Wachstum-in den Himmel wachsen

Kraftblumen, Acryl auf Leinwand

Pflanzliches  Wachstum

Kinder in der Grundschule bekommen nicht selten im Biologie- oder Religionsunterricht Grassamen oder Weizenkörner mit nach Hause, die sie mit ihren Eltern in die Erde einpflanzen sollen. Die Grundschüler sollen hautnah erleben wie  es ist, wenn etwas wächst und was eine Pflanze für ihr Wachstum braucht: Erde, Sonne , Wasser, Pflege und Zeit.  Überall auf dieser Erde ist Wachstum zu beobachten: Blumen, Pflanzen, Bäume, Kinder wachsen , sie sind irgendwann einmal ausgewachsen oder erwachsen. Wachsen scheint einem inneren Lebensgesetz  und Ziel zu folgen, ist jedoch nicht unabhängig von äußeren Einflüssen und Gegebenheiten.

Menschliches Wachstum

Gerade menschliches Wachsen bedarf der  Unterstützung  durch andere (Gespräch, Feedback, Ermutigung…)und ist zuweilen  Wachstumsschmerzen ausgesetzt.  Menschliches Wachsen geschieht in Beziehungen. „Du sagend, werde ich erst ich“, sagt Martin Buber. Wachstum und Entfaltung kann gefördert, aber auch behindert werden. Die Chancen körperlich, psychisch und geistig zu wachsen,  sind auf dieser Welt eindeutig ungerecht verteilt. Kinder in Eritrea, Bangladesh oder Moldawien scheinen eindeutig weniger Wachstumsimpulse zu bekommen wie  Kinder und Jugendliche in Deutschland oder Amerika.

Gefahren ungebremsten Wachstums

Anzumerken ist an dieser Stelle  auch, dass Wachstum nicht immer und automatisch mit etwas Gutem verbunden werden darf. Gerade im gesellschaftlichen Bereich werden viele Menschen , die von einer mit der  Wachstumsideologie verbundenen Optimierungserwartung  von vornherein ausgeschlossen sind,-also z.B. Menschen auf der Schattenseite des Lebens, Menschen, die von Geburt an benachteiligt und beeinträchtigt sind- , allzu leicht an den Rand gedrängt. Dem Grundsatz „Hauptsache Wachsen“ ist vorallem  im wirtschaftlichen Bereich zu misstrauen, zumal  rein quantitatives Wachstum ohne Differenzierung und qualitative Neuerungen in Struktur und Gestalt früher oder später in den Bankrott eines Systems führt. (vgl. dazu F. Vester, Unsere Welt-ein vernetztes System, München 1993, S.66f., Vester weist auch  auf ein Naturgesetz: „Je höher die Funktion, desto geringer das quantitative, das Mengenwachstum“ ; Intelligenz (= höhere Funktion) beginnt erst, wenn das Wachstum der Gehirnzellen abgeschlossen ist ; zur  Gehirnentwicklung: Das Wachstum der 15 Milliarden Gehirnzellen eines Menschen und ihrer Verbindungsfasern von 500.000 Kilometern Gesamtlänge ist praktisch nach der Säuglingszeit abgeschlossen, damit das Denken möglichst früh beginnen kann…

Wachtumsimpulse

Aus den etwas abstrakten Überlegungen zurück ins Konkrete. Auch wenn der innere Antrieb dazu aus unterschiedlichen Gründen verschüttet sein kann, steckt wohl in jedem Menschen ein Wachtumsimpuls jenseits des rein Biologischen. Unterschiedliche Ereignisse können den Wunsch auslösen, moralisch, seelisch, geistig oder spirituell weiter zu wachsen.

Etwa vereinfacht gesagt, gibt es zweierlei Anstoß  zum Wachsen.

Erstens gibt es Wachstumsimpulse aus etwas Negativem. Einige Beispiele:  ich möchte z.B. selbstständiger, klarer und innerlich freier werden, weil ich spüre, wie viele  Abhängigkeiten und Bindungen mich gefangen halten; ich möchte mich aus Suchtmustern (Alkohol, Smartphone, Arbeit….)befreien und lang praktizierte  lebenshinderliche Süchte loswerden.  Ich möchte mir und anderen gegenüber wahrhaftiger werden, weil ich spüre,  dass die Rollen, die ich spiele und die Masken, die ich aufsetze, mein Wesen verdecken. Wachsen bedeutet aus dieser Perspektive, sich aus eingeschliffenen Mustern und von Süchten zu befreien.Aber dann gibt es auch Wachstumsimpulse, die von etwas Positivem inspiriert werden. Einige Beispiele: Menschen, die sich verlieben, wachsen über sich hinaus, verlassen ihr Ego und lassen sich begeistert auf neue, unbekannte Welten ein.

Wachsen an Vorbildern

Wieder  andere bekommen  durch das Vorbild anderer Menschen einen Impuls zu wachsen. Der kürzlich verstorben Rupert Neudeck, Gründer von Cap Anamur, ein „Extremist“ der Nächstenliebe , der tausende von Menschen vor dem Ertrinken  gerettet hat, könnte so einen Anstoß geben, selbst Neues zu wagen und Sicherheiten hinter sich zu lassen.

Auch die Lebensgeschichte des heilige Franziskus (1181/82 bis 1226)könnte einen Wachstumsimpuls schenken: als Wendepunkt dieses durchaus karrierebewussten jungen Mannes, der als Ritter zunächst in Richtung  Ansehen, Macht und Ehre wachsen wollte, wird eine alles wandelnde Begegnung geschildert.  Franz begegnet einem Aussätzigen, und während es ihm vorher immer bitter vorkommt,  jene Ausgesonderten auch nur zu sehen, drängt ihn diesmal etwas , einen aussätzigen Mann  zu umarmen; dabei wird das Bittere des vorherigen  Gefühls  in eine Gefühl der Süßigkeit verwandelt. Auch wenn die mittelalterliche Sprache uns fremd vorkommen mag, wird durch die Schilderung klar, dass sich eine alte Lebensdynamik aufhebt und in eine neue verwandelt: eine Hinwendung, ein Wachsen hin auf Gott, ein neues Denken und Fühlen in der  Zuwendung zu den Armen seiner Zeit.

Auch heute  passiert es, dass Menschen durch Begegnungen mit obdachlosen, behinderten oder sehr armen Menschen verwandelt werden und ihr Leben in eine ganz neue Richtung wächst, die vorher weder absehbar war noch geplant werden konnte .

Impuls zum Nachdenken: :

Was hat mich bisher in meinem Leben menschlich wachsen lassen?

Was bremst mein (inneres) Wachstum?

Woraufhin möchte ich noch wachsen?

Literaturempfehlungen:

Katharina Kluitmann, Wachsen-über mich hinaus, Würzburg 2014

Anselm Grün, Auf dem Wege, Münsterschwarzach 1983

Rupert Neudeck, Radikal leben, Gütersloh 2014

Sich entscheiden mit dem inneren Kompass

Entscheidung in unsicheren Zeiten

Ohne Zweifel leben wir heute in einer Multioptionsgesellschaft, die ständig Entscheidungen von uns abverlangt. Wir haben in unserer westlichen Gesellschaft nicht selten „die Qual der Wahl“, was für viele  Menschen dieser Welt ein Luxusproblem sein mag.

Zugleich leben wir in einer  Umbruchssituation, die viele verunsichert: der Verlust alter Traditionen und Werte, der Zusammenhalt Europas, das verbindende geistigen Fundament scheint ebenso brüchig geworden wie das transatlantische Verhältnis. Es scheint keine Übereinstimmung mehr in den Grundwerten zu geben, was bei der Aufnahme von Flüchtlingen sichtbar wurde.  Die Pluralität der Meinungen macht viele  orientierungslos und sie rufen nach dem starken Mann,  der es richten soll. Säkularisierungsprozesse scheinen Glaube, Religion und Gott zunehmend überflüssig zu machen. Spuren der Verunsicherung, auch durch zunehmend bedrohliche politische Ereignisse,  graben sich zunehmend tiefer  in die Seele des westlichen Menschen ein und machen Angst.

In einer solchen Zeit wird es auch für den einzelnen zunehmend schwieriger, die rechten Entscheidungen zu treffen. Denn Entscheidungen orientieren sich an Grundwerten, an Normen, an Verbindendem und Verbindlichem.

Wie also soll ich meine Entscheidungen treffen?

Im 15. und 16 Jahrhundert, ebenfalls eine Zeit großer Umbrüche, lebte Ignatius von Loyola, der einem edlen Rittergeschlecht entstammte. Nachdem einen Kanonenkugel 1521 nicht nur sein Bein, sondern auch seine ehrgeizigen Karierepläne zerschlagen hatte, entdeckte er – wohl  von Aristoteles inspiriert-,  auf dem Krankenbett die „Unterscheidung der Geister“. Dabei geht es vor allem bei wichtigen Entscheidungen darum,  nach innen zu horchen und die eigenen Seelenregungen zu erspüren, sie zu ordnen und herauszufinden, ob sie von einem „guten Geist“ stammen; nur diese  würden  Freude, inneren Frieden, Leichtigkeit und Stimmigkeit bewirken; Ignatius spricht auch von „Trost“, der sich an einer Zunahme an Glaube, Hoffnung, Liebe und innerer Freude zeigt.   Entscheidungen, die von einem „bösen Geist“ sind, -wir würden heute vielleicht vom „Über-Ich“ sprechen- , verfinstert die Seele , macht eng, starr, fanatisch oder traurig und lau. Löst eine wichtigen Entscheidungsalternative  – es geht dabei um  essentielle  Lebensentscheidungen- , dagegen negativen Seelenregungen aus wie Traurigkeit, Unruhe, Unzufriedenheit, dann wäre  von dieser Entscheidung  eher die Finger zu lassen. Was vom guten Geist geleitet ist,  bringt mich in Übereinstimmung mit mir, der „böse Geist“ dagegen zerstreut mich, zerreißt, bringt mich auseinander, verfinstert und verwirrt die Seele. Ignatius nennt dies auch  Trostlosigkeit oder Misstrost.(vgl. zur „Unterscheidung der Geister“:   Ignatius von Loyola, Die Exerzitien, übertragen von Hans Urs von Balthasar, Einsiedeln, Freiburg 12. Auflage, 1999)

(Bild: „Umkehr“ von Gustav Schädlich-Buter, 60×80 cm,  Acryl auf Leinwand)

Der Impuls von Ignatius an uns

Auch wenn die Sprache dieser Zeit uns modernen Menschen fremd vorkommen mag, steckt darin der Impuls, bei seinen Entscheidungen auf sich selbst  zu hören, die tieferen Impulse ernst zu nehmen, die Seelenregungen wieder spüren lernen . So kann ich herausfinden, ob die getroffene Entscheidung, mich in tiefere Übereinstimmung mit mir selbst bringt oder das Gegenteil davon. Ignatius ermuntert uns,  sich bei  wichtigen Entscheidungen an einem „inneren Kompass“ zu orientieren.

Bedenke deine Entscheidung im Angesicht der Todesstunde

Zudem rät Ignatius : wenn  du eine wichtige Entscheidung zu treffen hast, dann versetze dich in die Stunde deines Todes  und überlege wie du aus der Perspektive deines Todes die anstehende Entscheidung getroffen hättest. Also, wenn jemand z.B. immer nur Arbeit, Karriere und  Finanzielles  im Kopf hatte , alle seine Entscheidungen daran orientierte, währenddessen seine menschlichen Beziehungen  kaputt gingen, dann wird er das womöglich in seiner Todesstunde bereuen. (vgl dazu: Matthias Beck, Christ sein, Was ist das?,…S.23) .

Fragen zum Nachdenken:

An welchen Werten orientiere ich meine Entscheidungen? (Spass/Fun, Nächstenliebe, Glaube, Materielles, Wohlstand, Wellness, mehr Geld…….)

Literatur zur Vertiefung:

Die Wiedergabe von der „Unterscheidung der Geister“ bei Ignatius ist eine Kurzform eines ausgeklügelten und komplexen Systems  zur Vertiefung empfehle ich

Stefan Kiechle, Sich entscheiden, Würzburg  2004

Ignatius von Loyola, Die Exerzitien, Einsiedeln, Freiburg 1999

Hans Urs von Balthasar, Texte zum ignatianischen Exerzitienbuch, Auswahl und Einleitung von Jacques Servais S.J., Einsiedeln, Freiburg 1993

Matthias Beck, Christ sein-was ist das? Glauben auf den Punkt gebracht, Wien, Graz, Klagenfurt 2016

Anselm Grün, Was will ich? Mut zur Entscheidung, Münsterschwarzach 2011

Auf Augenhöhe mit den Schwachen

 Schwäche darf nicht sein !

Wer will in unserer Kultur nicht stark, erfolgreich, schön, attraktiv, und begehrt sein ? „Power haben“- das liegt im Trend des Zeitgeistes . Schwäche zugeben, das geht eigentlich nicht, in einer Zeit, die „Selbstoptimierung“ und „Gewinnmaximierung“ zu ihren Prioritäten gemacht hat.

Aber was ist mit all denen, welche das Leben aus der Kurve getragen hat und die jetzt zerbeult daherkommen? Was ist mit denen, die durch die Stürme des Lebens zerzaust wurden und jetzt „abgerissen“ und zerfetzt aussehen? Was ist mit jenen, die durch ihre Lebenskämpfe, ihr Scheitern,  ihre Niederlagen oder plötzlich einbrechende Krankheiten geschwächt und zu Boden geworfen wurden? Und was mit all jenen, die auf der Schattenseite des Lebens geboren wurden oder sich in der Mitte der Lebensreise (vgl. Dante, Die göttliche Komödie) sich in einem dunklen Wald verlaufen haben? Und was ist mit den älteren,  kranken oder behinderten Menschen, die nichts (mehr) „leisten“ können.

Im Krankenhaus können sich viele Patienten nicht mit ihrer Schwäche und scheinbaren Nutzlosigkeit abfinden und wollen lieber sterben als jemanden zur Last zu fallen. Schon seine Hilfsbedürftigkeit zu zeigen, kommt in manchen Betrieben ziemlich schlecht an, nicht selten wird man ausgemustert oder bestenfalls an dezentralen Stellen geparkt. Sogenannte „Schwache“– d.h. Kranke, Behinderte, psychisch Labile , Säufer und Obdachlose-, rechnen sich nicht und kosten zu viel Geld, scheint der „Effizienzgeist“ auszurechnen und will sie loswerden. Nicht wenige schämen sich angesichts ihrer wie auch immer zustande gekommenen Schwächung , fühlen sich  wertlos und  nicht mehr dazugehörig zu denen, die „was bringen“. Schuldgefühle plagen sie, auch wenn gar kein persönliches Versagen vorliegt.

Niedergedrückt, Mischtechnik

Warum Stärke und Erfolg nicht alles bedeuten !

Stärke, Erfolg ,Wachstum, Attraktivität sind ja nicht grundsätzlich schlecht; es ist sogar wichtig, seine Stärken kennen zu lernen und sie zur Entfaltung zu bringen. Doch zum Ganzen des Lebens gehört die Einbeziehung von Scheitern, Schwäche, Verlust und Niederlage; auch sie wollen integriert werden, um nicht dem eigenen Hochmut und Größenwahn zum Opfer zu fallen. Ein einseitiger Kult der Stärke, den wir schon einmal im Nazideutschland hatten, ist gefährlich wie die Geschichte zeigt. Eine echt starke Gemeinschaft (vom Staat bist zur Familie) dagegen ist jene, die in besonderer Weise auf die Schwächeren und Bedürftigeren achtet, und sich um jene  kümmert , die am Rande stehen.  „Die Stärke eines Volkes misst sich am Wohl der Schwachen“ – so steht es in der Präambel der schweizerischen Verfassung von 1999.

Die eigene Schwächen  wahrnehmen

Auch individuell und innerseelisch ist es wichtig, das ganze Menschsein im Spektrum von Stärke und Schwäche wahr zu nehmen. Wer nur auf der Erfolgsspur dahinrast, übersieht das Kleine , Langsame und Bedürftige, auch der eigenen Existenz, und schaut dann nicht selten herablassend auf jene, die nicht der vermeintlichen eigenen Stärke und Härte entsprechen. Wer sich nur mit der Geberseite identifiziert, tut sich schwer die eigene Bedürftigkeit einzugestehen und ist dann unfähig, sich etwas schenken zu lassen. Auch Sozialforscher haben herausgefunden, dass das  Zugeben und Zeigen von „Schwächen“  wie  Scham, Verletzbarkeit, Trauer und Enttäuschung, zugleich eine große menschliche  Kraftquelle  darstellt.

Nicht umsonst beginnen die alten Gebete immer mit dem Ruf: „O Gott komm mir zu Hilfe, o Herr, eile mir zu helfen“- also einem Eingeständnis,  ein Hilfsbedürftiger zu sein; einer der angewiesen ist, der nicht mehr aus eigener Kraft sein Leben meistern kann, der sich nicht selbst genügt. Wer betet,  gibt seine Schwäche zu und bittet die höhere Macht um Hilfe und Beistand. Gehört es nicht zur Größe des Menschen zu bedürfen, Gottes zu bedürfen, um das zu bitten, was ich mir nicht selbst geben kann? Zu bitten, um Erlösung, um Beistand, um Durchhaltekraft in der Not, um Freiheit, um Frieden ….

Von den „Schwachen“   lernen

Nur wer um seine eigenen Schwächen weiß und sie sich auch eingesteht, wird auch Mitleid und Empathie für jene empfinden, die nicht auf der Siegerstraße zu Hause sind.

Zeigen  uns nicht gerade sogenannten schwachen und bedürftigen Menschen  eine Welt jenseits der Kategorien Erfolg, Effizienz und Gewinnsteigerung? Lernen wir durch sie nicht sehr oft sehr viel von dem, was das Leben essentiell ausmacht: Liebe, Zuwendung, Gefühle, Demut, Berührung und das Eingeständnis, dass wir alle einander brauchen? Jean Vanier der Gründer der Archegemeinschaften, in denen behinderte und nicht behinderte Menschen zusammen leben, sagte es einmal sinngemäß so: dort wo wir nichts anderes im Sinn haben als die Karriereleiter hinaufzuklettern und machtvoller sein wollen als der Nachbar, dort lernen wir nicht zu teilen, sondern den anderen überlegen zu sein. Spirituell wachsen werden wir aber nur, wenn wir lernen, Macht los zu lassen und den Menschen nahe zu sein, die zurückgewiesen sind. Dies ist eine Bewegung „nach unten“. Wenn mich jemand in der Tiefe meines Seins berührt, dort wo ich es nicht mehr notwendig habe, besser zu sein als andere, das ist eine Befreiung, eine Befreiung, ganz ich selbst sein zu dürfen wie ich bin. Fundamentale Freude entsteht, Menschen zu treffen, nicht über ihnen stehend, nicht unter ihnen, sondern auf Augenhöhe als Kinder Gottes.

Fragen zum Nachdenken:

Wie wurde in meiner Familie mit Schwäche (Krankheit, Scheitern..)umgegangen?

Wie gehe ich selbst mit Schwäche und Schwächung um (auch in Bezug auf andere)? Kann ich andere um Hilfe bitten?

Habe ich Menschen in meinem Freundeskreis, die zu den „Schwachen“ gehören?

Literatur zur Vertiefung:

Jean Vanier, Ich und Du: dem anderen als Mensch begegnen

Jean Vanier, Weites Herz: Dem Geheimnis der Liebe auf der Spur, Meditationen

Brené Brown, Verletzlichkeit macht stark, Wie wir unsere Schutzmechanismen aufgeben und innerlich reich werden

Fulbert Steffensky, Mut zur Endlichkeit, Sterben in einer Gesellschaft der Sieger, Stuttgart 2007

Film:„Mephisto“ mit Klaus Maria Brandauer, der zeigt wie verheerend sich ein im Nationalsozialismus propagierter „Kult der Stärke“  auf Einzelne ausgewirkt hat.

Ohnmacht erleben- Ohnmacht begegnen

Was heißt Ohnmacht?

Immer wieder begegne ich in der Beratung  Menschen, die sich ohnmächtig fühlen. Ohnmacht bedeutet zunächst eine Bewusstlosigkeit aufgrund einer Schwäche. Weiterhin meint Ohnmacht, nicht mehr selbstwirksam handeln zu können. Wer sich ohnmächtig fühlt, spürt: Ich habe keinen oder unzureichenden Einfluss auf mein Leben. Ich finde keine Möglichkeit, das eigene Leben selbstbestimmt zu gestalten. Ich kann meine Situation oder eine Situation, unter der ich leide, nicht verändern.  Kurz gesagt: Ohnmacht ist das Gegenteil von Macht. Ohnmachtsgefühle tauchen nach Anselm Grün hauptsächlich in drei Bereichen auf: Ohnmacht gegenüber anderen Menschen, Ohnmacht gegenüber den eigenen Gefühlen oder Zwängen, und die Ohnmacht gegenüber Situationen in der Welt .

Beispiele für Ohnmachtserleben

Zunächst einige Beispiele für das Ohnmachtserleben: Eltern fühlen sich ohnmächtig, wenn ihre Kinder auf unsichere „Abwege“ geraten und alle Ratschläge nichts bewirken.  Kinder  fühlen sich ohnmächtig, wenn sie von Erwachsenen geschlagen oder gar missbraucht werden. MitarbeiterInnen in einer Firma erleben Ohnmacht, wenn sie von Kollegen/-Innen verleumdet und gemobbt werden, oder der Chef sie ungerecht behandelt. Menschen mit einer chronischen oder schweren Krankheit bekommen Ohnmachtsgefühle, wenn alle Behandlungen und Medikamente nicht greifen. Ärzte fühlen sich ohnmächtig, wenn ihnen Patienten trotz vollen Einsatzes aller ärztlichen Kunst „wegsterben“. Junge Menschen mit einer Behinderung fühlen sich ohnmächtig, wenn sie trotz guter Schulabschlüsse keine Chance auf einen Platz im ersten Arbeitsmarkt bekommen. Pfarrer oder Seelsorger erleben Ohnmachtsgefühle, wenn sich trotz aller Anstrengungen die Kirchenbänke zunehmend leeren und sich niemand mehr für Gott zu interessieren scheint. Ohnmacht erlebt der Ehepartner/-in, der vom anderen betrogen wurde. Politiker erleben Ohnmacht, wenn sie von Medien verleumdet und diffamiert werden. Wieder andere fühlen sich ohnmächtig gegenüber ihren Gefühle; sie sind dann z.B. ihren Ängsten hilflos ausgeliefert, oder sie werden immer wieder von ihrer Wut übermannt. Alkoholiker oder Raucher fühlen sich ohnmächtig ihrer Sucht gegenüber und merken, dass alle guten Vorsätze nichts helfen. Junge Frauen bekommen ihr Eßproblem nicht in den Griff. Wer sozial sensibel ist, fühlt sich ohnmächtig gegenüber den schrecklichen Ereignissen in der Welt,  gegenüber Hungersnöten, Kriegen und Bürgerkriegen, oder einer ungerechten Weltwirtschaft….

Ohnmacht und Selbstwertgefühl

Viele, nicht alle, Ohnmachtsgefühle reichen weit zurück in die je eigene Biografie und Seelenlandschaft, wo das kleine Kind sich hilflos und abhängig erlebt hat von mächtigen, womöglich Macht missbrauchenden Erwachsenen. Später taucht der autoritäre Vater der Kindheit im „Chef“ der Firma wieder auf und lässt die gleichen Ohnmachts- und Schwächegefühle wie damals wach werden(„Übertragung“). Ohnmachtserlebnisse greifen immer das Selbstwertgefühl an und wirken umso verheerender, je geringer dieses ausgeprägt ist. Das Erleben von Ohnmacht ist immer bedrohlich, erzeugt oft ein Gefühl der Lähmung und Resignation, sogar die Angst keine Lebensberechtigung zu haben, kann auftauchen; der Ohnmächtige fühlt sich zuweilen als eine Null, ein Nichts ohne Würde und ohne Wert. Manche geben sich letztendlich in einem oberflächlichen Dahinleben verzweifelt auf.

Reaktionen auf  Ohnmacht

Wieder andere überspielen ihre tiefgreifenden Ohnmachtsgefühle durch Posen der Macht, Rachephantasien gegenüber den Kränkenden oder sogar durch den tatsächlichen Einsatz von physischer Gewalt (z.B Gewalt an Schulen); frühere Opfer von Gewalt werden nicht selten zu Tätern. Ohnmächtig Verletzte können sehr mächtig werden, und zu unkontrollierbaren und dunklen Machtspielen greifen. Erlebte Ohnmacht kann also auch in destruktive Machtausübung umschlagen(vgl. religiöse Fanatiker und Terroristen), in der Hoffnung das bedrohliche und lähmende Gefühl der Ohnmacht los zu werden. Menschen mit zu hohen (religiösen) Idealen, an denen sie immer wieder scheitern, greifen in ihrer Ohnmacht auch zur rigorosen Selbstbestrafung und flüchten in eine finstere Askese.

Was kann ich tun angesichts eigener Ohnmachtsgefühle?

Was kann ich gegenüber meiner Ohnmacht tun; hier müssen einige Andeutungen genügen (ausführlicher dazu, vgl. dazu Anselm Grün, Selbstwert entwickeln, Ohnmacht meistern, Stuttgart 1995)Dort, wo die Ursache der Ohnmacht weitgehend in mir selbst liegt, geht es vorrangig darum das eigene Selbstwertgefühl zu stärken und zu verbessern; dies geschieht z.B. durch gute und wertschätzende Kommunikation und eine vertrauensvolle Atmosphäre (in Gruppen, Familien oder Teams).  Ich kann mir auch psychologische oder seelsorgliche Unterstützung suchen, um an mir selbst zu arbeiten und neue Wege zu finden, mein Leben selbst zu gestalten und zu formen. Dabei helfen gute Rituale,  z.B. am Morgen und am Abend , einen Raum zu schaffen, der mir gehört.

Dort, wo die die Ursache der Ohnmacht weitgehend beim Gegenüber (Chef, Ehepartner, Arbeitskollege)liegt, geht es darum sich von der Macht des anderen zu befreien. Dabei hilft vielleicht die Empfehlung von A. Grün: „Der andere hat immer nur soviel Macht über mich, wie ich ihm gebe“(a.a.O., S117) Es ist meine Entscheidung, ob ich mir auch noch das Abendessen von dem Kollegen, der mich gekränkt hat, verderben zu lassen oder ihm den Zugang  zu meinem Feierabend verbiete. Die Wut kann helfen, mich vom Kränkenden zu distanzieren.

Für religiöse und glaubende Menschen kann das Gebet eine Hilfe sein, Ohnmachtsgefühle zu bearbeiten, gerade jene Ohnmacht einer Welt gegenüber, in der Ungerechtigkeit, Umweltzerstörung und Kriege eine bedrückende Realität darstellen. Auch wenn das Gebet diese Ohnmachtsgefühle nicht einfach auflöst, kann es die Hoffnung stärken, dass das Unrecht nicht das letzte Wort behalten wird ; und es kann mir Kraft schenken gegen  Unrechtszustände anzukämpfen.

Fragen zum Nachdenken und aufschreiben:

An welche Ohnmachtserlebnisse aus Kindertagen erinnere ich mich?

Erlebe ich auch heute noch Ohnmacht? Wo, durch was oder durch wen? Wie reagiere ich darauf ?

Was hilft mir und hat mir bisher geholfen, mich aus Ohnmachtszuständen zu befreien?

Literaturempfehlung:

Anselm Grün, Selbstwert entwickeln, Ohnmacht meistern, Stuttgart 1995

Der Umgang mit Macht

Macht ist ambivalent

Ist Macht gut oder böse? Womöglich geht es Ihnen wie mir und das Thema und der Begriff Macht hinterlässt zunächst ein durchaus zwiespältiges Gefühl. Das mag daran liegen, dass das Ideal von Nächstenliebe , Selbstlosigkeit und Macht sich zu widersprechen scheinen.

Aber auch daran, dass wir an Menschen (in Politik, Wirtschaft oder Kirche…)denken, die ihre Macht missbrauchten, um ihre Überlegenheit zu demonstrieren und andere klein zu halten. Und schließlich, weil jede und jeder von uns selbst in der Gefahr steht, sobald  ihm Macht zur Verfügung steht, jene zum Eigennutz (für Ruf , Ruhm und Einfluss) zu verwenden oder andere zu manipulieren.(Gurus und religiöse Fanatiker haben heute ja auch Hochkonjunktur) Jedenfalls kann Macht süchtig nach „mehr“ machen, und zur Selbstüberschätzung und zum Größenwahn führen. Solche Macht schürt aber zugleich- je höher man in der Machtspirale angekommen ist- die Angst vor jedem Rivalen, der die Macht streitig machen könnte (wie schon die  biblische Geschichte vom König Herodes nahelegt oder das aktuelle Politikgeschehen vielfältig zeigt). Nicht selten stammt ein übergroßes und falsch verstandenes  Machtbedürfnis einem mangelndem Selbstwert, einem erlebten Ohnmachtsgefühl oder traumatischen Erlebnissen, die kompensiert werden sollen.

Machtdemonstration-scheinmacht, Kreide

Der Soziologe Max Weber hat den modernen, eher negativ gefärbten Machtbegriff geprägt und definiert Macht „als das Vermögen einer Person oder Gruppe, ihren Willen und ihre Ziele auch gegen äußere oder innere, materielle oder personelle Widerstände durchsetzen zu können.“(Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, 1921, Kap1, §16)

Die positive Seite der Macht

Doch Macht hat durchaus auch eine positive Konnotation, worauf schon der althochdeutsche Begriff mugan für Macht hinweist, dessen indogermanische Wurzel magh „vermögen, können“ bedeutet.

Es ist wohl eine tiefe Sehnsucht im Menschen, etwas selbst gestalten zu können, Einfluss zu haben auf das , was geschieht im eigenen Leben und in der Welt, etwas aus der eigenen Kraft heraus realisieren zu können. Macht bezieht sich zunächst darauf, sein eigenes Leben bestimmen zu können; ich will  Macht habe über mich selbst statt fremdbestimmt und abhängig von anderen zu leben. Selbstmächtig zu leben statt gelebt zu werden.

In einer zweiten Bedeutung geht es bei der Macht darum, andere zu führen und zu leiten. Schon Eltern müssen Macht ausüben, um ihre (zumal kleinen)Kinder vor Gefahren zu schützen und für deren Wohl zu sorgen. Das geht nicht ohne Konflikte, erzeugt Protest und Widerstand, weil der eigene Freiheitsraum  eingeschnürt wird. Machtgebrauch verlangt jedoch schon hier einen dosierten und verhältnismäßigen Einsatz und eine Überprüfung der Motive des Machtausübenden.(Gibt es eine Lust der Machtausübung? Empfinde ich Genugtuung dem anderen eins reinzuwürgen?….)

Wer Machtausübung (auch als Chef in einem Betrieb) als Dienst am anderen oder einer guten Sache versteht, wird darum bemüht sein, das Lebendige, das im anderen steckt, wahrzunehmen, dessen Kreativität zu fördern und bislang verborgene Fähigkeiten hervorzulocken. Es geht als  Führender darum, beim anderen die Lust zu wecken, sich mit seinem Potential einzusetzen und sich einzubringen (in der Firma, in der Gemeinschaft, in der Wohngruppe….).

(„König Herodes“, Acryl auf Leinwand, 80x100cm von G. Schädlich-Buter)

Biblische Impulse zur Macht

Das biblische Motiv dazu lautet: „…. der Führende soll werden wie der Dienende“(Lukas 22,25 f)Zudem sollte der Mächtige bei seinem Dienst für andere bereit sein sowohl auf sein Inneres zu hören als auch auf jene, für welche er verantwortlich ist.(vgl. dazu 1 Kön 3,9). Macht bedarf immer wieder der Läuterung (Gewissenserforschung) und ist solange gut, solange sie nicht selbst das Ziel ist, sondern Mittel, um ein Gut oder gemeinsames Wohl in verantwortungsvoller Weise anzustreben oder um gegen Böses, Ungerechtigkeit  und Inhumanes vorzugehen. Macht und Machteinsatz bleiben verwiesen auf ihre Ziele.

Verweigerte und verdrängte Macht

Wer Macht verweigert und sie nicht ausübt, verweigert auch die Möglichkeit, das Leben mitzugestalten und dem Leben zu dienen. Deshalb ist es durchaus legitim, Macht anzustreben, wenn sie guten Zielen und Werten dient. Wer zu seiner Macht offen steht, lässt auch zu, dass man sich gegen sie wehrt. Viel schlimmer ist verdrängte, versteckte oder subtil eingesetzte Macht, die immer destruktiv wirkt und meist ein ohnmächtiges Gegenüber zurücklässt, das sich nicht wehren kann. Es gibt einen sehr subtilen Gebrauch von Macht, der z.B. mit Schuldgefühlen tyrannisiert. Zudem tritt Macht als Schattenproblematik leicht bei jenen auf, die ausschließlich von Nächstenliebe und Dienen reden.

Impuls zum Nachdenken:

Welche Gefühle löst das Thema Macht bei mir aus? Hab ich schon mal darüber nachgedacht?

Wie und wo erlebe ich Macht/Ohnmacht in meinem Erfahrungsbereich?

Für welche Ziele und Werte würde ich oder kann ich meine Macht einsetzen?

Literatur zur Vertiefung:

Bauer- Jelinek, Christine, Die helle und die dunkle Seite der Macht- Wie sie ihre Ziele durchsetzen, ohne ihre Werte zu verraten, 2009

Grün, Anselm, Selbstwert entwickeln, Ohnmacht meistern, Stuttgart1995

Grün, Anselm, Kohl, Walter , Was uns wirklich trägt, über gelingendes Leben, Freiburg im Br. 2014, S. 198-216

Kiechle, Stefan, Macht ausüben, Ignatianische Impulse, Würzburg 2005

Wirth,H.J., Narzissmus und Macht: Zur Psychoanalyseseelischer Störungen in der Politik, 4.Auflage 2011

 

Selbstliebe oder Selbstverleugnung

Selbstliebe als Grundlage der Nächstenliebe

Wer den Nächsten lieben will, muss sich selber mögen. Wer andere lieben will, muss erfahren, dass er selbst liebenswert ist. Tatsächlich kann es auch in der spirituellen Entwicklung nicht um eine Form von Selbstlosigkeit gehen, in welche die mangelnde Selbstliebe zur Selbstablehnung zementiert wird. Wer spirituell wachsen will, muß sich selbst Wert geben und dies bedeutet, in einer letzten unaufhebbaren Einsamkeit zu sich selbst „Ja“ sagen.  Zu Recht fragt der Benediktiner Meinrad Dufner:

Ob ich Gott liebe -das ist eine Frage. Ob ich mich liebe -das ist auch eine Frage. Wie kann jemand die eine Frage bejahen, wenn er die anderen verneint? Nein! Ich liebe Gott nur, wenn ich mich liebe…“

(in: Grün, Müller, Was macht Menschen krank, was macht sie gesund?, Münsterschwarzach 2005,S.43

Die Aufforderung zu Selbstlosigkeit und Selbstverleugnung, ist mit Vorsicht zu genießen und noch lange kein Allheilmittel, auch wenn man es heute in einer allzu narzisstisch „Ich- Gesellschaft“ gerne empfehlen möchte. Zunächst ist der Aufbau eines gesunden Selbstwertgefühls notwendig. Wer sich selbst nicht(oder noch nicht)mag, darf nicht durch  Formen der Selbstverleugnung und Askese noch mehr kleingemacht  und niedergedrückt werden.

„Er muss wachsen, ich aber muß kleiner werden“ (Joh 3,30)

Ein geistlicher Wachstumsprozess verlangt andererseits ein  aufgeblähtes Ichgefühl (Erfolg, Ehrgeiz, Gefall-und  Ruhmsucht….), also den persönlichen Narzissmus, und all die übertriebenen Weisen der Selbstverwöhnung, auf ein gesundes Maß(das individuell sehr verschieden sein kann) zurück zu stutzen. Selbstliebe, die zur Ichsucht in seinen vielen Spielformen ( mein Körper, mein Geld, mein Urlaub, meine Freizeit, mein Vergnügen…)geworden ist, gefährdet spirituelles Wachsen. Wer ausschließlich sich selbst beabsichtigt und nur das eigene Glück im Blick hat, der steht in der Gefahr, sich in dieser Selbstbeabsichtigung zu erschöpfen und sein Glück zu verfehlen(vgl. dazu: Fulbert Steffensky). Gott wird dabei schwerlich ins Blickfeld geraten. Auch ein frommes Leben, das trotz mannigfacher religiöser Übungen, auf die eigenen Vorteile und Bequemlichkeit bedacht bleibt, ist höchstwahrscheinlich Heuchelei und eine verdeckte Form von Selbstsucht. In  moderner Sprache ausgedrückt, geht es  also darum eine Absage an den narzisstisch-selbstverliebten Egotrip . Die Forderung nach „Selbstverleugnung“ ist also insofern beachtenswert, wenn damit gemeint ist, all die falschen Ichs  abzulegen, die ein Leben und eine Beziehung aus dem Herzen verhindern und zum Hindernis werden dafür, sich von Gott finden zu lassen.

Von Gottes Liebe berührt

Der  Mensch, der sich von Gottes absichtsloser Liebe und seiner stets gegenwärtigen Barmherzigkeit berühren lässt, findet auch zu seinem tiefsten und innersten Selbst. Je stärker diese absichtslose Liebe Gottes  in uns wirken kann, umso liebevoller und wertschätzender können wir anderen Menschen gegenüber sein .

(Foto privat)

Für Christen und christliche Mystik bedeutet dieser Gottesbezug: „Christus ist meine innerste Wirklichkeit geworden. Er wohnt und lebt in mir. Dort, wo Christus in mir ist, finde ich zu meinem wahren Selbst, werde ich frei von allen Illusionen, die ich oft genug von mir habe. Und ich spüre, dass ich im Innersten eins bin mit Jesus Christus. Das gibt mir eine innere Freiheit.“ (Anselm Grün, im evangelischen Sonntagsblatt, https://www.sonntagsblatt.de/spiritualitaet)

Spiritueller „Fortschritt“

wird immer sichtbar  in der je  größeren inneren Freiheit, in der größeren Fähigkeit, Leid auszuhalten, in  tieferer Liebesfähigkeit auch über Grenzen hinweg, im großherzigen Dienst für andere.

Solches Wachstum braucht zwar auch unsere Anstrengung und Disziplin, aber letztlich „geschieht es an einem“. Es ist das Werk von Gottes Barmherzigkeit an uns und nicht dem eigenen aktiven Verdienst anzurechnen.  Echte Liebe zielt auf keine dieser Wirkungen oder beabsichtigt sie. Gott ist die aktive Instanz, nicht der Mensch.

Impuls:  

Übung zur Selbstliebe und Selbstannahme: Gehen Sie durch den Raum/oder Ort in der Natur(Wald z. B.) und sagen Sie hörbar „Ja“ zu ihrem Leben. Wie kommt dieses „Ja“ von ihren Lippen?

 

 

Murren- die Macht des Negativen

Der Arzt und Kabarettist Eckhart von Hirschhausen bringt einen sehr anschaulichen Vergleich über die Macht des Negativen und Bösen in unserem Leben. Er schreibt: „ Das Böse hat eine große Kraft. Legt man einen faulen Apfel in eine Kiste guter Äpfel, passiert folgendes: Alle guten Äpfel werden faul. Legt man hingegen in diese Kiste verdorbener Äpfel einen guten, werden mitnichten die faulen wieder gut, sondern der einzig gute auch noch faul.“ (Dr.med. Eckhart von Hirschhausen, Glück kommt selten allein.. , Hamburg 2011, S.89)

Ich möchte den Vergleich von Hirschhausen einmal weiterdenken, indem ich mich frage,  was so ein fauler Apfel in der eigenen Seele sein könnte. Tatsächlich finden wir in unserem Inneren, Haltungen und Eigenschaften, die unserem eigenen Seelenleben schlecht bekommen.

Einer dieser faulen Äpfel ist das „Murren“, ein Ausdruck, den wir  schon in der Bibel (z.B. 4 Mose, 16,7.8.11….) finden; er  bedeutet, dass wir unsere Unzufriedenheit mit unfreundlichen Worten zum Ausdruck bringen; synonyme Wörter dafür sind: herumkritisieren, herummäkeln, herummeckern, herummaulen, kritteln, nörgeln, quengeln oder motzen.

Meckern, Kreide

Wir können an verschiedenen Stellen unseres Lebens beobachten wie schnell sich negative Gefühle und Gedanken ausbreiten, das eigene Seelenleben vergiften und auch noch andere anstecken ähnlich einem Virus..

Murrer und „Murrköpfe“ sind solche, die mit ihrem Leben oder Lebensumständen unzufrieden sind, aber statt aufzustehen , Veränderungen und Lösungen für ihre Unzufriedenheit zu suchen, fressen sie den ganzen Hader über sich und andere in sich hinein; sie grummeln vor sich hin, nörgeln und motzen auf der hinteren Bank, schimpfen mit vorgehaltener Hand, heizen negative Gefühle an, verbreiten Gerüchte und ziehen mit ihrem inszenierten Selbstmitleid auch andere in die Tiefe.

Doch sie schaffen es nicht, ihre Kritik offen und konstruktiv zu äußern oder dem Grund ihrer Unzufriedenheit in der Seele auf den Grund zu gehen; oftmals sind es Neid und Eifersucht auf die viel glücklicheren Lebensumstände anderer, die dem Murrer Stoff liefern. Der Murrer wird zum mürrischen Menschen, der sich in seiner negativen Haltung einigelt . Statt vorwärts zu gehen, anzupacken und offen auf mögliche Unrechtsverhältnisse hinzuweisen, bleibt der Murrer in einer narzisstischen Eigendrehung gefangen .

Aufgabe von Verantwortlichen in Gesellschaft, Kirche oder Politik wäre es latente Unzufriedenheit zu erkennen und annonyme Murrer zur offenen Unmutsäußerung  und Kritik zu ermuntern.

Jede und jeder sollte aber auch ganz persönlich wachsam sein über die Bewegungen in seiner Seele, und den „faulen Apfel“ frühzeitig erkennen und entfernen. In uns selbst gibt es nämlich Gegenkräfte und Störfrequenzen , die unserer Seele schaden wollen. Ein geistliches Feintuning, Wachsamkeit gegenüber den unterschiedlichen Regungen der Seele (vgl. Ignatius von Loyola mit seiner „Unterscheidung der Geister“), eine sensible Wahrnehmung sind notwendig, um die negativen Gegenkräfte in uns nicht übermächtig werden zu lassen.

Eine positive Gegenkraft gegen das Murren ist die Dankbarkeit; es gibt eine Menge im Leben, wofür ich dankbar sein kann, wenn ich nur meine  Augen dafür öffne. Allerdings bedarf ein solches „Sehen“  der Übung.

Impuls zu Nachdenken:

An welchen Stellen fresse ich Unmut und Unzufriedenheit in mich hinein?

Bei wem sollte ich womöglich Kritik offen und konstruktiv äußern?

Mit wem kann ich über Lösungen meiner Unzufriedenheit reden?

Für was in meinem Leben kann ich dankbar sein?

Literatur zur Vertiefung:

Stefan Kiechle; Meister der Spiritualität, Ignatius von Loyola, Freburg im Breisgau2001, S.92 (dort zur Unterscheidung der Geister)

Stefan Kiechle, Sich entscheiden, Ignatianische Impulse

Abschiedlich leben

 

Im November fallen die Blätter von den Zweigen und die Bäume stehen entblößt vor dem fröstelnden Betrachter. Die noch vor einigen Wochen blühenden Blumen und grünen Pflanzen im Garten sind jetzt endgültig verwelkt Das Licht der Sonne bricht nur noch selten strahlend und wärmend durch eine meist graue Wolkendecke. Nicht selten legt sich die graue Novemberstimmung auf unser Gemüt und macht uns melancholisch. Wir spüren, dass das Schöne und Blühende des Sommers zu Ende gegangen ist.  Es ist Zeit,  Abschied zu nehmen von den warmen Sommertagen.

Nicht umsonst gilt der November bei uns auch als Totenmonat. Wir spüren durch die absterbende Natur deutlicher die Vergänglichkeit des Lebens überhaupt; wir werden an die Abschiede von Menschen erinnert, die uns lieb waren, und manchmal werden wir dabei traurig. Zuweilen taucht auch der Gedanke an das eigene Sterben auf. Wie sich die Blätter, von den Zweigen lösen, kann auch für uns zum Symbol und zur Übung werden: Loslassen, hergeben, sich trennen, sterben.  Im Mittelalter sprach man von der Kunst des Sterbens (Ars moriendi), ein Mensch sollte sich ein Leben lang  mit dem eigenen Sterbenmüssen  und Tod auseinandersetzen, die eigene Vergänglichkeit realisieren und  sich bewusst werden nur für eine begrenzte Lebensdauer in einer vergänglichen Welt zu sein.

(Bild: „Durch die Nacht“, Acryl auf Leinwand, 60×60 cm, von Gustav Schädlich-Buter)

Der Philosoph Weischedel hat den Begriff der Abschiedlichkeit geprägt. Abschiedlich zu leben bedeutet, das eigene Sterbenmüssen in den Lebensprozess mit einzubeziehen und eine Haltung einzuüben, die verhindert, dass wir uns allzu sehr an Erfolge, berufliche Rollen oder Selbstbilder klammern. Schon jetzt sollen wir uns immer wieder im Loslassen und Hergeben einüben und irdische Dinge wie Besitz, Ruf, Erfolg oder Überlegenheitsgefühle relativieren. Dabei kann mich auch fragen, was wird bleiben, was ist für mich wirklich wichtig in diesem Leben, wofür möchte ich leben, welche Spur möchte ich eingraben, wofür kann ich dankbar sein.. Immer wieder fordert mich das Leben heraus, etwas loszulassen, damit Neues entstehen kann. Wer nur am Alten (liebgewordene Rituale, Gedanken, Vorstellungen, Plänen….)festhält,  erstarrt eines Tages und verhindert neues Wachstum.

Die in diesen Novembertagen auftauchende Trauer (manche sprechen auch vom November- Blues)ist womöglich eine Einladung, über unser Leben nachzudenken: verpasste Gelegenheiten , die wir nicht ergriffen haben, Beziehungen, die sich verflüchtigt haben, zerbrochenen Träume, auf welche wir Hoffnung setzten, oder Illusionen, denen wir hinterhergelaufen sind, und so manch anderes will womöglich betrauert werden. Wenn wir der Trauer und dem damit verbundenen Schmerz nicht ausweichen,  kann sie uns in und den Grund der Seele führen. Dort wird uns klarer, wer wir wirklich sind und wie wir in der Tiefe der Seele eigentlich gemeint sind und welche Aufgaben oder Herausforderungen sich daraus ergeben.

In meine Büro hängen einige Gedenk- oder Sterbebilder von Menschen, die mir etwas bedeutet haben: Lehrer, Vorbilder, die mich etwas gelehrt haben, die mir gezeigt haben, dass der Weg, den ich gehe, begehbar ist und sich lohnt. Auch wenn jene schon gestorben sind, bin ich in einer Verbindung mit diesen Menschen und spüre deren Kraft, die mir hilft und mich weiter trägt auf meinem eigenen Lebens- und Glaubensweg . Aber diese Bilder  erinnern mich auch daran, dass mein Leben begrenzt ist und zwar in einem doppelten Sinn: einerseits die Zeit zu nützen und aus meinem Leben etwas Sinnvolles zu machen, andererseits mich selbst nicht zu wichtig zu nehmen.

Impuls:

Ich schreibe in mein Tagebuch oder erzähle einem guten Freund(-in), was ich in meinem Leben betrauere?

Was in meinem Leben (an Werten, Lebenseinstellungen, Plänen, Haltungen….) muss ich loslassen und aufgeben?

Was gewinnt neue Bedeutung in meinem Leben?

Literatur zur Vertiefung:

Anselm Grün, Ich bleibe an deiner Seite, Sterbende begleiten, intensiver leben, Münsterschwarzach 2010

Heimat

 „Heimat ist für mich überall dort, wo ein Mensch ist, zu dem ich kommen kann“, sagt der Schriftsteller Reiner Kunze. Nicht immer wurde Heimat so positiv gesehen. Der Heimatbegriff hatte eine Zeit lang einen negativen Beigeschmack von Spießigkeit und Rückwärtsgewandtheit. Man verband mit „Heimat“ engen Provinzialismus, rückwärtsgewandte Traditionspflege mit Blaskapellen und Trachtengruppen. Das mit dem Heimatbegriff verbundene nationale Pathos (in Erinnerung an den 1.Weltkrieg) und die völkisch rassistische Ausgrenzung war für nicht wenige dieser Generation ein Schreckensbegriff. Heimat- das war Enge, kleinkariertes Denken und selbstzufriedene Spießbürgerlichkeit. Der “ Auszug“ war der einzige Weg , um sich weiter zu entwickeln. Diejenigen , welche den  Mut hatten aus dem Überkommenen und Vorgeprägten  auszuziehen, das waren die Abenteurer, Revoluzzer und Kreativen, welche die Welt voranbrachten.

Das Wörterbuch spricht von Heimat als dem „Land oder die Gegend, wo man geboren und aufgewachsen ist oder wo man sich zu Hause fühlt, weil man schon lange dort wohnt.“ Tatsächlich verbinden auch heute viele „Heimat“ mit ihrem Geburtsort, mit der geografischen Landschaft ihres Aufwachsens, aber auch mit ihrer Familie und der frühen Sozialisation. Heimat hat etwas mit den Selbstverständlichkeiten der Kindheit und Jugend zu tun: die Schule, die Treffpunkte,, das Schwimmbad, die Kneipe, die Leute, die man kennt. Heimat in diesem Sinne hat also etwas mit Selbstverständlichkeiten zu tun, mit einem Sich –Auskennen ohne dass lange Erklärungen notwendig sind. Heimat heißt, in bestimmte prägende Vorstellungen und Traditionen, in Denk- und Sprechweisen, im Laufe der eigenen Entwicklung hineingewachsen zu sein. Heimat in einem positiven Sinn ist also etwas , das einem vertraut ist, wo man sich auskennt, dazugehört, und eben kein Fremder ist.

Heimat ist aber darüber hinaus ein ideeller Wohlfühlort, eine Sehnsuchtslandschaft. Letztlich eine Utopie, ein U-topos (griech.)`, ein Nicht-Ort aus Erinnerungen, wo die Seele wohnt und dessen Verlust mit Heimweh einhergeht.

Im Moment erleben wir eine Renaissance der Sehnsucht nach Heimat. Im Trend liegen regionale Gerichte statt internationaler Küche oder Fast Food, Trachten(siehe auch die Beliebtheit des Oktoberfestes bei jungen Leuten), Volksmusik und Folklore. So setzt die neue Volksmusik wie z.B. „voXXclub“ im Alpenraum, – bestehend aus jungen Musikern, die meist in kurzen Lederhosen und dicken Trachtenstrümpfen auftreten, und mit ihrem Dutt auch als Hipster durchgehen könnten- , bewusst auf Dialekt und regionale Instrumente; dabei wird aber in den Texten Weltoffenheit signalisiert oder die Verlorenheit in der anonymen Masse von Menschen thematisiert.

Ohne Zweifel scheint damit eine Sehnsucht vieler , gerade junger Menschen getroffen, die in der globalisierten Welt mit ihrer Beschleunigung keine Wurzeln mehr schlagen können. Diese Sehnsucht nach Heimat scheint wie eine Gegenbewegung zum hohen Tempo des sozialen Lebens, das oft nur noch oberflächliche Beziehungen zulässt. Auch der geforderte Zwang zur Mobilität und Flexibilität, die Auflösung traditioneller Familienstrukturen, die Schädigung unseres Planeten, der Verlust von Religion (religio, religare –Rückverbindung!) führen dazu, dass das Bedürfnis der Seele nach Verwurzelung , Orientierung und Zugehörigkeit nicht mehr ausreichend gestillt wird .. Der „Heimatbedarf“ wächst, angesichts der Infragestellungen der eigenen Identität. (vgl. dazu Hartmut Rosa, Resonanz)

Der Künstler Ben Willikens (geboren 1939), gibt dieser Abwesenheit von Zugehörigkeit, dieser Anonymität und Verlorenheit des Menschen, den Verlust von Sinn, in seinen Werken   mit seiner „unbunten“ Graumalerei und mit den leere Räumen, in denen kein Mensch vorkommt, Ausdruck. Er selbst sagt dazu: „ ´Vielleicht ist die Leere nicht nur eine Negation des Menschen, sondern auch eine Frage seiner Ankunft, eine Frage nach dem Menschenbild, das in der Lage ist, dieses weiße Zentrum auszufüllen.`“(i. Kurt-Peter Gertz, Ostern in der modernen Kunst, Mönchengladbach 2017, S.187)

Die Sehnsucht nach einem Ort, an dem man sich wiederfinden kann, an dem Geborgenheit, Nähe, menschliche Vertrautheit sich einstellt, an dem der Mensch bei sich ankommt, scheint vielen Menschen irgendwie abhanden gekommen zu sein. Wer in seiner Seele keine Heimat mehr findet, neigt wohl dazu, durch Ausgrenzung und Fremdenhass, sich der eigenen Identität versichern zu wollen. Identitätsstiftung durch Ausgrenzung. Globalisierung,  Zuwanderung, die Auseinandersetzung mit fremden Kulturen,  scheint auch in unserem Land  nicht wenige zu überfordern.

Letztlich geht es jedoch darum eine „offene Heimat“ wieder zu finden, in der Provinzialität, Enge und Ausgrenzungstendenzen  überwunden werden durch weite Horizonte, in denen angstfreie Begegnungen möglich werden.

Jedenfalls bleibt Heimat immer auch ein Sehnsuchtsort, der aus einer  tiefen Bedürfnis des Menschen nach Geborgenheit und Angenommensein erwächst.

Aus christlicher Perspektive geschieht eine letztgültige Erfüllung dieser Sehnsucht erst im Himmel, der wahren Heimat, allerdings wird auch dort versprochen, dass es im Hause des Vaters viele Wohnungen gibt, also eine offene und lichtdurchflutete Wohngemeinschaft unterschiedlichster Menschen. (vgl. Joh 14,1-3)

Impulse zum Nachdenken:

  1. Was bedeutet für mich Heimat?
  2. Wohin zieht es mich? (landschaftlich, geografisch…) Wohin gehöre ich?
  3. Welche Menschen sind für mich Heimat? Welche Musik ist Heimat?
  4. Gibt es einen Glauben, Überzeugungen, Werte, die für mich Heimat sind?

Literatur zur Vertiefung:

Hartmut Rosa, Resonanz – eine Soziologie der Weltbeziehung, Berlin 2016

Heribert Prantl, Kindheit. Erste Heimat, Gedanken, die die Angst vertreiben., SZ 2015

Andrea Schwarz, Wenn die Orte ausgehen, bleibt die Sehnsucht nach Heimat; Fragmente einer geerbten Geschichte, 2009

Filme:

Edgar Reitz, Heimat (Gesamtedition) und „Die andere Heimat“

„Endlich“-keit

 

Der November gilt als der Monat, an dem wir unserer Verstorbenen gedenken und uns selbst mit der Vergänglichkeit des eigenen Lebens auseinander setzen. Neulich las ich von einem Grab, das sich im Lainzer Friedhof von Wien befindet. Auf dem Grabstein steht nur das Wort: „Endlich!“. Was wollte der Verstorbene oder seine Angehörigen mit diesem unscheinbaren Wort zum Ausdruck bringen? Wir werden es wohl nie herausfinden können. Jedenfalls lädt dieses kleine Wörtchen „endlich“ – das rein grammatikalisch betrachtet ein Adverb ist – ein, sich Gedanken zu machen:

„Endlich“ kann bedeuten , dass eine lang empfundenen Wartezeit; eine Zeit ungeduldigen Wartens, der Verzögerung, des Zweifelns, des ungewollten Aufenthaltes, des Staus der Gefühle, der Anspannung zu Ende gegangen ist. Mit „endlich“ kann man etwas Befreiendes und Erlösendes von  einem qualvollen oder belastendem Zustand assoziieren: bedrückende und einschnürende Lebenssituationen zum Beispiel, die sich endlich auflösen. „Endlich“- spätestens im Tod- ist auch der Lebenskampf, die Konkurrenz, das Rennen, Hasten, die Anspannung in der Arbeit oder der Druck unglücklicher Beziehungen vorbei…sie sind endlich und werden eines Tages an ihr Ende kommen. Oder auch ein langer, mühevoller Sterbeprozess findet im Tod seine Erlösung.

(Blühendes Kreuz, Acryl auf Leinwand, von Gustav Schädlich-Buter)

„Endlich“ hat etwas Tröstliches, indem es auf die Endlichkeit von allem Schweren, Belastenden, Traumatischen und Schmerzvollen verweist. So als wollte das Wörtchen tröstend sagen: Deine Schmerzen, Krankheiten und Einschränkungen werden nicht ewig dauern, sie sind endlich,  begrenzt und werden eines Tages aufhören!

„Endlich“ lässt sich aber nicht nur verstehen, dass ich etwas losgelassen habe oder von etwas Schwerem befreit bin, sondern im Sinne, dass ich etwas gefunden habe. Es geht nicht nur ums Loslassen sondern auch ums Finden(wie auch im Sterbeprozess): Endlich am Ziel! Endlich in der Heimat! Endlich frei! Endlich ist alles weit und leicht geworden in meinem Leben. Endlich erfüllen sich Erwartungen und tiefe Sehnsüchte. Der Liederdichter Lothar Zenetti drückt es in einer modernen Version von Psalm 126 in einer religiösen Sprache so aus: „Wenn Gott uns heimbringt/aus den schlaflosen Nächten/aus dem fruchtlosen Reden,/aus den verlorenen Stunden,/aus der Jagd nach dem Geld,/ aus der Angst vor dem Tod,/aus Kampf und Gier/- Wenn Gott uns heimbringt, das wird ein Fest sein!“ (Lothar Zenetti: Wie ein Traum wird es sein. Texte der Zuversicht, 2016)

Das Wörtchen „endlich“ hat auch etwas Beruhigendes für unser Mühen im Sinne: Denk daran, dass dein Leben endlich ist, übernimm dich nicht mit deinen Anstrengungen, hänge Deine Ziele nur so hoch, dass du sie in deiner begrenzten Lebenszeit erreichen kannst und dich nicht dabei erschöpfst und ausbrennst.

Zugleich hat das Wörtchen „endlich“ aber auch etwas Aufmunterndes und Herausforderndes: Dein Leben ist endlich- also verschlaf und versäum dein Leben nicht, mach etwas daraus oder in den Worten vom Religionspädagogen  Elmar Gruber: Mach etwas aus deinem staubigen Leben, bevor du dich aus dem Staub machst. Denn „…Noch duftet die Nelke /singt die Drossel /noch darfst du lieben/Worte verschenken/ noch bist du da/Sei was du bist/Gib was du hast// (Rose Ausländer, Mein Atem heißt jetzt, Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt am Main 1981) So beinhaltet auch die Vergegenwärtigung des eigenen Todes (Memento mori) nichts Morbides, sondern eine Lebensverstärkung.

Wem seine endliche Lebenszeit zu knapp erscheint, um seine vielfältigen Pläne und Ideen zu erfüllen, der mag an die Ewigkeit denken. Die griechische Sprache unterscheidet zwischen dem irdisch vergänglichen und sich irgendwann erschöpfenden Leben ( griech. bios und psyche) und einem unvergänglichen, der endlichen Zeitdimension entzogenen, unzerstörbaren Leben(griech.: zoe). Das ewige Leben und das ewige Licht werden in der jüdischen und christlichen Tradition zu Metaphern einer immerwährenden Gegenwart Gottes, auch über den Tod hinaus.

Das ewige Leben ist dabei nicht die endlose Verlängerung unseres zeitlichen Daseins, sondern eine dauernde Gegenwart dessen, was in unserem irdischen Leben momenthaft aufblitzen kann: ich bin „hin und weg“ vor Glück ; ich spüre die Zeit nicht mehr in einer berührenden Begegnung mit einem Menschen, im Betrachten des Sternenhimmels, einer umwerfenden Musik oder einem schöpferischen Tun (um nur einige Beispiele zu nennen). So zeigt sich zuweilen ewiges Leben in unserem endlich-irdischen Leben.

Das kleine Wort „endlich“ scheint Macht zu haben, uns auf eine größere Dimension hinzuweisen, in die wir (samt unsere endlichen  Verfasstheit)eingebunden sind und die uns liebend umgibt . Oder religiös gesprochen: die Endlichkeit und Vergänglichkeit des Lebens hat keine letzte Macht über uns, denn: Mit ewiger Liebe sind wir geliebt!“ (vgl. Jer 31,3) Diese Erkenntnis könnte uns auch in Zeiten der Trauer, des Verwelkens und des Abschiednehmens ein wenig trösten.

So könnte auch der Grabstein am Lainzer Friedhof sagen wollen: endlich ist der, dessen irdischer verweslicher Körper hier in der Erde ruht, ganz im „Haus der Liebe“ angekommen.

Fragen zum Nachdenken:

Mache ich mir die Endlichkeit und Begrenztheit meines Lebens manchmal bewusst?

Was löst es in mir aus, wenn ich über die Endlichkeit meines Lebens nachdenke?

Kann ich an ein ewiges Leben nach dem Tod glauben? Welche Bilder fallen mir dazu ein?

Literatur zu Vertiefung:

Anselm Grün, Leben aus dem Tod, Münsterschwarzach2001

Fulbert Steffensky, Mut zur Endlichkeit, Sterben in einer Gesellschaft der Sieger, Stuttgart 2007