: „Je mehr ich in der Lage bin, mich selbst und meine Schattenseiten zu reflektieren, desto mehr bin ich fähig, mitzufühlen. Wichtig finde ich es in diesem Prozess, meine Ängste und meine Schwermut zuzulassen. …Auch eine Ablenkung durch Dauerparty kann nicht wirklich von dieser Erkenntnis befreien. Nur indem wir unseren eigenen Schmerz zulassen, ihn nicht verdrängen, können wir auch den Schmerz des anderen verstehen. Zum Mitgefühl gehört eine ganz tiefe Selbsterkenntnis.“

Wer sich selbst in seiner Erbärmlichkeit erkennt, bekommt Mitgefühl für andere, wer seine eigenes Krank- oder Behindert-sein spürt, bekommt Mitgefühl für kranke, behinderte oder an den Rand geschobene Menschen. Wer sein eigenes Unbeheimatetsein spürt, erkennt und nicht mehr verdrängt (wie so oft in der ersten Phase unseres Lebens), bekommt Mitgefühl für alle, die auf der Flucht sind. Wer die eigenen Risse und Bruchstellen in der Seele spürt, wird sich nicht mehr selbstgerecht und moralisch überheben. Echte Erkenntnis hat immer immer mit dem „Herzen“ zu tun, nicht umsonst setzt daher die hebräische Bibel erkennen und lieben in eins.

Dass wir über uns selbst nachdenken können, empfehlen spirituell Erfahrene, sich aus der Zerstreuung an die vielfältigen Dinge zurückzuziehen, die Gier nach immer Neuem zu begrenzen, einmal aus dem Trott des Gewohnten oder dem Alltagsgetriebe auszusteigen und nach innen zu horchen.

Daher lautet die erste Regel des Mönchsvaters Benedikt: „Horche!“ Auf sein Herz horchen, auf seine Gefühle horchen, auf sein Gewissen horchen, auf die leisen Stimme horchen, die gehört werden wollen (statt auf die im Sekundentakt auf dem Smartphone hereinfliegenden News). „Horchen“- auf all das, was hinter den Verhärtungen der Blockaden, Illusionen und Täuschungen, dem Verdrängten zum Vorschein kommen mag; und auf das, was unter dem Müll der Dauerberieselung uns wirklich ansprechen will. Wir sollen erkennen, was unsere Sehnsucht ist und welche Entscheidungen für uns die richtigen sind.

Impuls:

Gönne Dir einmal im Monat einen Vormittag, an einem stillen Ort, an dem du gerne bist (im Wald, an einem Fluss/Bach, ein Park, eine Kirche……) und tue nicht anderes als absichtslos zu „horchen“. (ohne dabei irgendwelche Probleme lösen zu wollen und ohne Ergebnisdruck) und kommen zu lassen, was von selbst kommt.

Literaturempfehlungen:

Bernardin Schellenberger, Achte auf dein Leben, Mit Benedikt Spiritualität erfahren, Volkach 2015

Judith Hermann, Lettipark, Erzählungen (darin die Erzählung „ Kohlen“)