Abschiedlich leben

 

Im November fallen die Blätter von den Zweigen und die Bäume stehen entblößt vor dem fröstelnden Betrachter. Die noch vor einigen Wochen blühenden Blumen und grünen Pflanzen im Garten sind jetzt endgültig verwelkt Das Licht der Sonne bricht nur noch selten strahlend und wärmend durch eine meist graue Wolkendecke. Nicht selten legt sich die graue Novemberstimmung auf unser Gemüt und macht uns melancholisch. Wir spüren, dass das Schöne und Blühende des Sommers zu Ende gegangen ist.  Es ist Zeit,  Abschied zu nehmen von den warmen Sommertagen.

Nicht umsonst gilt der November bei uns auch als Totenmonat. Wir spüren durch die absterbende Natur deutlicher die Vergänglichkeit des Lebens überhaupt; wir werden an die Abschiede von Menschen erinnert, die uns lieb waren, und manchmal werden wir dabei traurig. Zuweilen taucht auch der Gedanke an das eigene Sterben auf. Wie sich die Blätter, von den Zweigen lösen, kann auch für uns zum Symbol und zur Übung werden: Loslassen, hergeben, sich trennen, sterben.  Im Mittelalter sprach man von der Kunst des Sterbens (Ars moriendi), ein Mensch sollte sich ein Leben lang  mit dem eigenen Sterbenmüssen  und Tod auseinandersetzen, die eigene Vergänglichkeit realisieren und  sich bewusst werden nur für eine begrenzte Lebensdauer in einer vergänglichen Welt zu sein.

(Bild: „Durch die Nacht“, Acryl auf Leinwand, 60×60 cm, von Gustav Schädlich-Buter)

Der Philosoph Weischedel hat den Begriff der Abschiedlichkeit geprägt. Abschiedlich zu leben bedeutet, das eigene Sterbenmüssen in den Lebensprozess mit einzubeziehen und eine Haltung einzuüben, die verhindert, dass wir uns allzu sehr an Erfolge, berufliche Rollen oder Selbstbilder klammern. Schon jetzt sollen wir uns immer wieder im Loslassen und Hergeben einüben und irdische Dinge wie Besitz, Ruf, Erfolg oder Überlegenheitsgefühle relativieren. Dabei kann mich auch fragen, was wird bleiben, was ist für mich wirklich wichtig in diesem Leben, wofür möchte ich leben, welche Spur möchte ich eingraben, wofür kann ich dankbar sein.. Immer wieder fordert mich das Leben heraus, etwas loszulassen, damit Neues entstehen kann. Wer nur am Alten (liebgewordene Rituale, Gedanken, Vorstellungen, Plänen….)festhält,  erstarrt eines Tages und verhindert neues Wachstum.

Die in diesen Novembertagen auftauchende Trauer (manche sprechen auch vom November- Blues)ist womöglich eine Einladung, über unser Leben nachzudenken: verpasste Gelegenheiten , die wir nicht ergriffen haben, Beziehungen, die sich verflüchtigt haben, zerbrochenen Träume, auf welche wir Hoffnung setzten, oder Illusionen, denen wir hinterhergelaufen sind, und so manch anderes will womöglich betrauert werden. Wenn wir der Trauer und dem damit verbundenen Schmerz nicht ausweichen,  kann sie uns in und den Grund der Seele führen. Dort wird uns klarer, wer wir wirklich sind und wie wir in der Tiefe der Seele eigentlich gemeint sind und welche Aufgaben oder Herausforderungen sich daraus ergeben.

In meine Büro hängen einige Gedenk- oder Sterbebilder von Menschen, die mir etwas bedeutet haben: Lehrer, Vorbilder, die mich etwas gelehrt haben, die mir gezeigt haben, dass der Weg, den ich gehe, begehbar ist und sich lohnt. Auch wenn jene schon gestorben sind, bin ich in einer Verbindung mit diesen Menschen und spüre deren Kraft, die mir hilft und mich weiter trägt auf meinem eigenen Lebens- und Glaubensweg . Aber diese Bilder  erinnern mich auch daran, dass mein Leben begrenzt ist und zwar in einem doppelten Sinn: einerseits die Zeit zu nützen und aus meinem Leben etwas Sinnvolles zu machen, andererseits mich selbst nicht zu wichtig zu nehmen.

Impuls:

Ich schreibe in mein Tagebuch oder erzähle einem guten Freund(-in), was ich in meinem Leben betrauere?

Was in meinem Leben (an Werten, Lebenseinstellungen, Plänen, Haltungen….) muss ich loslassen und aufgeben?

Was gewinnt neue Bedeutung in meinem Leben?

Literatur zur Vertiefung:

Anselm Grün, Ich bleibe an deiner Seite, Sterbende begleiten, intensiver leben, Münsterschwarzach 2010